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Existentielle Bedrohung oder einmalige Chance? Die COVID-19-Pandemie zeigt, wie dringlich der aktuelle Friedenprozess für Afghanistan ist.
Bild: Provincial hospital in Afghanistan von Fred W. Baker lizenziert unter DoD Afghans sit in a dark hallway of the Paktia provincial hospital in Gardez City, Afghanistan, Feb. 17, 2009. The hospital runs its lights and lifesaving equipment using a high-powered generator, but it has only enough fuel to operate six hours a day. DoD photo by Fred W. Baker III
Als Gabriel García Márquez im Jahr 1985 “Die Liebe in den Zeiten der Cholera” veröffentlichte, befand sich Afghanistan im sechsten Jahr eines Krieges, der über 40 Jahre andauerte und Millionen von Menschen getötet, verletzt oder vertrieben hat. Allein im Jahr 2019 wurden in diesem Konflikt mehr als 10.000 Zivilisten getötet oder verletzt. In seinem Roman hält uns Marquez mittels der Metapher der Cholera, die unerwartet zuschlägt und innerhalb weniger Stunden zum Tod führen kann, die Kürze des Lebens und die Dringlichkeit der Liebe vor Augen. Die sich entfaltende COVID-19-Krise in Afghanistan ist eine weitere Mahnung hinsichtlich der verheerenden Auswirkungen von Kriegen auf die menschliche Sicherheit. Für den noch jungen Friedensprozess ist COVID-19 jedoch entweder eine existenzielle Bedrohung oder eine einmalige Chance, abhängig davon, ob afghanischen Eliten und die Taliban zusammenarbeiten können.
Offiziell hat Afghanistan zum 2. April nur 273 Fälle verzeichnet, hauptsächlich aufgrund seiner extrem geringen Testkapazität – bis zum 16. März wurden nur 250 Tests durchgeführt. Die Anzahl der nicht gemeldeten Fälle dürfte viel höher sein angesichts der Tatsache, dass seit Januar mehr als 115.000 Afghanen aus dem Iran, einem der Epizentren der Pandemie, zurückgekehrt sind. Das Gesundheitsministerium warnte, dass bis zu 75 Prozent der Bevölkerung infiziert sein könnten und mehr als 100.000 möglicherweise sterben könnten.
Selbst ein kleiner Ausbruch könnte eine große Gesundheitskrise auslösen, insbesondere wenn die Kämpfe, bei denen jedes Jahr Tausende Verletzungen erleiden, fortgesetzt werden. Laut dem Fragile State Index 2019 gehörte die Fähigkeit Afghanistans der allgemeinen Bevölkerung wesentliche Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und sanitäre Einrichtungen bereitzustellen, zu den schwächsten der Welt. Das Vermögen der afghanischen Regierung, mit COVID-19 effektiv umzugehen, könnte sich durch die anhaltende Verfassungskrise in Folge der umstrittenen Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen 2019 weiter verschlechtern.
Um die Krise zu bewältigen, errichtet die Zentralregierung neue COVID-19 Krankenhäuser und Kliniken in Provinz- und Bezirkszentren. Da viele weitere Fälle erwartet werden und wichtige Ausrüstung wie Masken und Beatmungsgeräte knapp sind, reichen diese Maßnahmen nicht aus und umfangreiche internationale Hilfe ist erforderlich. Ein Lockdown von Kabul und anderen Städten seit dem 28. März soll die Ausbreitung verlangsamen. Die Regierung verfügt allerdings weder über die personellen Ressourcen, um solche Anordnungen auf den Straßen durchzusetzen, noch über die finanziellen Mittel, um Unternehmen und Arbeitnehmer für die daraus resultierenden Verluste zu entschädigen. Vielen ist es nicht möglich, soziale Distanzierung vollständig zu befolgen, da sie entweder in Mehrgenerationen-Haushalten eng zusammenleben oder von Tagelohn abhängen.
Die Situation wird durch regionale Entwicklungen weiter verschärft. Obwohl die afghanischen Behörden den Iran aufforderten, die Grenzen zu schließen, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern, werden grenzüberschreitende Bewegungen fortgesetzt. Pakistan und Indien, gefragte Alternativen zum relativ ineffektiven afghanischen Gesundheitssystem, haben den internationalen Reiseverkehr eingestellt, was sich auch auf den wichtigen internationalen Handel auswirkt. Die Beschränkungen erstrecken sich auch auf die nördlichen Grenzen zu Usbekistan und Tadschikistan, was die Befürchtungen einer Verknappung lebensnotwendiger Güter verstärkt. Für das Binnenland, in dem die Ernährungsunsicherheit für Millionen eine vorherrschende Herausforderung darstellt, sind Weizenimporte aus Zentralasien von höchster Bedeutung.
Neben den nationalen und regionalen Herausforderungen liegen die Ergebnisse Afghanistans überwiegend außerhalb seiner Kontrolle. Mehr als 75 Prozent des afghanischen Haushalts werden von fortschrittlichen Volkswirtschaften finanziert, von denen viele selbst vom wirtschaftlichen Schaden der COVID-19-Krise stark betroffen sind. Allein die US-Wirtschaft könnte um 2,5 Billionen US-Dollar zurückgehen. Die Geberländer, einschließlich der USA, werden wahrscheinlich auf ihren internationalen Rückzug hin einem erhöhten Druck ausgesetzt sein. Die Gesamtbeträge der Hilfeleistungen werden wahrscheinlich schrumpfen, da Geberländer mittel- und langfristige Entwicklungsziele zugunsten kurzfristiger humanitärer Hilfe zurückstellen könnten. Diese Auswirkungen werden zur Schieflage aufgrund Kürzungen der US-Hilfe als Reaktion auf die noch ungelöste Wahlkrise zusätzlich beitragen.
In diesen kritischen Zeiten ist kooperatives Handeln der afghanischen Eliten und der Taliban dringend erforderlich, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Alle Parteien haben begonnen, die Öffentlichkeit aufzufordern, Schutzmaßnahmen zu befolgen und in Krankenhäusern in von ihnen kontrollierten Gebieten strenge Regeln und Kontrollen zu erlassen. Darüber hinaus gab es zwei weitere Schritte in die richtige Richtung: die Bildung eines Verhandlungsteams in der vergangenen Woche, das zumindest unter den Fraktionen in Kabul weitgehend akzeptiert wurde, und den Beginn direkter Überlegungen zur Freilassung von Taliban-Kämpfern in Regierungshaft. Sofern ein sofortiger Waffenstillstand, wie von den Vereinten Nationen gefordert, eintritt und die Freilassung von Gefangenen beschleunigt wird, könnte dies die von COVID-19 verursachte humanitäre Katastrophe mildern. Zumindest könnten solche Schritte ein höheres Maß an Entgegenkommen der Geberländer aufrechterhalten und dadurch Hilfe sicherstellen. Im besten Fall werden sich westliche Länder aktiv am politischen Prozess beteiligen und Afghanistan zu positiven Ergebnissen verhelfen. Durch die COVID-19-Pandemie bedingt ist der Frieden in Afghanistan so dringlich wie noch nie zuvor geworden. Es bleibt zu hoffen, dass das Dringlichkeitsbewusstsein zu durchgreifendem Handeln führt.
Dr. Magdalena Kirchner ist Direktorin des FES Afghanistan Büros.
Dieser Artikel erschien im Original in Englisch als Teil des #FESAsiaCoronaBrief.
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