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Europäische Industriepolitik nach der Corona-Krise

von Michael A. Landesmann



Nicht nur in der EU, sondern auch weltweit hat sich in den vergangenen Jahren eine intensive Diskussion um die Industriepolitik entwickelt. Seit den 1980er Jahren war sie bestimmt von der Etablierung guter Rahmenbedingungen, die einen starken Liberalisierungsprozess innerhalb der jeweiligen Länder, aber auch auf weltwirtschaftlicher Ebene begleiten sollten. Zahlreiche Entwicklungen, nicht zuletzt die Corona-Krise, haben jedoch die Grenzen dieses Konzepts und die Notwendigkeit progressiver industriepolitischer Perspektiven deutlich werden lassen.

Für diesen Perspektivwechsel waren zunächst längerfristige und miteinander verbundene Tendenzen verantwortlich: die sich beschleunigende Abnahme des Anteils der verarbeitenden Industrie; die zunehmende Auslagerung von Produktionsprozessen und -schritten; die dramatische Erhöhung des Produktions- und Exportanteils Chinas an der Weltwirtschaft; starke regionale Agglomerationstendenzen in der europäischen Industrie. Hinzu kamen Herausforderungen, die sich noch weit in die nächsten Jahrzehnte strecken werden: die neue Welle technologischer Innovationen und Diffusionsprozesse im Bereich Digitalisierung sowie die Klimakrise mit all ihren Folgen. Die Diskussion um die Industriepolitik wurde politisch auch beeinflusst von einer Angst vor einem neu aufkommenden Populismus und den ansteigenden Erfolgen rechtsgerichteter Parteien, die insbesondere die „Verlierer“ der genannten Tendenzen (Verlust von Arbeitsplätzen im Industriebereich, Veränderung von Qualifikationserfordernissen, regionale Ungleichheiten etc.) mit ihrer Mobilisierung ansprechen konnten.

Neue industriepolitische Orientierung in der EU

Das dann einsetzende Umdenken der EU im Bereich der Industriepolitik umfasste vor allem diese Orientierungspunkte:

Es entwickelten sich in dieser bis heute andauernden Periode auch ganz neue Konzeptionen der Industriepolitik – neue regionalpolitische Konzepte wie das der Intelligenten Spezialisierung (Smart Specialisation) oder der Missionsorientierten Industriepolitik (Mission-Oriented Industrial Policy) – sowie eine Neudefinition von Industrie, welche die wichtigen Zulieferungen im Dienstleistungsbereich (produktionsnahe Dienstleistungen) miteinschließen soll. Infolge der Finanzkrise wurden weitere Instrumente geschaffen (wie der European Stability Mechanism – ESM, der zunächst finanzielle Unterstützung für EU-Mitgliedsländer gewähren sollte, deren Schuldenposition den Zugang zu Finanzmärkten schwierig machte), und es wurde mit InvestEU ein größeres Invetsitionsprogramm auf die Beine gestellt. Zusätzlich wurden bestimmte Institutionen wie die European Investment Bank und natürlich auch die EZB gestärkt.

Auswirkungen des Schocks der Corona-Krise

Mit der Corona-Krise verbunden ist ein neuerlicher starker Schock für die Arbeitsmärkte, der unterschiedliche Effekte auf verschiedene wirtschaftliche Aktivitäten hat. Einerseits gab es die kurzfristigen Effekte auf diejenigen Branchen, die von dem Lockdown und den nachfolgenden internationalen Mobilitätsbeschränkungen besonders betroffen waren (Friseur_innen, Restaurants, Hotels, Flugverkehr etc.). Andererseits wurde die Vulnerabilität der internationalen Produktionsverflechtungen während der Krise ersichtlich und wird zunächst als Teil von Unternehmensstrategien zu mehr Diversifikation von Lieferketten Anlass geben. Die Corona-Krise und der damit verbundene Ausnahmezustand führte jedoch auch zu politischen Reaktionen, die Abhängigkeit von internationalen Produktionsketten zu verringern und ein Reshoring essenzieller Produktionsbereiche (pharmazeutische Produkte, medizinische Ausrüstungen) zu initiieren. Gleichzeitig gab es aber auch Produktionsbereiche, die von der Corona-Krise stark profitiert haben, insbesondere der Telekombereich, der für Homeworking, Onlineshopping und Konferenzersatzveranstaltungen sehr wichtig geworden ist.

Für eine Neuorientierung der europäischen Industriepolitik ergeben sich neben den längerfristigen Tendenzen durch die Corona-Krise insbesondere diese Punkte:

  • Die Umstellung auf Homeworking (und digitale Vernetzung) einer größeren Gruppe Angestellter wurde notwendig und wird längerfristigen Charakter haben. Dies wird jedoch viel stärker bei Aktivitäten der Fall sein, in denen Besserverdienende angestellt sind. Dort wird es auch die stärksten Sprünge im Bereich der Digitalisierung geben – wie man mit diesem ungleichen Effekt umgehen kann ist noch unklar.
  • Dadurch, dass der Zeitpunkt der vollen gesundheitlichen Bewältigung der Corona-Epidemie weiterhin unklar ist und nach unterschiedlichen Schätzungen bis Mitte 2021 oder eventuell auch in das Jahr 2022 hineinreichen kann, werden die ökonomischen Auswirkungen noch länger andauern und sich auch längerfristig auf verschiedene Wirtschaftsbranchen unterschiedlich auswirken.
  • Die Abhängigkeit von staatlichen Unterstützungen an Arbeitnehmer_innen, die nicht voll arbeiten können, an Firmen, die entweder zusperren müssen oder einen größeren Schuldenberg angehäuft haben, und auch die Unterbrechung internationaler Mobilität wird ebenfalls länger anhalten.
  • Letztlich wird der während der Corona-Krise angewachsene Schuldenberg der Nationalstaaten mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Wechsel der aktuellen expansiven hin zu einer restriktiveren Fiskalpolitik führen. Die Frage ist nun, wann diese Trendumkehr in der Fiskalpolitik stattfinden wird. Dieser Zeitpunkt wird einen massgeblichen Einfluss auf die mittelfristige wirtschaftliche Entwicklung und damit auf längerfristige Disparitäten in der EU haben. Die Hoffnung ist, dass diese Trendumkehr nicht zu früh passiert.

Aufgaben progressiver Industriepolitik für Europa

Progressive Industriepolitik erschöpft sich nicht darin, zusätzliche Zielsetzungen und eine modifizierte Handhabung gegebener wirtschaftspolitischer Maßnahmen vorzuschlagen, sondern stellt eine ganz andere Formulierung von Zielbereichen und Instrumenten für die industriepolitische Strategie der EU dar. Die Argumentation in Richtung einer radikalen Neudefinition von Industriepolitik kritisiert vor allen Dingen, dass wichtige soziale Ziele in der traditionellen Konzeption nicht oder nicht genügend berücksichtigt sind. Diese Argumentation lässt sich unter den folgenden beiden Aspekten zusammenfassen.

Strategie gegenüber strukturellem Wandel: Struktureller Wandel ist ein wichtiges Moment wirtschaftlicher Entwicklung. Er bezieht sich auf die Einführung produktivitätssteigernder Technologien, die Entwicklung und Verbreitung neuer Produkte, das Entstehen neuer wirtschaftlicher Aktivitäten und Beschäftigungsmöglichkeiten und ist daher der Grundmotor von wirtschaftlichem Wachstum und (potenziell) steigender Wohlfahrt. Struktureller Wandel erfordert jedoch auch permanente Umstellungen, da alte Beschäftigungsmöglichkeiten wegfallen, gewisse Qualifikationen nicht mehr gebraucht werden, alte Standorte weniger attraktiv werden etc. In der realen Welt von Arbeitnehmer_innen spielen die Herausforderungen des strukturellen Wandels eine ganz wichtige Rolle, und deren Nichtbewältigung kann zu dramatischen sozialen Disparitäten führen. Das Problem für die Politik ist, dass zwar die generelle Richtung des strukturellen Wandels oft bekannt ist (Digitalisierung, Green Deal), jedoch die genauen Implikationen für Qualifikationen, Standorte, neue Business-Modelle etc. nicht klar vorhersehbar bzw. sehr schwierig quantitativ zu erfassen sind.

Wenn wir die gesamtwirtschaftliche Situation miteinbeziehen, muss daher im Kontext der Corona-Krise mit zweierlei Unsicherheiten gerechnet werden: (1) die zyklische Unsicherheit, in welcher Form und mit welchem Zeitverlauf sich eine gesamtwirtschaftliche Erholung abspielen wird; (2) die Unsicherheit bezüglich des Charakters und der Implikationen strukturellen Wandels. Daran schließen sich zwei weitere Aspekte: Corona-bedingte kurz- und mittelfristige Effekte auf unterschiedliche Industriebranchen und längerfristige strukturelle Änderungen, die mit Digitalisierung und anderen technologischen Entwicklungen sowie den Auswirkungen der Klimakrise und auch mit Veränderungen in globalen wirtschaftlichen und geopolitischen Beziehungen zu tun haben.

Wir leben daher während und nach der Corona-Krise in einer Situation von akzentuierter Unsicherheit, was die Stärke, den strukturellen Charakter und den Zeithorizont der zu erwartenden strukturellen Umstellung anlangt. In einem solchen Kontext kommt staatlicher Politik eine besonders wichtige Rolle zu, da private Unternehmen bei großer Unsicherheit eher abwartend agieren und sich mit Entscheidungen zurückhalten.

Agglomeration und regionale Peripherisierung: Innovationspolitik kann sich nicht nur auf Länder, Regionen und Branchen/Technologiebereiche konzentrieren, die sich an der Grenze des technisch Machbaren (Technology Frontier) befinden, sondern muss sich auch um jene weit dahinter liegenden Regionen, Länder und Industriebereiche bemühen – wir haben entsprechende Vorschläge zu Appropriate Industrial Policy, also einer „angemessenen“ Industriepolitik, ausgearbeitet. Dies bedeutet, dass sich Qualifikations- und Forschungsprogramme nicht nur an der Technology Frontier orientieren dürfen, sondern auch Entwicklungen und Diffusion von weniger fortgeschrittenen Technologien begleiten und das ganze Spektrum von Unternehmen (nach Produktivitätsniveaus, Qualifikation ihrer Mitarbeiter_innen und Standorten) abdecken müssen.

Regionalpolitik muss allzu starken Agglomerationsprozessen engegenwirken, die sich insbesondere in den Bereichen wissensorientierter Aktivitäten deutlich verstärkt haben. Dazu gehört die Unterstützung von 2nd und 3rd Tier Agglomerationen/Clustern, also auch der „zweiten Reihe“, die auch in periphere Regionen ausstrahlen können. Es müssen Bedingungen geschaffen werden, um periphere Regionen auch in transnationale Produktionsnetzwerke einzubauen. Innovationssysteme sind wiederum nach den Bedürfnissen der unterschiedlicher Typen von Regionen aufzubauen und auszurichten.

Die wichtigen beiden Herausforderungen, Digitalisierung und New Green Deal, die jetzt in allen  programmatischen Plänen und Konzepten der EU-Kommission stark verankert sind, werden starke strukturelle Veränderungen hervorrufen, verlangen neue Qualifikationsprofile und bergen die Gefahr, Ungleichheiten noch weiter auszubauen. Sie erfordern deshalb starke Interventionen in all den obgenannten Bereichen (Qualifikations- und Arbeitsmarktpolitik, Innovationspolitik, Regionalpolitik), um einen sozial verträglichen und wirtschaftlich doch auch effizienten Pfad des strukturellen Wandels einzuleiten und zu begleiten.

Schlussfolgerungen

Längerfristig ist klar, dass sich die europäische Wirtschaft einem starken strukturellen Wandel unterziehen wird, der sich aufgrund der Herausforderungen des zu erwartenden Digitalisierungsschubs und des Green Deal noch über die nächsten Jahrzehnte erstrecken wird.

Progressive Industrie- und Innovationspolitik muss in diesem Kontext folgende Elemente in die Diskussion und Politikformulierung einbringen: (1) Es müssen Trade-offs transparent diskutiert und diesbezüglich politische Entscheidungen getroffen werden. Diese beziehen sich auf die Geschwindigkeit und Muster strukturellen Wandels, die auf der einen Seite Produktivitätsentwicklung, gesamtwirtschaftliches Wachstum und Plazierung in internationalen Wirtschaftsbeziehungen maßgeblich beeinflussen und die andererseits sehr unterschiedliche Effekte auf unterschiedliche soziale Gruppen (bezüglich Einkommen, Beschäftigung, Arbeitsplatzgestaltung, Standort) haben werden. (2) Unterschiedliche Modelle sozialen und wirtschaftlichen Wandels können im Kontext dieser Trade-offs entwickelt werden. Zugleich wird das Engagement breiter Teile der Bevölkerung in den Diskussionen und Entscheidungen des angepeilten Modells und der damit verbundenen Industrie- und Innovationspolitik (einhergehend mit Arbeitsmarkt-, Qualifikations- und Regionalpolitik) sehr wichtig sein. (3) Zusätzlich müssen die externen Effekte, die diese Entscheidungen auf andere Länder, Regionen und Berufsgruppen haben, in die Diskussion eingebracht werden, zunächst von Analyst_innen, die dann aber auch zu politischen Entscheidungen im Rahmen politischer Iterations- und Verhandlungsprozesse innerhalb und zwischen den EU-Mitgliedsländern führen werden.
 


Über den Autor

Univ. Prof. Dr. Michael Landesmann ist Senior Research Associate am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw).


Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die Langfassung des Textes ist als WISO direkt erschienen.
 

 

 


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