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EU-Mitgliedsstaaten weigern sich, die Verantwortung für Geflüchtete zu übernehmen. Ein Kompromiss zur Dublin-Verordnung muss dringend gefunden werden.
Bild: Syrian refugees strike at the platform of Budapest Keleti railway station. Refugee crisis. Budapest Hungary, Central Europe, 4 September 2015, 3 von Mstyslav Chernov (Own work) via Wikimedia Commons lizenziert unter CC BY-SA 4.0
Eine aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes unterstreicht die Dringlichkeit einer Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Zeitgleich versuchen Entscheidungsträger_innen, Spaltungen im Europäischen Parlament und Rat zu überwinden. Besonders schwierig gestaltet es sich, eine Einigung zur Reform der sogenannten Dublin-Verordnung zu erzielen. Die Dublin-Verordnung regelt, welcher Mitgliedsstaat für die Prüfung eines Asylantrags verantwortlich ist.
In dem Gerichtsverfahren wurde der Fall von Majid Shiri verhandelt. Shiri, ein iranischer Asylsuchender, betrat über Bulgarien die EU und reiste dann nach Österreich weiter, wo er anschließend seinen Asylantrag stellte. Die österreichischen Behörden lehnten seinen Antrag jedoch ab, da laut Dublin-Verordnung Bulgarien der zuständige Staat für den Antrag war. Die bulgarischen Behörden akzeptierten Österreichs Überstellungsantrag, unterließen es jedoch, Shiri innerhalb des in der Dublin-Verordnung vorgesehenen sechsmonatigen Zeitrahmens nach Bulgarien zurückzuführen. Obwohl Bulgarien sich bereit erklärte, Shiri auch nach Ablauf der Frist aufzunehmen, legte dieser Einspruch ein, da er nun Österreich als zuständigen Staat betrachtete. Der Gerichtshof gab ihm Recht und entschied eindeutig, dass die Verantwortung für die Prüfung eines Asylantrags automatisch an den Staat übergehe, in dem sich die asylsuchende Person nach Ablauf der Rückführungsfrist bereits aufhalte. Dies gelte unabhängig davon, wann der Transferbeschluss getroffen wurde.
Dieses Gerichtsurteil wird sicherlich bei vielen Mitgliedsstaaten, die darum bemüht sind, sich ihrer Verantwortung für Asylanträge zu entziehen, für Irritationen sorgen. Die Regierungen dieser Staaten werden als Reaktion darauf eventuell noch stärker dafür plädieren, die Dublin-Verordnung komplett zu überarbeiten. Im Fokus der aktuellen Verhandlungen steht der Reformvorschlag der EU-Kommission, der voriges Jahr veröffentlicht wurde. Der Vorschlag sieht vor, dass kein Zuständigkeitswechsel zwischen Mitgliedsstaaten nach Ablauf der Frist stattfindet. Konkret würde diese – hochkontroverse – Anpassung bedeuten, dass der erste Einreisestaat auf unbestimmte Zeit die Verantwortung für den Antrag der asylsuchenden Person trägt, selbstr wenn die Person dieses Land für längere Zeit verlassen sollte.
Der Reformvorschlag der Kommission soll eigentlich eine Regelungslücke schließen, durch die eine asylsuchende Person theoretisch die Dublin-Regelungen umgehen könnte, indem sie sich für mindestens 18 Monate in einen anderen Mitgliedsstaat absetzt. Er würde jedoch mit aller Wahrscheinlichkeit die Asylsysteme der Mitgliedsstaaten an der EU-Außengrenze wie Bulgarien, Griechenland und Italien strapazieren, wenn er nicht durch weitere Maßnahmen abgefedert wird. Somit zeichnet sich eine klare Trennung zwischen den südlichen Mitgliedsstaaten, die zeitliche Fristen beibehalten wollen und denen des Nordens, die diese lieber abschaffen würden, ab.
Ein Mechanismus zur Umverteilung von Flüchtlingen wäre die einzige Möglichkeit um Staaten an der europäischen Außengrenze zu entlasten. Dieser enthüllt seinerseits noch tiefere Spaltungen zwischen den neuen und alten Mitgliedsstaaten. Die westeuropäischen Staaten signalisieren generell Offenheit für diese Idee, während die osteuropäischen sie heftig ablehnen. Der osteuropäische Widerstand gegen Umverteilungen hatte verärgerte Forderungen nach Geldstrafen und einer Verringerung von Mitteln aus dem Strukturfonds zur Folge (für die Länder, die sich weigern, umverteilte Geflüchtete aufzunehmen). Ein solches Vorgehen hätte jedoch nur eine Verschärfung der Spannungen zur Folge und würde kaum zu einem für alle Parteien annehmbaren Kompromiss führen. Stattdessen werden nun am Verhandlungstisch finanzielle Anreize für die Aufnahme von Geflüchteten diskutiert.
Die große Frage, der sich die EU in Bezug auf Asylreform stellen muss, lautet: Wie viel und welche Art von Solidarität muss jeder Mitgliedsstaat zeigen? Die Visegrad-Länder (Polen, Slowakei, Tschechische Republik und Ungarn) lancierten voriges Jahr das Konzept der „flexiblen Solidarität“ - im Grunde ein verwässertes Umsiedlungsprogramm mit diversen Ausnahmen. Seitdem wird unter dem Stichwort „effektive Solidarität“ weiter verhandelt. Ein vollständig proportionales Umsiedelungsprogramm wird wohl nicht Ergebnis der Verhandlungen sein – und es wäre wahrscheinlich noch nicht einmal das bestmögliche Resultat. Die relativ niedrige Anzahl an Geflüchteten, die im Rahmen des 2015 eingeführten und auf zwei Jahre begrenzten temporären Umsiedelungsprogrammes umgesiedelt wurden, macht deutlich, dass Mitgliedsstaaten ein ihnen nicht gefallendes Verfahren nur schleppend umsetzen. Gleichermaßen verlassen geflüchtete Menschen diejenigen Staaten einfach, in denen sie sich nicht willkommen fühlen.
Ein Kompromiss wird dringend gebraucht, damit Mitgliedsstaaten mit einem Ausmaß an ungeregelter Zuwanderung zurechtkommen können, das sich in nächster Zeit wohl nicht wesentlich verringern wird. Das aktuelle Dublin-System wurde nicht für solche hohen Zahlen konzipiert; es wurde zu einer Zeit eingeführt, in der es unvorstellbar schien, jährlich über eine Millionen Geflüchtete aufzunehmen. Das Resultat sind Asylregelungen, die in ihrer jetzigen Form untragbar sind. Die Verwaltungslast der Dublin-Überstellungen ist ausgeufert und nur ein Bruchteil der Anträge wird jährlich tatsächlich ausgeführt.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes im Fall Shiri bestätigt die Ursprungslogik der Dublin-Verordnung, nämlich Mitgliedsstaaten darin zu motivieren, Asylverfahren zügig und effizient abzuwickeln. Doch dieser Ansatz ist in Zeiten von Rekord-Ankunftszahlen und gleichzeitigen Budgetkürzungen in krisengeplagten Mitgliedsstaaten nicht tragfähig. Der fortlaufende Dublin-Reformprozess muss diese Realitäten berücksichtigen. Das Endergebnis der Verhandlungen muss ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den sehr verschiedenen Interessen, Kapazitäten und Perspektiven der Mitgliedsstaaten finden. Dies ist keine leichte Aufgabe, doch wurden in Brüssel bereits ähnlich schwierige Verhandlungen erfolgreich durchgeführt.
Kontakt:Marco Funk, Referent für den Europäischen Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts (Rechtsstaatlichkeit, Migration, digitale Rechte) im Europabüro der Friedrich-Ebert-Stiftung, Brüssel.
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