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von Georg Feigl
Kurz vor dem Ausbruch von Covid-19 in der EU stellte die EU-Kommission den Rahmen zur wirtschaftspolitischen Steuerung – und damit auch die ökonomische, sozial- und umweltpolitische Grundausrichtung – auf den Prüfstand. Bereits zuvor hatte die Debatte mit dem „Green Deal“ der neuen EU-Kommissionspräsidentin und ihrem Team neuen Schwung bekommen. Losgelöst von Krise und aktuellen Schwerpunkten sollte die Economic Governance – also Regeln, Institutionen und Prozesse der europäischen Wirtschaftspolitik – grundlegend reformiert werden. Zentrale These dieses Beitrags ist, dass künftig die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen in ihren Mittelpunkt rücken sollte – in Anlehnung an die Europäischen Verträge („Wohlergehen ihrer Völker“), die „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ der UNO (Stichwort SDGs) als oberste globale politische Vereinbarung und das magische Vieleck wohlstandsorientierter Wirtschaftspolitik.
Ausgangslage für eine wohlstandsorientierte Reform der Economic Governance
Bis zur „Großen Rezension“ 2009 bestand der wirtschaftspolitische Steuerungsrahmen der EU im Wesentlichen aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt – allen voran die Überwachung der europäischen Fiskalregeln – sowie der offenen Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Allgemeinen. Danach wurden die Zügel deutlich angezogen: Sonderregime für „Krisenstaaten“, verschärfte Überwachung der Fiskalregeln, ein neues Verfahren zur Vermeidung makroökonomischer Ungleichgewichte und ein ambitionierter Steuerungsprozess für die Wirtschaftspolitik insgesamt, das sogenannte Europäische Semester. Progressivere politische Projekte wie die „Europa 2020 Strategie“ oder die „GDP and Beyond“-Initiative spielten im Krisenmodus keine Rolle mehr.
Diese neue Economic Governance wurde anfänglich zur Durchsetzung harter Austeritätspolitik und Wettbewerbsorientierung mittels Lohndruck genutzt. Als die negativen ökonomischen und sozialen Folgen nicht mehr zu übersehen waren, erfolgten ab Mitte 2013 langsam Kurskorrekturen. Mit dem Amtsantritt der Juncker-Kommission kam es zu einer Flexibilisierung der eben erst verschärften Fiskalregeln, indem bestehende Interpretationsspielräume nun wachstums- und beschäftigungsfreundlicher interpretiert wurden.
Die Einsicht, dass sich etwas ändern muss, setzte sich aber nicht nur in Bezug auf die Fiskal- und Lohnpolitik verstärkt durch. Auf globaler Ebene trugen das Pariser Klimaabkommen, die 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung (SDGs) und weitere Fortschritte in der Well-Being-Forschung (vor allem im Rahmen der OECD) zu diesem Umdenken bei. Auf europäischer Ebene sind diesbezüglich drei politische Initiativen hervorzuheben, die auf eine progressive Änderung der Economic Governance abzielten: die europäische Säule sozialer Rechte, die Schlussfolgerungen des Rates zur Ökonomie des Wohlergehens und ferner der Bericht der Independent Commission for Sustainable Equality mit Eckpfeilern für das Wohlergehen aller in einem nachhaltigen Europa.
All das läuft in der durch Covid-19 ausgelösten Krise allerdings Gefahr, in Vergessenheit zu geraten. Damit droht sich die Entwicklung nach 2009 zu wiederholen, als auf dem Höhepunkt der Debatte über eine sozial-ökologische Neuausrichtung die tatsächliche Agenda rasch von der Wirtschaftskrise dominiert wurde. Damit nicht neuerlich Ähnliches geschieht, gilt es jetzt, nicht nur rasch den mit dem Green Deal verschränkten EU-Recovery-Plan umzusetzen, sondern auch Reformen der Economic Governance einzuleiten bzw. so weit wie möglich bereits im nächsten Europäischen Semester – also ab November diesen Jahres – zu implementieren.
Ein wohlstandsorientiertes Europäisches Semester
Das seit 2011 bestehende Europäische Semester wurde mit dem Anspruch geschaffen, die laufende politische Steuerung in der EU kohärenter zu gestalten. Die wirtschaftspolitischen Aktivitäten auf europäischer und nationaler Ebene sollen – theoretisch basierend auf der mittelfristigen Strategie (damals Europa 2020, heute Green Deal) – zusammengeführt und besser abgestimmt werden, sowohl inhaltlich wie auch zeitlich.
In seiner jetzigen Form ist das Europäische Semester ein mittlerweile etablierter Prozess der Politikgestaltung. In der Praxis weist es drei Hauptprobleme auf: (1) ein unklarer bis fehlgeleiteter Fokus, (2) die unzureichende Umlegung der gesamteuropäischen Ausrichtung auf die länderspezifische Ebene und (3) ein wenig partizipativer technokratischer Entscheidungsprozess, indem weder das Europäische noch die nationalen Parlamente eine entscheidende Rolle spielen und Sozialpartner sowie andere wichtige Interessengruppen bestenfalls angehört werden, wobei abweichende Meinungen verhallen.
Diese Probleme gilt es zu überwinden, um das Europäische Semester als Instrument für die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen zu nutzen. Vergangenen Herbst wurde bereits aus dem bisherigen „Jahreswachstumsbericht“ die „Jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum“, die die vier Dimensionen „Ökologische Nachhaltigkeit“, „Produktivitätswachstum“, „Gerechtigkeit“ und „Makroökonomische Stabilität“ umfasst – und damit dem magischen Vieleck wohlstandsorientierter Wirtschaftspolitik ähnlicher geworden ist.
Diese Neuerungen bleiben jedoch widersprüchlich und sind wenig kohärent, wie sich an den nur geringfügig zum Vorjahr adaptierten Länderberichten ablesen lässt. Zwar gibt es nun jeweils ein relativ knapp gehaltenes Kapitel zur ökologischen Nachhaltigkeit und im Annex die Kennzahlen des SDG-Scoreboards von Eurostat, allerdings fehlt eine Analyse der Zielabweichungen, -konflikte und -synergien, ebenso wie zumindest ein Ausblick über die zu erwartende zukünftige Entwicklung. Der tatsächliche „Härtetest“, die länderspezifischen Empfehlungen im Mai, wo die letztlich angestrebten politischen Weichenstellungen in den einzelnen Mitgliedstaaten sichtbar werden, fiel praktisch aus, weil diese Empfehlungen naturgemäß ganz im Zeichen der Corona-Krise standen. Eine Ausnahme stellten die bereits zuvor formulierten Empfehlungen an den Euroraum dar, bei denen lediglich die sozialen und ökologischen Aspekte etwas stärker betont wurden.
Wohlstandsorientierte Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes
Eines der wichtigsten Hindernisse für eine nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlbefinden im Euroraum sind die Fiskalregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Sie geben der EU-Kommission weitreichenden Spielraum, eine als zu expansiv interpretierte Fiskalpolitik zu sanktionieren. Doch selbst wenn diese davon gar keinen Gebrauch machen will, führt die Anforderung, ein übermäßiges Defizit (größer als drei Prozent des BIP) zu vermeiden und eine allfällige Abweichung innerhalb von zwei Jahren zu korrigieren, in einer schweren Krise wie der jetzigen automatisch zu einem makroökonomisch kontraproduktiven Kürzungszwang. Die mögliche und aktuell gültige Regelaussetzung angesichts der Schwere des Einbruchs wirkt hier nur aufschiebend – zumindest dann, wenn Beschäftigung und Einkommen nicht rasch wieder zum alten Wachstumspfad zurückkehren. Diese Regel gilt es daher rasch zu beseitigen oder zumindest durch eine vernünftigere Regel zu ersetzen, die auf eine Beschränkung des nicht durch Einnahmen gedeckten Wachstums der nicht investiven Ausgaben abzielt.
Doch selbst nach einer solchen Änderung bliebe das Problem der rechtlich einzementierten Priorisierung restriktiver Fiskalpolitik gegenüber anderen Politikfeldern in der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU. Das einzige Element, das die Fiskalregelfixierung aufweichte – das mit der sogenannten Six-Pack-Reform geschaffene Verfahren zur Vermeidung makroökonomischer Ungleichgewichte –, brachte leider nur ein weiteres Hindernis für eine ausgewogene wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik. Auch hier gibt es Reformvorschläge, wie das Instrument im Sinne makroökonomischer Stabilität verbessert werden kann. Ohne zumindest eine gleichwertige rechtliche Verankerung anderer Teilziele in der politischen Steuerung der EU würden wichtige soziale und ökologische Aspekte aber strukturell jedenfalls nur ein Randdasein fristen.
Insofern scheint es notwendig, von starren Regeln auf ein breites Set an Indikatoren zur Messung nachhaltiger Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen umzustellen. Prioritäten sollten im politischen Prozess evidenzbasiert getroffen werden, im Bewusstsein knapper Ressourcen und mit Blick auf Zielkonflikte und -synergien. Abweichungen sollten nicht länger unter Strafandrohung gestellt werden, sondern lediglich eine neuerliche vertiefte öffentliche Debatte auslösen.
Transparentere Entscheidungen auf breiterer Basis
Die wirtschaftspolitische Steuerung selbst ist deshalb allgemein auf eine möglichst breite Basis zu stellen. Statt sich hinter Scheinobjektivität zu verstecken, sind Entscheidungsgrundlagen und unterschiedliche Meinungen transparent zu machen. In einem ersten Schritt sollten deshalb sämtliche Bereiche der europäischen Wirtschaftspolitik (einschließlich der einzelnen Prozessschritte des Europäischen Semesters) vom Europäischen Parlament bzw. einer Form von Eurozonen-Parlament mitentschieden werden. Das würde die Legitimität der Entscheidungen verbessern und für mehr Transparenz sorgen. Bereits jetzt könnte sich die EU-Kommission dazu verpflichten, die Inhalte von Entschließungen des EU-Parlaments zum Europäischen Semester bei der Erstellung von Kommissionsdokumenten im Steuerungsprozess zu berücksichtigen.
Aber auch der ECOFIN bzw. die Eurogruppe sollten transparenter werden, zum einen indem die Positionen der nationalen Minister_innen nachvollziehbar, zum anderen indem die Vorarbeiten der sogenannten Eurozonen-Arbeitsgruppe zumindest teilweise veröffentlicht werden, damit auf nationaler Ebene bereits vorab eine öffentliche Debatte stattfinden kann.
Darüber hinaus sollte die wirtschaftspolitische Steuerung der Eurozone zukünftig auf eine Ex-ante-Einbindung der Sozialpartner setzen. Auch andere zivilgesellschaftliche Akteure (wie etwa der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss und die Multi-Stakeholder-Plattform zu den SDGs) sollten nicht nur angehört, sondern tatsächlich einbezogen werden, indem Vorschläge zur Konkretisierung der Nachhaltigkeitsausrichtung aufgegriffen werden. Anstelle der verengten beratenden Expertengremien wie Fiskalräten und nationalen Produktivitätsausschüssen sollten plurale und interdisziplinäre Beiräte zukunftsgerichtete Analysen und Empfehlungen beisteuern, beispielsweise ähnlich der Allianz für nachhaltige Entwicklung in Italien.
Schlussfolgerungen
Unmittelbar ist die Gefahr einer neuerlichen Austeritätswelle zur raschen Rückführung der krisenbedingt über drei Prozent des BIP angestiegenen Defizite zu entschärfen. Darüber hinaus gilt es, die unter deutscher Ratspräsidentschaft zu führende Debatte über die Economic Governance für eine kohärente Ausrichtung auf die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen in der EU zu nutzen. Wichtiger Ansatzpunkt ist dabei das Europäische Semester als zentraler Steuerungsprozess, der auf eine inhaltlich wie in puncto Beteiligung breite Basis gestellt werden muss.
Georg Feigl, Ökonom in der Arbeiterkammer (AK) Wien und Mitorganisator des europäischen TUREC-Netzwerks gewerkschaftsnaher ÖkonomInnen (Trade Union Related Economists Network).
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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