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Die Einstellungen der Deutschen gegenüber Migration und welche Schlüsse die Sozialdemokratie daraus ziehen sollte.
Bild: crossing roads von Ed 259 lizenziert unter CC0 1.1
Derzeit wird in politischen und sozialwissenschaftlichen Debatten oft angenommen, dass durch die westlichen Gesellschaften eine neue Spaltung gehe. Obwohl die Gesellschaft durch Prozesse wie Individualisierung, Differenzierung und Singularisierung immer vielfältiger wird, traditionelle gesellschaftliche Milieus an Größe und Einfluss verlieren und die Gesellschaft insgesamt dadurch diffuser scheint, wird in diesen Debatten eine neue Zweiteilung, sogar Spaltung, angenommen. Demzufolge handelt es sich bei dem einen Teil um die tendenziell urbanen, besser gebildeten, privilegierten Mittel- und Oberschichten, die modernen Akademiker_innen oder auch Eliten, die von den Megatrends Globalisierung und Digitalisierung profitieren und weltoffen eingestellt sind. Sie werden meistens als »Kosmopolit_innen« bezeichnet.
Ihnen gegenüber stehen, so die Annahme, die »Kommunitarist_innen«, traditionell orientierte und weniger gebildete Mitglieder der Arbeiterklasse und unteren Mittelschicht, die kaum von Globalisierung und Digitalisierung profitieren. In dieser Gegenüberstellung wird dem Themenfeld Migration und Integration eine zentrale Rolle beigemessen. Demnach sind die Kosmopolit_innen in diesen Fragen liberal eingestellt und treten für den Schutz von gesellschaftlichen Minderheiten ein. Die Kommunitarist_innen hingegen stehen Migration eher skeptisch gegenüber, da sie kulturelle Verlustängste und Sorgen vor sozialen Verteilungskonflikten haben. Diese etwas schablonenhafte Einteilung wird auch dazu herangezogen, um die derzeitige Schwäche der Sozialdemokratie in Deutschland zu analysieren. Bisweilen wird dabei das Themengebiet Migration und Integration so aufgeladen, als entscheide sich an ihm allein die Zukunft der Sozialdemokratie. Ist also die Migration das Schicksalsthema der SPD?
Wer die Dinge so darstellt, folgert in der Regel, dass der entscheidende Faktor auf dem Weg zum Wiedererstarken der Sozialdemokratie eine restriktivere Positionierung in Migrations- und Integrationsfragen sei. Wer jedoch so denkt, der irrt. Diesem Ansatz liegen nämlich falsche Annahmen und Fehleinschätzungen der Einstellungen in der Bevölkerung zugrunde. Eine der Annahmen ist, es gelte v. a. von der AfD Stimmen zurückzuholen, wozu eine verschärfte Migrationspolitik gut geeignet sei.
Die AfD wurde 2013 gegründet, als die Sozialdemokratie in Deutschland bereits deutlich geschwächt war, nicht zuletzt durch die herben Stimmenverluste. Ihr Ergebnis bei den jeweiligen Bundestagswahlen sackte zwischen 2005 und 2009 von 34,2 % auf 23,0 % ab, in einer Zeit übrigens, in der der Zuwanderungssaldo viel geringer war als zuletzt. Bei den Bundestagswahlen 2017 errang die AfD mit 12,6 % einen großen Erfolg. Doch auch wenn die Stärke der Rechtspopulist_innen der vielleicht am meisten beachtete Aspekt der Wahl war, bedeutet das nicht, dass sich allein daraus die Schwäche der SPD erklärt. Die Sozialdemokraten haben nämlich nachweislich in alle politischen Richtungen Stimmen verloren, nicht zuletzt in Richtung der tendenziell migrationsoffenen Grünen.
Die Grünen bereiten gerade den Millionen ehrenamtlich Engagierten im Bereich der Geflüchtetenhilfe durch ihre offene Haltung attraktive Integrationsangebote, während die SPD als Teil der Großen Koalition mit den von der CDU/CSU forcierten Restriktionen im Bereich der Migrations- und Integrationspolitik verbunden wird. Auch im wachsenden Segment der Deutschen mit Einwanderungsgeschichte fährt die Sozialdemokratie mittlerweile herbe Verluste ein.
Dass die SPD für einen liberalen oder progressiven Kurs in der Migrationspolitik steht, wird also nicht in der ganzen Bevölkerung so wahrgenommen, wie es die Befürworter_innen einer restriktiveren Migrationspolitik annehmen und folglich eine Kurskorrektur fordern. Denn auch weltoffen Orientierte und viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte vermissen klare Positionen der Sozialdemokratie in der Migrationspolitik und wünschen sich eine Kurskorrektur, nur eben in die andere Richtung.
Nach den falschen Annahmen wenden wir uns nun den Fehleinschätzungen zu. Populist_innen geben vor, die »berechtigten« Sorgen und Interessen des »wahren« Volkes zu vertreten. In den medialen und politischen Debatten nehmen Migration und Integration einen verhältnismäßig großen Raum ein und sind häufig negativ als Probleme besetzt. Doch was denken die Deutschen tatsächlich über Migration und Integration? Sind die Einstellungen dazu wirklich so negativ und polarisiert, wie die öffentliche Debatte suggeriert? Um einen sachlichen und empirisch fundierten Beitrag zur Diskussion über das Einwanderungsland Deutschland zu leisten, hat die FES eine repräsentative Umfrage zu diesem Themenbereich in Auftrag gegeben.
Die Ergebnisse zeigen: Der Blick auf Einwanderung ist weniger aufgeregt, v. a. ist er pragmatisch. So ergab die im November und Dezember 2018 durchgeführte Befragung, dass die Bevölkerung nicht in zwei, von einem tiefen Graben entlang der Migrationsfrage getrennte Gruppen zerfällt. Diese zwei Pole gibt es zwar, ihnen lässt sich jedoch nur jeweils ein Viertel der Befragten zuordnen. Die Hälfte der Deutschen hingegen hat differenzierte Einstellungen zu Migration und Integration und lässt sich als »bewegliche Mitte« beschreiben, die grundsätzlich offen gegenüber Einwanderung ist, aber auch Herausforderungen in diesem Zusammenhang sieht. Dies zeigt, dass die oft behauptete zentrale und generelle Spaltung der Bevölkerung bei diesem Themenfeld nicht existiert. Grundsätzlich sieht eine Mehrheit der Deutschen, dass das Land Einwanderung als Chance begreifen sollte.
In besonderer Weise wird diese Ansicht hinsichtlich des Fachkräftemangels vertreten. Um ihm entgegen zu wirken, braucht Deutschland ausländische Arbeitskräfte, wie 63 % der Befragten denken. Doch auch für das kulturelle und soziale Leben ist Einwanderung eine Bereicherung, glaubt die Hälfte der Deutschen.
Der Schluss liegt also nahe, dass als Tatsache anerkannt wird, dass Deutschland mittlerweile ein Einwanderungsland ist. Dabei zeigen sich überwiegend pragmatische und differenzierte statt eindimensional entgegenstehende Einstellungsmuster. So denken 70 % der Befragten, dass genauso viele oder sogar mehr Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, aufgenommen werden sollten, als es aktuell der Fall ist. Andererseits sprechen sich über die Hälfte der befragten Deutschen dagegen aus, in Zukunft Menschen, die aus »wirtschaftlichen Gründen und vor Armut« fliehen, aufzunehmen. Bemerkenswert ist, wie stark (78 %) die Unterstützung dafür ist, dass gut integrierte und einer Arbeit nachgehende Ausländer_innen in Deutschland bleiben dürfen, selbst wenn sie ausreisepflichtig sind.
Die viel zitierten »Sorgen und Ängste der Bevölkerung« im Zusammenhang mit dem Zuzug von Geflüchteten und Migrant_innen gibt es tatsächlich, auch das geht aus der Umfrage hervor. Doch anders als die öffentliche Debatte suggeriert, beziehen sie sich nicht etwa auf die Kosten der Integration oder auf Konkurrenz um Arbeitsplätze. Angesichts einer guten gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mag das nicht überraschen, doch selbst Befürchtungen auf sozialer und kultureller Ebene wie etwa hinsichtlich Kriminalität, Terror oder dem Einfluss des Islams sind zwar vorhanden, erscheinen aber erst an dritter oder vierter Stelle. Am meisten sorgen sich die Deutschen angesichts des Zuzugs von Geflüchteten und Migrant_innen vor einer Zunahme von Rechtsextremismus, rassistischer Gewalt und einer wachsenden Spaltung der Gesellschaft.
Doch nicht nur die Sorgen der Menschen vor Rechtsextremismus und der Spaltung der Gesellschaft zeigen politischen Handlungsbedarf auf, auch an anderer Stelle wird dies deutlich. Denn oft wirken große Herausforderungen für viele Menschen beunruhigend und werden von diesen als wenig kontrollierbar wahrgenommen. Und tatsächlich traut nicht mal jeder Zweite der Politik zu, die Herausforderungen der Zukunft bewältigen zu können. Diese Politikskepsis zeigt sich auch konkret gegenüber der Flüchtlingspolitik selbst, bei der laut Umfrage eine große Mehrheit der Bevölkerung einen klaren Plan der Bundesregierung vermisst. Aber auch generell verlangen Bürger_innen, abseits der konkreten Fragen in der Flüchtlingspolitik oder der allgemeinen gesellschaftlichen Herausforderungen, politische Zukunftsentwürfe. Denn Politik ist mehr als Verwaltung des Status quo und mehr als die reine Bearbeitung von Herausforderungen. Sie ist darüber hinaus auch immer eine Entscheidung darüber, wie eine Gesellschaft sein will. Das ist ein Teil des freiheitlichen Kerns von Politik. Viel zu lange wurde angesichts der Globalisierung und vermeintlich mit ihr verbundener Sachzwänge der Eindruck erweckt, dass man gesellschaftliche Entwicklungen nicht mehr gestalten kann. Dass mittlerweile fast drei Viertel der Bürger_innen Visionen des Zukünftigen vermissen, sollte zu denken geben.
Auch die Sozialdemokratie wurde lange mit einem Versprechen auf eine bessere Zukunft verbunden. An diese Tradition sollte sie wieder anknüpfen, wenn sie in die Erfolgsspur zurückkehren möchte. Eine Rückkehr zum Willen zur Gestaltung, wie sie sich in den jüngsten programmatischen Änderungen zeigt, ist daher mehr als begrüßenswert. Eine stärkere Handlungsfähigkeit mit einer Richtungsänderung vor allem im Bereich der Integrations- und Migrationspolitik zu demonstrieren, wie es der Sozialdemokratie oft empfohlen wird, wirkt hingegen ausweichend. Ist nach Jahren des neoliberalen Umbaus wirklich eine (vermeintliche) Offenheit gegenüber Geflüchteten und Einwandernden das Problem?
Ansätze für einen sozialdemokratischen Gestaltungsbedarf ergeben sich vielmehr vor allem im fehlenden gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn eine deutliche Mehrheit der Bürger_innen sieht diesen laut der Umfrage schwinden und Egoismen anwachsen. Dass es in einer von Konkurrenz geprägten Gesellschaft zu wenig Anerkennung für Menschen ohne Studienabschluss gibt, beklagt ebenfalls eine Mehrheit.
Aber auch konkreten persönlichen Sorgen der Bürger_innen sollte sich die Sozialdemokratie stärker widmen: So hat mehr als die Hälfte der Bürger_innen das Gefühl, nicht von der wirtschaftlich guten Lage Deutschlands zu profitieren und blickt sorgenvoll in die eigene Zukunft. Gerade vor dem Hintergrund eines teilweise vorhandenen Gefühls des Zukurzkommens, das sich dann auch in Ressentiments gegenüber Geflüchteten äußert oder dies verstärken kann, sollten diese Zahlen alarmieren.
Auch vermeintlich banale Tatsachen wie ein verbreitetes Gefühl der Überforderung durch das hektische Leben und die alltäglichen Anforderungen, sollten zu denken geben. Die beschleunigte Gesellschaft steht nicht nur dem guten Leben und dem Ausüben von Tätigkeiten, die dem Zusammenhalt förderlich sind, entgegen. Auch Empathie gegenüber Geflüchteten und ein Gefühl der Verbindung mit Menschen anderer Herkunft, stellen sich in hektischen Zeiten womöglich schwerer ein. Ein Leben im permanenten Aggressionsmodus, wie es der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa beschreibt, in dem die Welt dauerhaft als Kampfarena erscheint, untergräbt nicht nur Solidarität, sondern verhindert auch den Perspektivenwechsel.
Was ist also die Aufgabe der Sozialdemokratie angesichts dieser Befunde? In Anbetracht der großen pragmatisch und differenziert denkenden Mitte sind polarisierende Ansätze wenig vielversprechend. So ist es für die Sozialdemokratie wie eingangs dargestellt und anders als oft behauptet, weder strategisch sinnvoll noch normativ wünschenswert, sich in der Migrations- und Integrationspolitik weiter rechts zu positionieren. Das bedeutet keinesfalls, die Debatte um Einwanderung den Rechten zu überlassen. Vielmehr geht es darum, dass sich die Sozialdemokratie nicht an der von Rechtspopulist_innen gesetzten Agenda abarbeitet, sondern selbstbewusst eine eigene Richtung vorgibt. Daher darf sie der Bevölkerung auch nicht das Gefühl geben, vorhandene Sorgen nicht ernst zu nehmen. Stattdessen ist die grundsätzliche Offenheit der Bevölkerung durch kluge Politik zu unterstützen, die Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit erweckt.
Letzteres ist nicht zuletzt angesichts der Vielzahl an Herausforderungen nötig, bei denen die Bürger_innen Antworten erwarten. Die pragmatische Offenheit der Bevölkerung für Einwanderung gilt es auch mit einer Stärkung der Rechtsstaatlichkeit zu unterstützen, die für klare Regeln und Prinzipien sorgt, zu denen auch faire und funktionierende Verfahren der Aufnahme von Geflüchteten gehören. Integration lässt sich so gestalten, dass wir alle davon profitieren. Dies geht nicht ohne Konflikte, aus denen wir aber gestärkt hervorgehen und in der offenen Gesellschaft zusammenwachsen können.
Eine sozialdemokratische Erzählung, nach der sich viele sehnen, kann dann aufbauen auf einem verstärkten und inklusiven Verständnis von Solidarität und Republik: »We are all in this together«, so lautete etwa ein Slogan von Bernie Sanders während des Präsidentschaftswahlkampfes 2016 und die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan formulierte es angesichts des Rechtsrucks so: »Es ist unser Land, verteidigen wir es gemeinsam«. Ein besseres Morgen für alle, die hier leben, bekommen wir nur so!
Der Beitrag erschien im Original in der aktuellen Ausgabe von "Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte" 4 / 2019. Ein Blick ins Heft erhalten Sie hier.
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