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Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft macht Zugeständnisse an Ungarn und Polen und riskiert, dass der neue Rechtsstaatsmechanismus wirkungslos bleibt.
Die EU ist, na klar, eine Wertegemeinschaft, gegründet auf Prinzipien wie den Menschenrechten, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, die, wie Art. 2 EU-Vertrag verbürgt, „allen Mitgliedstaaten […] gemeinsam“ sind. Zugleich ist die EU aber auch eine Konsensmaschine, die sowohl von ihren institutionellen Verfahren als auch von ihrer politischen Kultur her darauf angelegt ist, breite, möglichst einstimmige Mehrheiten zu erzeugen. Dieser Bogen ist schon unter gewöhnlichen Umständen nicht ganz spannungsfrei – verschafft das Konsensprinzip doch den Partikularinteressen einzelner Mitgliedstaaten ein unangemessenes Gewicht gegenüber gesamteuropäischen demokratischen Mehrheiten. Umso problematischer wird er indessen, wenn die Regierungen einiger Mitgliedstaaten sich auch innerstaatlich über die Werte der EU hinwegsetzen und darangehen, „illiberale Demokratien“ zu errichten oder durch „Justizreformen“ die Unabhängigkeit ihrer Gerichte zu untergraben.
Die Rede ist natürlich von der ungarischen Fidesz- und der polnischen PiS-Regierung (wenn auch nicht nur von diesen), und das Problem durchaus nicht neu. Der im EU-Vertrag eigentlich vorgesehene Mechanismus zur Sanktionierung autoritärer Mitgliedsregierungen, das sogenannte Artikel-7-Verfahren, läuft ins Leere, gerade weil es Einstimmigkeit erfordert. Für seine Vorstufe – das Artikel-7-Absatz-1-Verfahren, mit dem der Rat keine Sanktionen verhängen, sondern nur „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der EU-Werte feststellen kann – würde eine Vier-Fünftel-Mehrheit genügen. Doch auch hierfür war die diplomatische Rücksichtnahme im Rat immer zu groß.
Aber wie sonst lässt sich gegen autoritäre Regierungen vorgehen? Im Frühjahr 2017 schlug die Europäische Kommission vor, sie beim Geld zu packen und den neuen mehrjährigen Finanzrahmen 2021-27 mit einer „politischen Konditionalität“ zu versehen. Mitgliedstaaten sollten nur noch dann Mittel aus EU-Töpfen erhalten, wenn sie sich auch an Rechtsstaatsprinzipien halten. Die Idee, die auch von der deutschen Bundesregierung und dem Europäischen Parlament vorangetrieben wurde, entwickelte sich rasch zum dominierenden Ansatz in der europäischen Rechtsstaatsdebatte. Im Mai 2018 machte die Kommission einen offiziellen Vorschlag zu seiner Ausgestaltung.
Wesentlich an dem Vorschlag war das geplante Verfahren. Anders als im Artikel-7-Verfahren sollten für den neuen Rechtsstaatsmechanismus nicht die nationalen Regierungen mit großer Mehrheit feststellen müssen, dass ein Mitgliedstaat gegen die europäischen Werte verstößt. Vielmehr räumte die Kommission sich selbst das Recht ein, bei „generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten“ das Einfrieren von Mitteln zu beschließen. Dieser Beschluss sollte nach einem Monat automatisch in Kraft treten – es sei denn, der Rat würde im Einzelfall mit qualifizierter Mehrheit dagegen stimmen. Damit stünden künftig also nicht mehr die Befürworter, sondern die Gegner finanzieller Sanktionen unter dem Druck, eine Mehrheit im Rat zu organisieren.
Es blieb die Herausforderung, diesen Kommissionsvorschlag im europäischen Recht zu verankern. Um den mehrjährigen Finanzrahmen zu verabschieden, ist neben einer Mehrheit im Europäischen Parlament ein einstimmiger Beschluss der nationalen Regierungen notwendig. Und warum sollten die Regierungen von Polen und Ungarn einem Mechanismus zustimmen, der ganz offensichtlich dazu bestimmt ist, gegen sie selbst verwendet zu werden?
Doch auch auf diese Frage bot die Kommission eine mögliche Lösung: Sie goss den neuen Mechanismus in die Form einer EU-Verordnung nach Art. 322 AEUV, die den mehrjährigen Finanzrahmen begleitet, aber anders als dieser keine Einstimmigkeit, sondern nur eine (qualifizierte) Mehrheit in Rat und Parlament voraussetzt. Für die beiden EU-Gesetzgebungskammern eröffnete sich damit die Möglichkeit, den neuen Rechtsstaatsmechanismus vor dem eigentlichen mehrjährigen Finanzrahmen zu verabschieden und so die autoritären Regierungen vor vollendete Tatsachen zu stellen. Zwar hätten Ungarn und Polen danach ein Veto gegen den mehrjährigen Finanzrahmen einlegen können. Aber damit hätten sie sich als große Nettoempfängerländer selbst geschadet, während sie nach Inkrafttreten der Rechtsstaatsmechanismus-Verordnung nichts mehr zu gewinnen gehabt hätten.
Für eine solche Strategie der Stärke wäre es freilich notwendig gewesen, die polnische und ungarische Regierung politisch unter Druck zu setzen. Das Europäische Parlament, das den Verordnungsentwurf der Kommission im April 2019 in erster Lesung mit wenigen Änderungen bekräftigte, war dazu offenkundig bereit. Im Rat jedoch blieb die Angelegenheit erst einmal liegen, wurde über zwei Jahre hinweg verschiedentlich diskutiert, aber niemals einer Entscheidung zugeführt. Und als sich im Februar 2020 schließlich doch etwas bewegte, war das ein neuer Triumph der Konsenslogik: In einer „Verhandlungsbox“ für den mehrjährigen Finanzrahmen bewegte sich Ratspräsident Charles Michel auf Polen und Ungarn zu und schlug eine Verwässerung des geplanten Mechanismus vor.
Zum einen kehrte Michel das geplante Verfahren wieder um: Ihm zufolge sollen von der Kommission verhängte finanzielle Sanktionen nun doch nur greifen, wenn auch eine qualifizierte Mehrheit im Rat sie unterstützt. Das würde die Anwendung des neuen Mechanismus deutlich erschweren, auch wenn die Hürde weiter etwas niedriger läge als im Artikel-7-Verfahren. Zum anderen und womöglich noch gravierender fasste Michels Vorschlag auch die Voraussetzungen enger, unter denen EU-Gelder eingefroren werden können: Sanktionen sollen demnach nicht schon bei allgemeinen Rechtsstaatsdefiziten möglich sein, sondern nur, wenn sich diese „in a sufficiently direct way“ auf die finanziellen Interessen der EU auswirken. Der Rechtsstaatsmechanismus könnte so zu einem bloßen Antikorruptionsmechanismus abgeschwächt werden.
Ende September legte die deutsche Ratspräsidentschaft einen ausformulierten Entwurf vor, der die von Charles Michel vorgeschlagenen Abschwächungen übernahm. Sie stieß damit auf Widerspruch von beiden Seiten: Während Polen und Ungarn auch dieser Vorschlag noch zu weit ging, lehnten ihn die drei nordischen Mitgliedstaaten, Belgien und die Niederlande aus Protest gegen die übermäßige Verwässerung ab. Die notwendige qualifizierte Mehrheit erreichte der Entwurf jedoch. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel besaß sogar die Chuzpe, die Gegenstimmen von beiden Seiten als Bestätigung zu nehmen, dass der deutsche Entwurf ausgewogen sei. In der Konsenslogik des Rates ist der richtige Weg offenbar immer der Mittelweg – selbst wenn es sich um einen Mittelweg zwischen Verteidigern und Gegnern des Rechtsstaats handelt.
Das freilich will das Europäische Parlament nicht einfach akzeptieren und droht nun seinerseits mit einer Ablehnung des mehrjährigen Finanzrahmens, wenn der Rat sich beim Rechtsstaatsmechanismus nicht weiter bewegt. Umgekehrt erhält aber auch Ungarn weiterhin seine Vetodrohung aufrecht. Die Verhandlungen in den nächsten Wochen dürften deshalb – auch das nichts Ungewöhnliches im Konsenssystem der EU – zu einem chicken game ausarten, bei dem beide Seiten bis zuletzt damit drohen, alles zum Platzen zu bringen. Da aber niemand wirklich Interesse an einem Scheitern des mehrjährigen Finanzrahmens hat, wird am Ende wohl ein wie auch immer gearteter Kompromiss stehen. Ob er für die Rechtsstaatlichkeit in Europa irgendeinen Nutzen bringt, wird erst die Zukunft zeigen.
Einige Erkenntnisse aber lassen sich schon jetzt mitnehmen. Erstens: Es ist wirklich keine sinnvolle Idee, mit den Verächtern des Rechtsstaats über einen Mechanismus zur Verteidigung des Rechtsstaats verhandeln zu wollen. Zehn Jahre nach dem ungarischen und fünf Jahre nach dem polnischen Regierungswechsel sollte sich niemand Illusionen machen, dass gutes Zureden hier noch helfen könnte. Eine Verteidigung der europäischen Werte ist nur gegen diese Regierungen, nicht im Konsens mit ihnen möglich.
Zweitens: Das Konsensprinzip ist jedoch tief im Rat der EU verankert, und zwar nicht nur in seinen formellen Verfahren, sondern auch in seiner politischen Kultur. Obwohl zum Rechtsstaatsmechanismus eine Mehrheitsabstimmung möglich war, zogen Charles Michel und die deutsche Ratspräsidentschaft es vor, die offene Konfrontation mit Polen und Ungarn zu vermeiden – und nahmen in Kauf, dass der Rechtsstaatsmechanismus nun womöglich nur in so abgeschwächter Form zustande kommt, dass er keine Wirkung zeigt.
Und drittens: Sofern das Europäische Parlament in den anstehenden Verhandlungen nicht doch noch einen Überraschungscoup landet, könnte die größte Hoffnung für den Rechtsstaat in Europa deshalb am Ende ganz woanders liegen – nämlich in jenen Verfahren, an denen der Rat überhaupt nicht beteiligt ist. Im Lauf der letzten Jahre hat der Europäische Gerichtshof mit einer Reihe von Urteilen seine Grundrechtsprechung ausgeweitet und sich zum europaweiten Verteidiger einer unabhängigen Justiz gemacht. Wenn der Rat die Werte der EU dem politischen Konsensstreben unterordnet, muss eine starke Gerichtsbarkeit zum Rettungsanker werden.
Manuel Müller ist Senior Researcher am Institut für Europäische Politik Berlin und Betreiber des Blogs "Der (europäische) Föderalist" (www.foederalist.eu).
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