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Katharina Rose, Vertreterin der Globalen Allianz der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen (GANHRI) in Genf, spricht über die Diskussionen im UN-Menschenrechtsrat anlässlich seiner derzeitigen Tagung.
Am 24. August hielt der Menschenrechtsrat (Human Rights Council – HRC) eine Notstandssondertagung zu Afghanistan ab und verabschiedete eineResolution, in der es jedoch nicht gelang, eine Rechenschaftspflicht für Menschenrechtsverletzungen sicherzustellen. Die Unabhängige Menschenrechtskommission Afghanistans (Afghanistan Independent Human Rights Commission – AIHRC) nannte das Dokument eine „Travestie“. Wie ist die Lage der AIHRC heute?
Wir sind nach wie vor auf das Äußerste besorgt über die Sicherheit der Mitglieder und Mitarbeitenden der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans (AIHRC) und fordern erneut Maßnahmen zum Schutz derjenigen Mitglieder und Mitarbeitenden, die sich noch im Land befinden.
Die AIHCR ist ein hoch geschätztes Mitglied von GANHRI und war stets eine kritische Stimme, die in dem volatilen und höchst komplexen und herausfordernden Umfeld Afghanistans die Menschenrechte verteidigt hat. Die Mitglieder und Mitarbeitenden haben außerordentliche Tapferkeit und Einsatzbereitschaft für die Menschenrechte bewiesen und tun dies immer noch, zeitweise unter hohen persönlichen Risiken. Die AIHRC legte sowohl dem Menschenrechtsrat als auch dem Sicherheitsrat regelmäßig, auch noch in jüngster Zeit, Berichte mit evidenzbasierten Informationen vor, die konkrete Handlungsempfehlungen enthielten.
Aufgrund der Arbeit und des Status der AIHRC sind ihre Mitglieder und Mitarbeitenden heute hochgradig gefährdet. Wir fordern alle Staaten und die Taliban auf, ihren Schutz zu garantieren. Nach den jüngsten Ankündigungen der Taliban sind wir außerdem tief besorgt über die Zukunft der AIHRC als unabhängige nationale Menschenrechtsinstitution.
Der Fortbestand und die weitere Tätigkeit einer unabhängigen nationalen Menschenrechtsinstitution für Afghanistan ist von entscheidender Bedeutung – nicht nur für die Sicherung grundlegender Menschenrechte für alle, sondern auch, was sehr wichtig ist, als Antriebskraft für die Förderung der Aussöhnung zwischen allen Akteuren, die für die Zukunft Afghanistans unverzichtbar ist.
Neben anderen hat auch die Europäische Union bedauert, dass es dem Menschenrechtsrat nicht gelungen ist, einen unabhängigen Mechanismus zur Beobachtung der Situation in dem Land zu schaffen. Die Situation in Afghanistan wird immer kritischer, und es gibt Berichte über gravierende Einschränkungen, Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen im ganzen Land. Derzeit findet die 48. Tagung des Menschenrechtsrats statt. Was können und müssen die europäischen Ländern tun, um frühere Misserfolge auszugleichen?
Die Berichte über Verstöße gegen die Menschenrechte, die bei uns eingehen, sind höchst beunruhigend. Es ist dem Menschenrechtsrat nicht gelungen, in einer der Situation angemessenen Weise zu reagieren.
Es gibt Berichte über Verletzungen der Menschenrechte wie etwa des Rechts auf Leben, Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit, Rede- und Meinungsfreiheit. Es gibt auch Berichte über willkürliche Verhaftungen und Tötungen. Besonders gravierend und besorgniserregend ist die Lage von Frauen und Mädchen, von Minderheiten, insbesondere der Hazara, sowie auch der Binnenvertriebenen. Im Widerspruch zu den von den Taliban gemachten Zusagen, Frauen würden ihre Rechte behalten, wird berichtet, dass Frauen stattdessen zunehmend vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden.
Die Hochkommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Michelle Bachelet, berichtet ebenfalls über zutiefst beunruhigende Informationen betreffend Überfälle der Taliban auf Büros einiger nichtstaatlicher Organisationen und zivilgesellschaftlicher Gruppen sowie Vergeltungsmorde. In Wahrnehmung des Mandats, das ihr in Resolution 48/141 erteilt wurde, arbeitet die Hochkommissarin unter Einsatz aller Kapazitäten ihres Amtes daran, die Rechte der afghanischen Bevölkerung zu überwachen und, wo immer möglich, diese Rechte zu schützen und zu fördern. Die europäischen Staaten können bei der Unterstützung der Hochkommissarin in ihren Bemühungen eine wichtige Rolle übernehmen.
Während eine unabhängige nationale Menschenrechtsinstitution auf jeden Fall unverzichtbar ist, wurde zum ersten Mal die Forderung nach einer internationalen Ermittlungsmission erhoben, die einerseits diejenigen zur Rechenschaft ziehen soll, die in der Vergangenheit Verstöße begangen haben, und andererseits gegenwärtige und künftige Verstöße überwachen, dokumentieren und darüber berichten soll. Eine solche Aufgabe würde die Kapazitäten der AIHRC übersteigen, und die Hochkommissarin hat auf der Sondertagung wie auch auf der 48. Tagung des Menschenrechtsrats einen internationalen Mechanismus gefordert. Die AIHRC und andere blicken auf die europäischen Staaten, von denen sie sich eine Führungsrolle erhoffen.
Afghanistan hat eine Reihe internationaler Menschenrechtsverträge ratifiziert und ist daher an die rechtlichen Verpflichtungen aus diesen Verträgen gebunden. Dazu gehört auch das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW). Alle Staaten sollten ihre Einflussmöglichkeiten gegenüber den Taliban nutzen, um die Achtung der Menschenrechte zu fördern, in Übereinstimmung mit den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen Afghanistans, unter besonderer Beachtung der Rechte von Frauen und Mädchen sowie der Angehörigen von Gemeinschaften ethnischer und religiöser Minderheiten.
Alle Staaten, einschließlich derjenigen in Europa, sollten die Vereinten Nationen und andere Akteure bei der Bewältigung der zutiefst beunruhigenden und sich verschärfenden humanitären Krise unterstützen. Zahlreiche Staaten, darunter auch europäische, habe enorme Anstrengungen unternommen, um unter besonders problematischen Umständen gefährdete Menschen zu evakuieren und umzusiedeln, namentlich Menschenrechtsverteidiger_innen, aber es muss noch mehr getan werden, um sicherzustellen, dass diejenigen, die das Land verlassen wollen, dies ungehindert und in Sicherheit tun können.
Selbst wenn ein Monitoring-Mechanismus ohne Sanktionen geschaffen worden wäre, wie könnte er tatsächlich etwas bewirken?
Es sollte daran erinnert werden, dass es bereits zahlreiche vom Menschenrechtsrat mandatierte (und von der EU unterstützte) Untersuchungsgremien gibt, deren Arbeit auf Fernüberwachung beschränkt ist, die aber dennoch eine Vielzahl hervorragender und aussagekräftiger Berichte vorgelegt haben – etwa zu Syrien, Venezuela, Myanmar, Gaza/Besetzte palästinensische Gebiete, Sri Lanka und anderen. Es ist von entscheidender Bedeutung, nicht das Licht auszuschalten, wenn Afghanistan seine dunkelste Stunde erlebt.
Die internationalen Menschenrechtsnormen sind unveränderbares Recht, und die Ausübung der Menschenrechte ist keinen Veränderungen in der Kontrolle über ein Territorium unterworfen. Allerdings hat der Menschenrechtsrat wenig Macht, um eine Verhaltensänderung der Taliban zu erzwingen, die die internationale Menschenrechtsagenda ganz offen als unvereinbar mit ihrer Auslegung des Islam zurückweisen. Sehen Sie irgendwelche Anzeichen, dass die „neuen“ Taliban auf Druck seitens der internationalen Gemeinschaft und insbesondere des Menschenrechtsrats reagieren?
Bisher scheint die internationale Gemeinschaft keinen großen Druck auf die Taliban ausgeübt zu haben. Sie muss herausfinden, was den Taliban wichtig ist und welche Druckmittel sie noch hat: Den Taliban scheint viel an internationaler Anerkennung zu liegen. Diese könnte verweigert werden. Sie wollen die Streichung von den Sanktionslisten der UN und anderer Gremien erreichen. Hier könnte ein Hebel angesetzt werden. Sie benötigen Finanzmittel. Dies ist ein Instrument, das mit großer Vorsicht eingesetzt werden muss, damit das Einfrieren von Geldern nicht der afghanischen Bevölkerung schadet.
Manchmal bieten sich Einflussmöglichkeiten an ganz unerwarteter Stelle. Ursprünglich wollten die Taliban Frauen verbieten, Cricket zu spielen. Als jedoch in Australien die Absage eines Cricket-Testspiels der Männer drohte, erklärten die Taliban, das Spielverbot für Frauen sei noch keine endgültige Entscheidung.
Die internationale Gemeinschaft hat die Taliban dazu aufgerufen, eine inklusive Regierung zu bilden, unter wirksamer Beteiligung von Frauen und mit einer Vertretung der vielfältigen Gemeinschaften Afghanistans. Die Interimsregierung, die am 7. September vorgestellt wurde, umfasst jedoch weder Frauen noch einen substantiellen Anteil von Vertretern, die nicht der Volksgruppe der Paschtunen angehören. Noch schlimmer ist, dass die Regierung aus zahlreichen bekannten Hardlinern der Taliban besteht, die Terror und schwere Menschenrechtsverletzungen unterstützen.
Es sind die afghanischen Frauen, die es gewagt haben, sich gegen diese Entscheidung zu stellen. Ihre jüngsten Proteste wurden gewaltsam aufgelöst. Was meinen Sie, wie die internationale Gemeinschaft auf die zunehmenden Verstöße gegen die Menschenrechte von Frauen und Mädchen, aber auch von ethnischen und religiösen Minderheiten wie der Hazara reagieren sollte?
Indem sie, wie oben beschrieben, den Taliban das verweigert, woran ihnen sehr viel liegt, und indem sie Afghan_innen, die ihre Menschenrechte ausüben, lautstark und durch praktische Maßnahmen unterstützt.
Als erstes muss umfassend analysiert werden, wo Einflussmöglichkeiten bestehen, und dort sollte dann Druck ausgeübt werden. Es gibt 35 Millionen Afghan_innen, und sie können nicht alle das Land verlassen, aber die Evakuierungen sollten zum jetzigen Zeitpunkt nicht gestoppt werden. Die europäischen Länder sollten weiterhin von Repressalien bedrohte Afghan_innen aufnehmen, darunter auch Menschenrechtsverteidiger_innen, sowie andere wie etwa Staatsanwält_innen und Richter_innen. Jetzt die Türen zu schließen, wird nicht nur zu vermeidbarem Schaden für die Betroffenen führen, sondern es wird auch längerfristige Folgen nach sich ziehen.
Im August forderte die Hochkommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Michelle Bachelet, alle Staaten auf, sichere Wege für afghanische Flüchtlinge und Migrant_innen zu schaffen, die Programme für Asylgewährung und Neuansiedlung auszuweiten und die Abschiebung afghanischer Schutzsuchender sofort zu beenden. Welche Rolle sehen Sie für die europäischen Länder hinsichtlich des Schutzes afghanischer Menschen, die aus ihrem Land flüchten?
Wir legen allen Staaten, auch den europäischen, dringend nahe, die internationale Zusammenarbeit zu verstärken, um die sichere Weiterreise all derjenigen, die das Land verlassen wollen, auch auf dem Landweg in die Nachbarländer, zu gewährleisten, indem sichere Korridore eingerichtet werden – und zwar so lange, wie dies erforderlich ist.
Die europäischen Länder können eine wichtige Rolle übernehmen, indem sie die Nachbarländer Afghanistans unterstützen, die eine hohe Zahl afghanischer Geflüchteter aufgenommen haben, und indem sie das UN-System bei der Bereitstellung humanitärer Hilfe unterstützen. Sie könnten auch dafür sorgen, dass alle Anträge, mit denen Staatsangehörige Afghanistans und Personen, die dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, um internationalen Schutz in ihren Ländern nachsuchen, in beschleunigten und effizienten Verfahren im Einklang mit dem Völkerrecht bearbeitet werden. Dies sollte auch eine weit gefasste Auslegung des Kriteriums „Familienangehörige“ umfassen.
Außerdem ist es wichtig, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung („non-refoulement“) jederzeit eingehalten wird.
Welche Ergebnisse erhoffen Sie sich von der 48. Tagung des Menschenrechtsrats im Hinblick auf die Situation der Menschenrechte in Afghanistan?
Da Monitoring-Tätigkeiten in Afghanistan immer problematischer werden, schließen wir uns der wiederholten Aufforderung der AIHRC und vieler anderer an, der Rat solle auf seiner aktuellen Tagung eine Ermittlungsmission oder einen anderen unabhängigen Untersuchungsmechanismus einrichten, mit einem breit angelegten, mehrjährigen Mandat zur Überwachung, Dokumentation und Berichterstattung über alle Menschenrechtsverletzungen durch sämtliche Akteure.
Dieser Mechanismus sollte beauftragt werden, sowohl dem Menschenrechts- als auch dem Sicherheitsrat regelmäßig über seine Erkenntnisse zu berichten. Er sollte einen geschlechtsspezifischen Schwerpunkt beinhalten und mit angemessenen Ressourcen ausgestattet werden. Ein solcher Mechanismus wird dazu beitragen, dass in dieser Zeit einer extremen Krise die Vereinten Nationen und die gesamte internationale Gemeinschaft glaubwürdige und zuverlässige Informationen über die Menschenrechtslage vor Ort erhalten und danach handeln können. Ein solcher Mechanismus ist auch eine entscheidende Voraussetzung für die Gewährleistung der Rechenschaftspflicht.
Die internationale Gemeinschaft muss auf die Lage in Afghanistan umgehend, einheitlich und unmissverständlich reagieren, um Leben und Würde der afghanischen Bevölkerung zu schützen.
Vielen Dank für das Interview.
Katharina Rose
ist die in Genf ansässige Vertreterin der Globalen Allianz der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen (GANHRI). Sie ist verantwortlich für die strategische und thematische Arbeit von GANHRI, die Beziehungen zu den Vereinten Nationen und die Zusammenarbeit mit Partnern. Sie ist auch die Ansprechpartnerin bei GANHRI für bedrohte Nationale Menschenrechtsinstitutionen und die Vertreterin GANHRIs im Unterausschuss für die Akkreditierung Nationaler Menschenrechtsinstitutionen. Frau Rose ist Juristin. Sie spricht fließend Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch.
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