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von Rita Schwarzelühr-Sutter
Was treibt die Welt heute und in Zukunft an? Wie stellt sich Fortschritt ein? Und wem nützt er? Das sind Fragen, die alle bewegen, weil alle spüren, dass unser gesellschaftliches Fundament gefährliche Risse zeigt, es die Lasten nicht mehr tragen kann. Schiebt man den uns akut bedrückenden Vorhang der Covid-19-Pandemie beiseite, so bleiben Klimawandel und Digitalisierung weiter die zwei entscheidenden Treiber globaler Transformation. Und: Beide Treiber verstärken sich gegenseitig. Wer diese umfassende Transformation grundsätzlich infrage stellt, stellt sich ins Abseits; verkennt den Fortschritt, den sie bringt. Deutschland und Europa haben diese Entwicklung lange unterschätzt. Von der Wirtschaft bis zu den Umweltverbänden war Digitalisierung lange Zeit nur ein Thema von vielen, oft wahrgenommen als rein technische Veränderung. Klimaschutz hingegen war Sache meist „der anderen“, jedenfalls zu oft nicht Aufgabenstellung an sich selbst. Auch parteipolitisch schienen die Themen aufgeteilt.
Das hat sich geändert – zum Glück. Mit dem European Green Deal der Europäischen Kommission, mit dem Klimaschutz- und Konjunkturprogramm der Bundesregierung, mit dem Zusammendenken von Digitalisierung und Nachhaltigkeit als zwei Seiten derselben Medaille zeichnet sich ein neues europäisches Zukunftsmodell zwischen US-amerikanischer Plattformökonomie und chinesischem Digitalautoritarismus ab. Europa beginnt zu verstehen, dass darin die große Chance liegt, die planetaren Grenzen einzuhalten, Demokratie und Teilhabe zu stärken, den Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen, niemanden zurückzulassen. Kurz: Europa und seine Werte zu stärken.
Bedenken second: So würde Digitalisierung zum Brandbeschleuniger
Wahlsprüche aus 2017 wie „Digital first. Bedenken second“ – heute würde niemand sie wiederholen. Sie erscheinen wie aus einer fernen Zeit. Allein das zeigt, wie dynamisch sich die digitalpolitischen Diskussionen entwickelt haben. Spätestens mit dem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen wissen wir: Ungeregelte Digitalisierung wird zum Brandbeschleuniger nicht nachhaltiger Wirtschafts- und Konsummuster. Gut gesteuert hat sie wiederum das Zeug dazu, nachhaltige Formen des Wirtschaftens im 21. Jahrhundert zu ermöglichen und ihnen zum Durchbruch zu verhelfen.
Das Bundesumweltministerium hat diese Erkenntnis über die vergangenen zweieinhalb Jahre in den Fokus der Nachhaltigkeitsdebatte gerückt. Der systemische Blick auf die beiden Treiber der Transformation – also Digitalisierung und Klimaschutz – war bis dahin bei keinen zentral Handelnden, keinem Verband, keiner NGO vorhanden. Schauen wir zum Beispiel in die Agenda für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen und ihre 17 globalen Nachhaltigkeitsziele, so finden wir die Digitalisierung an keiner Stelle explizit erwähnt. Verabschiedet haben wir die Agenda aber erst 2015 – da hätten die immensen Auswirkungen der Digitalisierung schon eindeutig sichtbar sein müssen.
Wie so oft im Leben braucht es einen unerträglichen Druck von außen, um das eigene Denken und Handeln substanziell zu ändern. Mit dem Pariser Klimaschutzabkommen und seiner Umsetzung auch im europäischen Kontext wurde hierzulande klar: Wollen wir Strafzahlungen wegen Nichterreichens der gegenüber der EU verpflichteten Klimaziele vermeiden, braucht es ein Regelwerk, das die gesamte Wirtschaft in die Pflicht nimmt. Genau das tut das von der Bundesregierung nach zähem Ringen verabschiedete Klimaschutzgesetz. Es überträgt die Verantwortung für den Klimaschutz auf alle Sektoren, von der Landwirtschaft bis hin zum Verkehr.
Weiterer Druck ging von den Digitalisierungsgiganten aus. Spätestens seit die deutsche Automobilwirtschaft den eisigen Atem von Google und Tesla spürte und sich gezwungenermaßen zugleich mit dem klimanotwendigen Wechsel der Antriebstechnologie und der Digitalisierung auseinandersetzen musste, war klar: Hier geht es um global ausgetragene ökonomische Revolutionen, die kaum mehr nationalstaatlich und schon gar nicht mit naiver Haltung zu gewinnen sind. Das Bewusstsein darüber, dass es sich tatsächlich um technologische und gesellschaftliche Revolutionen handelt, und darüber, dass intellektuelle und unternehmerische Ignoranz in den Untergang führen, dass international gehandelt werden muss, dass in der Kombination von Nachhaltigkeit und Digitalisierung ein wertegebundener europäischer Weg liegen könnte – dieses Bewusstsein hat inzwischen fast alle Parteien, die Gewerkschaften, die ökonomischen und gesellschaftlichen Eliten ebenso erreicht wie die Mehrheit der Bürger_innen.
Wie diese Kombination ausgestaltet werden kann, wo systemische Bruchkanten sind, wo auch Suffizienz ein entscheidender Faktor werden muss, um Reboundeffekte zu vermeiden – diese Fragen in all ihrer Komplexität müssen wir jetzt und schnell beantworten. Das setzt grenzüberschreitendes Denken und Handeln voraus: über die Grenzen des Nationalstaates hinweg, über thematische Silos hinweg, über gewohnte Pfade und kurzfristige Effekte hinweg. Der in der sozial-ökologischen Transformation notwendige systemische Ansatz ist gerade deshalb so herausfordernd. Sektor für Sektor geht es darum, Mobilität, Landwirtschaft, Ressourcenverbrauch, Konsum usw. als komplementäre Systeme neu und zusammen zu denken.
Wir können Digitalisierung für diese dringend benötigten Veränderungen bewusst einsetzen: Dezentral erzeugte erneuerbare Energie braucht digitale Steuerung. Klimafreundliche Mobilität braucht digitale Navigation und Verknüpfung von Nutzer_innen und Angeboten in Echtzeit. Kreislaufwirtschaft braucht digitale Produktdaten aus transparenten Rohstoff- und Lieferketten. Umweltschonende Landwirtschaft fußt auf digitaler Feldbewirtschaftung und den Landwirt_innen frei zugänglichen Daten über Böden, Wetter, Nährstoffe etc. Die dahinterliegenden Algorithmen sind am Gemeinwohl orientiert und auf öffentlich-rechtlichen Plattformen hinterlegt, an denen alle teilhaben können.
Digitalisierung und Nachhaltigkeit erreichen die EU mit deutscher Ratspräsidentschaft
Vor diesem Hintergrund hat das Bundesumweltministerium seit 2018 konsequent Umwelt- und Digitalpolitik zur Transformationspolitik weiterentwickelt. Erstes Ergebnis war die europaweit erste Umweltpolitische Digitalagenda. Sie fasst die oben genannten Ziele programmatisch zusammen und beinhaltet über 70 Einzelmaßnahmen. Einerseits geht es der Agenda darum, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen zugunsten der:
Andererseits zielen ihre Maßnahmen darauf ab, die Digitalisierung selbst umweltgerecht zu machen. Denn digitale Technologien und Geschäftsmodelle hinterlassen einen beachtlichen ökologischen Fußabdruck. Digitale Infrastruktur verbraucht Rohstoffe und Energie entlang globaler Wertschöpfungsketten. Software, Rechenzentren und Endgeräte müssen effizienter und Stoffkreisläufe geschlossen werden.
Mit der Agenda rücken Hersteller digitaler Produkte und Geschäftsmodelle ebenso in den Fokus umweltpolitischer Betrachtung wie auch die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, innerhalb derer Digitalisierung zum Chancentreiber werden kann. Umweltpolitik öffnet sich zum ersten Mal den Ambivalenzen digitaler Entwicklungen und nimmt deren Chancen und Risiken wahr. Gleichzeitig wird Digitalpolitik aufgefordert, ihre Umwelt- und Klimarelevanz zu erkennen. Beide Blickrichtungen markieren einen Meilenstein.
Daraus folgt ein klarer Handlungsauftrag. Wer nicht den Techgiganten dieser Welt machtlos gegenüberstehen will, muss Digitalisierung selbst so gestalten, dass alle etwas davon haben. Die Agenda macht deutlich: Wesentliche regulatorische und gesetzgeberische Gestaltungselemente der Digitalisierung liegen auf europäischer Ebene. Erst von dort entfalten diese globale Wirkung. So wie die Europäische Datenschutzgrundverordnung zum globalen Goldstandard auf ihrem Feld geworden ist, braucht es einen europäischen Datenraum für den European Green Deal, damit die wertegebundene Digitalisierung globale Strahlkraft entwickeln kann.
Konsequenterweise haben damit Digitalisierung und Nachhaltigkeit die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 erreicht. Die überwiegende Mehrheit der Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission geben uns Rückenwind. Mithilfe von EU-Ratsschlussfolgerungen soll der Fahrplan geschaffen werden, wie wir EU-weit digitale Technologien in den Dienst von Umwelt, Klima und Natur stellen und Umweltbelastungen durch digitale Technologien begrenzen können.
Ziel ist: Die EU sendet ein weltweit beachtetes Signal zugunsten eines eigenen, an den Nachhaltigkeitszielen orientierten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. Hier monopolisieren weder totalitärer Staat noch sich libertär gebende Silicon-Valley-Milliardär_innen den Datenraum. Hier entstehen Geschäftsmodelle, die nachhaltiges Wirtschaften ermöglichen. Hier schaffen digitale Technologien Transparenz in Liefer- und Wertschöpfungsketten und zeigen uns den Zustand von Klima und Artenvielfalt. Hier werden Infrastrukturen der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) effizient und langlebig. Hier wird Künstliche Intelligenz als „AI made in Europa“ zur Marke für wirtschaftlichen Erfolg unter Wahrung der planetaren Grenzen und zum Schutz unserer individuellen Freiheit.
Die Covid-19-Pandemie – unerwartete Beschleunigung
Während die Covid-19-Pandemie Wirtschaft und Gesellschaft global zur Vollbremsung gezwungen und viel Leid über die Welt gebracht hat, hat sie einerseits unsere Verwundbarkeit, andererseits aber auch das Chancenpotenzial digitaler Technologien offengelegt. Daraus kann auf paradoxe Weise zusätzliche Kraft für die sozial-ökologische Transformation erwachsen.
Zum einen spricht einiges dafür, dass eine Zoonose Auslöser der Pandemie war. Tierische Viren könnten über Wildtiermärkte in China auf den Menschen übergesprungen sein. Naturschützer_innen haben auf diese Gefahr schon vor Jahren hingewiesen. Die fortschreitende Zerstörung von Ökosystemen und die Entgrenzung natürlicher Lebensräume von Mensch und Tier als Folge von Industrialisierung, Wirtschaftswachstum und Urbanisierung werden zur gesundheitlichen Bedrohung. Artenschutz wird zum Gesundheitsschutz. Auch hier sind die planetaren Grenzen längst überschritten.
Zum anderen hat die überraschend gut gelungene Umstellung von Arbeit, Leben und Wirtschaften auf digitale Prozesse der Digitalisierung einen Schub verliehen. Manches davon wird sicher nach der Pandemie in Balance gebracht zur physischen Präsenz. Andere Auswirkungen sind anhaltender: Branchen wie der stationäre Einzelhandel könnten einen strukturverändernden Schlag erhalten haben, während der Onlinehandel seinen endgültigen Durchbruch erfahren dürfte. Das zeigt: Strukturveränderungen durch fortschreitende Digitalisierung beschleunigen sich und machen ein Umsteuern aufgrund der Überschreitung planetarer Grenzen notwendiger denn je – national und europäisch. Der Ansatz des Bundesumweltministeriums, Digitalisierung und Nachhaltigkeit als Zwillingsherausforderung zu gestalten, war deshalb nicht nur richtig, er erfährt durch die Pandemie eine immense Dringlichkeit.
Digitalisierung mit Werten schafft Wertschöpfung
Die durch Dekarbonisierung und Digitalisierung ausgelöste sozial-ökologische Transformation wird zum zentralen politischen Handlungsfeld der kommenden Jahrzehnte. Ob sie gelingt, ist so offen wie die Geschichte der Menschen selbst. Aber sie liegt in unseren Händen.
Entscheidend wird sein, ob und wie die Transformation unser Leben global gesehen besser macht. Debatten über individuellen Verzicht wirken da kontraproduktiv, wo sie von denen geführt werden, die alles im Überfluss haben. Wenn ein „Weiter so“ und „Mehr davon“ ganz sicher die falsche Strategie ist, stellt sich aber gleichzeitig die Frage, wohin das Neue führen soll, wie wir darüber einen gesellschaftlichen Konsens erzielen können und wie wir das Zutrauen schaffen, dass alle davon etwas haben.
Um es an einem Beispiel konkret zu machen: Müssen Arbeitnehmer_innen der Automobilwirtschaft fürchten, dass ihre Führung die Elektrifizierung und Elektronifizierung des Autos verschläft, gleichzeitig die Politik mehr Klimaschutz fordert, dann stellt sich berechtigterweise Existenzangst ein. Die gleiche Sorge entsteht, wenn die neuen Arbeitsplätze der Mobilitätsbranche tariflich ungesichert und entwertet sind. Hier braucht es nachvollziehbare Zukunftsbilder der Mobilität und der Arbeit von morgen, die vielen Hunderttausend Menschen und ihren Familien Arbeit und persönliche Entfaltungsperspektiven geben.
Sicherheit im transformativen Wandel wird daher zu einem Schlüsselthema künftiger Wahlauseinandersetzungen. Von Rechtsaußen wird den Menschen in dieser Debatte das Glück im nationalen Gestern versprochen – in den gut situierten Bürger_innenmilieus hingegen der behagliche Verzicht ohne tief greifende Änderungen.
Bei der demokratischen Linken muss es darum gehen, neue Wege in die nachhaltige Gesellschaft mit neuer sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit zu verbinden. Eine so ausgerichtete, sozial-progressive Politik der Transformation verbindet faire Regeln auf dem Arbeitsmarkt mit ambitionierten Umweltzielen. Sie nutzt die digitalen Chancen für alle im Bildungssystem und macht Menschen zu reflektierten Nutzer_innen im digitalen Zeitalter. Sie reguliert Datenräume, damit sie allen Nutzen stiften und nicht nur wenigen Tech-Milliardär_innen. Sie stellt den digitalen Fortschritt in den Dienst nachhaltiger Entwicklung. Sie verknüpft andere Mobilität mit einem Stadtumbau und einem Mehr an Lebensqualität in allen Quartieren. Sie nutzt digitale Möglichkeiten, um abgehängte Regionen an Handel und mobile Wirtschaft anzuschließen. Sie entwickelt und kämpft für Zukunftsbilder, wie eine nachhaltige Wirtschaft im Einklang mit dem Planeten aussieht, wie sie sich anfühlt und wie es sich darin lebt.
Das Bundesumweltministerium hat mit der Initiative „Wir schafft Wunder: Fortschritt sozial und ökologisch gestalten“ erste neun Zukunftsbilder entworfen, ins Netz gestellt und diskutiert diese nun mit allen gesellschaftlichen Akteur_innen. Die Zukunftsbilder zeigen, wie sich Wertschöpfung verändert, aber eben auch, wo und wie nachhaltige Digitalisierung und digitale Nachhaltigkeit neue Wertschöpfung schaffen kann. Darüber zu streiten lohnt sich. Denn es ist ein Streit um Zukunft. Um unsere Zukunft. Um die Zukunft künftiger Generationen. Gewinnen werden ihn diejenigen, die dabei die überzeugendsten Argumente und Konzepte zur Wahl stellen und eine verlässliche Perspektive bieten.
Rita Schwarzelühr-Sutter MdB, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
von Miriam Dross und Claudia Kemfert
von Paul Nemitz und Matthias Pfeffer
von Monique Goyens und Agustin Reyna
von Frederik Moch
von Georg Feigl
von Norbert Walter-Borjans und Gustav Horn
Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
Dr. Andrä Gärber Sina Dürrenfeldt Max Ostermayer Dr. Robert Philipps Markus Schreyer
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