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Beitrag der Reihe "Wirtschaft weiter denken aus junger Perspektive" von Steffen Verheyen und Carl J. Niederste Frielinghaus
Viel zu oft geht es in der öffentlichen Debatte über Tarifverhandlungen nur um Lohnsteigerungen. In einer Arbeitswelt, die den Arbeitnehmer_innen eine flexiblere Zeiteinteilung abverlangt, greift diese Debatte aber zu kurz. Zu wenig wird darüber diskutiert, welchen zeitlichen Anforderungen Arbeitnehmer_innen gerecht werden müssen. Es bedarf einer sozialdemokratischen Arbeitszeitpolitik, die die Zeitsouveränität der Arbeitnehmer_innen in den Mittelpunkt stellt und diese auch für Beschäftigte ermöglicht, die nicht von Tarifverträgen abgedeckt sind.
Trommelwirbel. Fanfarenmusik. Aus einer grauen Fabrikanlage mit drei turmhohen Schornsteinen nähern sich gesichtslose Umrisse von Zeichentrickfiguren. Erst als sie aus dem Werksgelände heraustreten, werden sie deutlicher. Anzüge, Kittel und auch Gesichter sind nun zu sehen. „Ist Wochenschluss bereits am Freitag, dann ist der ganze Samstag Frei-Tag“, raunt eine Stimme aus dem Off. Zu sehen ist dieser historische Werbeclip in der Online-Bibliothek „LeMO“ des Hauses der Geschichte Bonn.
Es ist das Jahr 1956. Die IG Metall, seinerzeit (und auch heute) die größte Gewerkschaft der Bundesrepublik, wirbt mit einem Video für ihre Forderung: 40 Stunden Wochenarbeitszeit, verteilt auf fünf Werktage. Es ist ein Film aus einer anderen Zeit. Arbeiter der 1950er Jahre werden in ihrer Freizeit gezeigt: Männer beim Federball, Männer beim Eislaufen, Männer beim Gärtnern, Männer beim Studieren. „Hauptsache ist, man spannt mal aus“, mahnt dazu der Sprecher. Es ist eine Zeit, in der samstags gearbeitet wird und die Wochenarbeitszeit über 45 Stunden liegt. Viel selbstbestimmte Zeit außerhalb der Fabrik bleibt den Arbeitenden nicht. Zwar hat sich die Arbeitswelt im Vergleich zu damals für die Arbeitnehmerschaft heute verbessert, dennoch sollte durch die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitswelt das Thema Arbeitszeit auch heute wieder Gegenstand der politischen Auseinandersetzung sein.
Schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts tritt die Arbeiterbewegung für kürzere Arbeitszeiten ein. In der industriellen Arbeitswelt, deren Rhythmus nicht mehr von Wind und Wetter vorgegeben wird, diktiert von nun an die Arbeitszeit den Alltag der Bevölkerung. Doch die Vorgabe der Arbeitszeit bedeutet für die Arbeiterin und den Arbeiter vor allem eines: mehr arbeiten zu müssen. So steigt die Wochenarbeitszeit in Deutschland bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf über 80 Stunden, wobei Kinderarbeit und Sonntagsarbeit keine Ausnahme, sondern die Regel sind.
Der Slogan „8 Stunden arbeiten, 8 Stunden schlafen und 8 Stunden Freizeit und Erholung“ kommt zu dieser Zeit einer Utopie gleich. Doch genau diese Vorstellung einer gerechten Arbeitswelt formuliert der britische Sozialreformer Robert Owen bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie stößt bei den Herrschenden allerdings auf wenig Gegenliebe, sodass es in Deutschland bis zur Novemberrevolution 1918 dauert, bis der Achtstundentag eingeführt wird.
Doch welche Herausforderungen hinsichtlich der Arbeitszeit ergeben sich aus der modernen digitalisierten Arbeitswelt? Die Arbeitsverhältnisse wurden in den letzten Jahren zunehmend flexibilisiert. Die Corona-Pandemie hat diese Transformation in vielen Bereichen beschleunigt. Homeoffice hat sich in vielen Schreibtischberufen von einer Ausnahme zur zumindest halbwöchigen Normalität entwickelt. Eine Herausforderung dabei ist die Anforderung, ständig erreichbar zu sein. Es darf nicht zur Norm werden, dass abends noch die beruflichen E-Mails gelesen werden müssen! Eine weitere Herausforderung liegt in der hohen Zahl der Überstunden. Mehr als 1,7 Milliarden Überstunden wurden 2020 in Deutschland geleistet, die meisten davon unbezahlt. Damit sind wir Europameister_innen bei unbezahlten Überstunden. Ein großes Problem ist hierbei in Deutschland wie in anderen Ländern, dass Überstunden häufig gar nicht erst erfasst werden, weshalb der Europäische Gerichtshof 2019 in einem Urteil von den Mitgliedsstaaten verbindliche Maßstäbe zur Erfassung von Arbeitszeit forderte.
Der Begriff der Stunde ist Zeitsouveränität. Gemeint ist, dass Arbeitnehmer_innen selbstbestimmt über ihre Arbeitszeit entscheiden und Arbeitgeber_innen ihnen nicht ständig spontan Überstunden aufdrücken können. Fehlende Zeitsouveränität aufseiten der Arbeitnehmer_innen führt dazu, dass sie sich zunehmend wieder nach weniger Arbeitszeit sehnen. Einer ver.di-Umfrage zufolge wären 65 Prozent der Arbeitnehmer_innen bereit, Gehaltssteigerungen gegen weniger Arbeitszeit einzutauschen.
Rechtlich ist diesbezüglich seit der Weimarer Republik wenig passiert. In der Bundesrepublik hat es sich eingebürgert, die Festlegung der Arbeitszeit (anders als beispielsweise in Frankreich) weitgehend den Tarifparteien zu überlassen. Auch wenn die Gewerkschaften im Laufe der Zeit die Senkung der Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden (und teilweise noch weiter) erkämpft haben, beträgt die wöchentliche Höchstarbeitszeit laut Arbeitszeitgesetz weiterhin 48 Stunden.
Die IG Metall stellt die Zeitsouveränität in der Kampagne „Mein Leben – meine Zeit“ in den Mittelpunkt. Dabei hat sich der Begriff „Arbeitszeit“ im Vergleich zu früher deutlich erweitert: Flexible Arbeitszeiten, Bildungs(teil)zeit, Ruhepausen bei der Schichtarbeit oder der Umgang mit Überstunden sind heute Teil ihrer Tarifkämpfe. So konnte die IG Metall beispielsweise in Tarifverträgen ab 2019 eine „verkürzte Vollzeit“ durchsetzen, die es Arbeitnehmenden ermöglichen soll, für mehrere Monate weniger Wochenstunden arbeiten zu müssen. Und auch unbezahlter Pflegearbeit (sogenannter Care-Arbeit) soll Sorge getragen werden, indem Arbeitnehmende statt eines tariflichen Zusatzgelds zusätzliche freie Tage nehmen können. Dies gilt für Arbeitnehmende, die mindestens drei Jahre in Schichtarbeit waren, Kinder unter acht Jahren oder Angehörige ab Pflegegrad 1 haben.
Doch die Abschlüsse der IG Metall sollten nicht darüber hinwegtäuschen: Souverän über ihre Arbeitszeit sind in Deutschland die wenigsten Arbeitnehmer_innen. Gerade einmal 44 Prozent sind von flächendeckenden Tarifverträgen abgedeckt und können auf diesem Weg an der Gestaltung ihrer Arbeitszeit mitwirken. Über 100 Jahre nach der Einführung des Achtstundentags muss sich in Deutschland also auch die Politik der Frage der Arbeitszeit annehmen.
Zuletzt forderte Finanzminister Christian Lindner angesichts der Auswirkungen des Ukrainekriegs noch mehr (unbezahlte) Überstunden von den Arbeitnehmer_innen. Insbesondere Union und FDP wollen das Arbeitszeitgesetz flexibilisieren, indem es nur noch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit geben soll. Mehr Flexibilität klingt gut, bedeutet in diesem Fall aber: mehr Flexibilität für Arbeitgebende und weniger Zeitsouveränität für die Arbeitnehmenden. Es braucht daher eine Arbeitszeitpolitik, die die Zeitsouveränität der Arbeitnehmer_innen in den Mittelpunkt stellt. Es mangelt nicht an Vorschlägen, was Diskussionsbeiträge zu Lebensarbeitszeitkonten und der Verkürzung der Normalarbeitszeit zeigen. Es mangelt jedoch am Willen, diese Vorschläge politisch aufzugreifen, sodass bisher nur einige wenige privilegierte Arbeitnehmer_innen von diesen Modellen profitieren.
Ein dauerhaftes Recht auf Homeoffice, wie von Arbeitsminister Hubertus Heil vorgeschlagen, kann nicht die einzige Maßnahme sein. Das werden Millionen Eltern nach der Corona-Zeit bezeugen können. Zudem lässt sich ein Anspruch auf Homeoffice zwar bei Bürobeschäftigten möglich machen, eine Busfahrerin allerdings profitiert nicht davon. Gleiches gilt insgesamt für die Debatte über Zeitsouveränität. Es bleibt eine oft akademische Debatte, in der die Lebensrealitäten großer Teile der Bevölkerung ignoriert werden.
Wie könnte also eine sozialdemokratische Politik aussehen, die Arbeitnehmer_innen zu den Souverän_innen ihrer Arbeitszeit macht? Gewerkschaften sind die besten Garanten für eine Mitbestimmung der Arbeitnehmer_innen über ihre Arbeitszeit. Daher folgt allen Maßnahmen, die zu einer größeren Abdeckung von Tarifverträgen führen, mehr Zeitsouveränität für die arbeitende Bevölkerung. Allerdings muss auch der Gesetzgeber dafür sorgen, dass die Zeitsouveränität aller Arbeitnehmer_innen ausgebaut wird. Warum werden in Deutschland so viele unbezahlte Überstunden geleistet? Warum diskutieren wir im Zuge der Pandemie über ein Recht auf Homeoffice, aber nicht gleichzeitig über ein Recht auf Präsenzarbeit, um der Entgrenzung der Arbeitswelt entgegenzutreten? Warum ist die Höchstgrenze von 48 Wochenstunden gemeinsam mit den vorgeschriebenen Ruhezeiten der einzige Rahmen, innerhalb dessen Arbeitgeber_innen Arbeitnehmer_innen ohne Tarifvertrag ihre Arbeitszeit diktieren können?
Alle diese Fragen sollen Denkanstöße für eine neue sozialdemokratische Arbeitszeitpolitik bieten. Eine solche Politik muss Zeitsouveränität immer mit finanzieller Souveränität verknüpfen. Denn wer nicht souverän im Hinblick auf das eigene Portemonnaie in der Tasche ist, wird auch nicht souverän im Hinblick auf seine Uhr am Handgelenk sein. Rechtliche Vorgaben für mehr Zeitsouveränität gehen also Hand in Hand mit guten Löhnen. Und wo keine Tarifverträge gelten, braucht es einen neuen rechtlichen Mindeststandard für Zeitsouveränität. Nach dem Mindestlohn, der ein Mindesteinkommen sichert, könnte ein Mindeststandard für Zeitsouveränität nun also rechtliche Mindeststandards für Arbeitsbedingungen schaffen, die über die Bezahlung hinausgehen. Dieser Standard muss der Entgrenzung der digitalen Arbeitswelt entgegentreten, die Zahl der unbezahlten Überstunden drastisch verringern und es allen Arbeitnehmer_innen ermöglichen, ihre Arbeitszeit flexibler einteilen zu können. Die flexiblere Einteilung der Arbeitszeit kann dann bedeuten, dass Arbeitnehmer_innen später oder früher mit ihrem Arbeitstag beginnen, kann aber auch dazu führen, dass sie in bestimmten Lebensphasen weniger arbeiten und die Arbeitszeit zu einem anderen Zeitpunkt nachholen. Davon könnten dann nicht nur einige privilegierte Arbeitnehmer_innen profitieren, sondern auch der Reinigungsmann und die Busfahrerin. Sie werden so zu Souverän_innen der eigenen Zeit. In Frankreich gilt beispielsweise die 35-Stunden-Woche als Referenz zur Berechnung von Überstunden. Alles, was über diese Wochenarbeitszeit hinausgeht, muss mit einem Zuschlag vergütet oder durch Freizeit ausgeglichen werden. Voraussetzung ist auch hierfür, dass die Überstunden erfasst werden.
Aber ist dieser Vorschlag zur Verrechtlichung der Arbeitszeit nicht „altes Denken“, das die Kreativität der Arbeitnehmer_innen in der digitalen Arbeitswelt einschränkt und den ohnehin schon vorhandenen Fachkräftemangel unnötig verschärft? Studien zeigen, dass ausgeruhte und zeitsouveräne Arbeitnehmer_innen in der Regel kreativer und produktiver sind. So verringerte sich die Produktivität von Arbeitnehmer_innen verschiedenster Berufsgruppen bei einer probeweisen Einführung der Viertagewoche in Island nicht. Altes Denken ist es, die Arbeitszeit gleichzusetzen mit der tatsächlichen Arbeitsleistung. Seit Jahren steigt die Anzahl der Fehltage von Arbeitnehmer_innen in Deutschland aufgrund psychischer Belastungen. Mehr Überstunden führen also zu einer kränkeren anstatt stärkeren Wirtschaft.
Der Film der IG Metall aus den 1950er Jahren endet mit einem Kind, das den berühmt gewordenen Satz spricht: „Samstags gehört Vati mir.“ Eine Neuformulierung dieses Spruches für die moderne Arbeitswelt fällt nicht leicht. Die Arbeitszeit wird zu Zeitsouveränität. Und selbstverständlich müsste die Veränderung der Geschlechtervielfalt auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigt werden. Aus Vati werden mindestens Mutti und Vati. Aber neben Mutti und Vati sollten zum Beispiel auch pflegende Angehörige und Bildungswillige bedacht werden. Kurzum, der Mensch müsste in den Mittelpunkt einer solchen Kampagne rücken. Ein neues Motto könnte also lauten: „Meine Zeit gehört mir, wann immer ich sie brauche!“
Bundesministerium der Justiz (2022): Arbeitszeitgesetz. Online verfügbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/arbzg/BJNR117100994.html.
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Wotschak, Philip (2018): Optionszeiten auf der Basis von Langzeitkonten – eine kritische Bilanz. Online verfügbar unter: https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_057_2018.pdf.
Steffen Verheyen
Steffen Verheyen (Jahrgang 1998) hat einen Bachelorabschluss in Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaften und studiert nun im Master Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und ist Stipendiat der FES. Er ist Co-Vorsitzender der Jungen Europäischen Föderalisten Münster.
Carl J. Niederste Frielinghaus
Carl J. Niederste Frielinghaus (Jahrgang 1999) studiert im Bachelor Volkswirtschaftslehre an der Leuphana Universität Lüneburg und ist Stipendiat der FES. Er war bis Februar 2022 Ortsvereinsvorsitzender der SPD Lüneburg.Wirtschaft weiter denken aus junger Perspektive
Dieser Beitrag ist Teil der Blogreihe "Wirtschaft weiter denken aus junger Perspektive", die im Anschluss an den Tag der Progressiven Wirtschaftspolitik 2022 entstanden ist. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.Ansprechpartnerin in der FES: Iva Figenwald
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Ein Blick auf Utopien hilft, um Debatten anzuregen, warum wir in Zukunft nicht unbedingt weniger arbeiten, aber Arbeit neu verstehen müssen.
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