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Der Integrationsprozess ukrainischer Geflüchteter sollte möglichst schnell starten, meint Dr. Yuliya Kosyakova vom IAB im Interview.
FES: In Ihrer Forschung haben Sie sich intensiv mit Flucht und Integration beschäftigt. In diesem Zusammenhang arbeiten Sie insbesondere mit dem 2016 initiierten Datensatz der IAB-BAMF-SOEP-Befragung, der die Integration der zwischen 2013 und 2019 nach Deutschland geflüchteten Menschen wissenschaftlich begleitet. Welche Erkenntnisse lassen sich hier ableiten?
Dr. Yuliya Kosyakova: Die soziodemografische Komposition der Geflüchteten, die aus der Ukraine kommen, unterscheidet sich stark von der Fluchtkohorte, die 2015 ihren Peek erreicht hatte. Diese war überwiegend geprägt von relativ jungen Männern aus muslimischen Ländern. Heute sind es vor allem Frauen, viele davon mit Kindern, die einen christlich-orthodoxen Hintergrund haben. Insofern ist es schwierig, mit Blick auf die IAB-BAMF-SOEP-Befragung direkte Parallelen zwischen den beiden Fluchtkohorten zu ziehen. Auch könnte der Bildungshintergrund der nun Geflüchteten im Durschnitt besser sein, wenn wir die Bildungsstruktur in der Ukraine berücksichtigen. Ukrainisch oder Russisch weisen sprachgeschichtlich eine größere Nähe zum Deutschen auf, als es bei Arabisch der Fall ist. Das kann den Geflüchteten aus der Ukraine den Spracherwerb des Deutschen, der eine wichtige Stellschraube für den Integrationsprozess ist, erleichtern.
Die große Mehrheit der nun Flüchtenden sind Frauen, sehr viele mit Kindern, wie Sie sagen. Was ergibt sich daraus für den Integrationsprozess?
Für die vielen Mütter unter den Geflüchteten ergibt sich daraus, dass jede Integrationsmaßnahme davon abhängig ist, ob ihre Kinder betreut werden. Gleiches gilt natürlich für die Aufnahme von Beschäftigung.
Wir wissen noch nichts Genaues über das Bildungs- oder Qualifikationsniveau der Personen, die jetzt ankommen, dafür fehlen uns die Daten. Allerdings hat sich unsere Forschungsgruppe das Qualifikationsniveau von Personen aus der Ukraine angeschaut, die bereits in Deutschland leben und hier integriert sind. Hierbei handelt es sich um ukrainische Staatsbürger_innen oder Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft, aber ukrainischer Abstammung. Unsere Analyse zeigt, dass es sich um eine gut gebildete Personengruppe handelt: die Hälfte hat eine abgeschlossene Hochschulausbildung und vergleichbare Abschlüsse, 14 Prozent berufsbildende Abschlüsse und weitere 26 Prozent einen höheren Schulabschluss. Die Deutschsprachkenntnisse sind sehr hoch und die Arbeitsmarktintegration ist ebenfalls fortgeschritten.
Die Frauenerwerbstätigkeit ist bzw. war in der Ukraine vor dem Krieg relativ hoch. Nicht mehr so hoch wie während der Sowjetzeit, als Vollzeiterwerbstätigkeit für alle verpflichtend war, aber Frauen waren am Arbeitsmarkt stark präsent, vor allem im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich.
Letzteres kann einerseits als Integrationsvorteil bewertet werden, weil wir in Deutschland in diesen Bereichen große Fachkräftebedarfe haben. Andererseits sind gerade diese Bereiche des deutschen Arbeitsmarkts relativ stark reglementiert und machen einen beruflichen Wiedereinstieg entsprechend ihrer Qualifikation für die geflüchteten Frauen nicht einfach. Der Beruf der Lehrerin ist hier ein konkretes Beispiel.
Planen Sie und Ihre Kolleg_innen, die sich nun vollziehende Fluchtbewegung wissenschaftlich zu begleiten?
Tatsächlich stehen wir mit unseren Kooperationspartnern BAMF und SOEP in Kontakt, um eine Pilotstudie auf den Weg zu bringen. Diese wird wahrscheinlich erst einmal eine kürzere Version des ausführlichen Fragebogens, den wir sonst verwenden, sein. So könnte man schrittweise den Datenpool erweitern bzw. Daten aus dieser Pilotstudie dann in den Datensatz der IAB-BAMF-SOEP-Befragung überführen. Dies wäre wichtig, um Vergleiche zu der Fluchtkohorte von 2015 ziehen zu können.
Wie gut sehen Sie Deutschland auf die Ankunft der aus der Ukraine flüchtenden Menschen vorbereitet?
Im Vergleich zur Fluchtkohorte von 2015, sieht man jetzt eine ganz andere Größenordnung des Zustroms. Damals hatten wir einen Peek im November 2015 erreicht, wo 200.000 Menschen in einem Monat gekommen sind. Jetzt haben wir das innerhalb von zwei Wochen. Und wie sich die Ströme entwickeln, kann man momentan nicht vorhersagen, das hängt von der Dauer und der Stärke des Konflikts in der Ukraine ab.
Wie 2015 gibt es aktuell großes Engagement von deutschen Ehrenamtlichen. Dieses scheint jetzt sogar noch stärker zu sein, was auf verschiedene Faktoren zurückzuführen ist. Zum einen, dass eine kulturelle Nähe besteht, man fühlt sich näher mit der Ukraine verbunden. Zusätzlich gibt es die geographische Nähe, welche das Gefühl aufkommen lässt man wäre stärker vom Krieg betroffen und auch die soziodemografische Komposition könnte eine Rolle spielen. Es handelt sich um Frauen und Frauen mit Kindern, die eventuell eine größere Unterstützung brauchen bzw. von denen dies angenommen wird.
Dazu kommt: Wir haben durch die in Deutschland lebende ukrainisch-stämmige Bevölkerung ein starkes Netzwerk. Dieses Netzwerk fehlte den Geflüchteten von 2015 in diesem Umfang. Auch ich persönlich gehöre zu diesem Netzwerk und habe meine Schwester und ihren Sohn, die aus der Ukraine fliehen mussten, bei mir aufgenommen. So kann ich aktuell eine ganze Menge „anekdotischer Evidenz“, wie wir persönliche Erfahrungen wissenschaftlich nennen, zu ihrem Ankommen in Deutschland und dem Integrationsprozess sammeln.
Andere Familienangehörige von mir sind in Nachbarländer der Ukraine geflohen, eine Kusine z.B. über Moldawien nach Bulgarien und wieder andere sind in der Ukraine geblieben. Die Menschen sind verzweifelt, viele wollen zurück nach Hause, insbesondere diejenigen, die in Nachbarländern bleiben, aber man kann nicht zurückgehen, vor allem nicht mit kleinen Kindern.
Gibt es eine „anekdotische Evidenz“ mit Blick auf das bisherige Ankommen Ihrer Schwester, die Sie mit uns teilen können, und die uns die aktuellen Herausforderungen verdeutlicht?
Rechtlich gibt es einen großen Unterschied zu 2015, nämlich die Aktivierung der Massenstromregelung, wodurch eigentlich alle den direkten Arbeitsmarktzugang und den Zugang zu Integrationsmaßnahmen haben. Doch auf der Verwaltungsebene scheint das noch nicht ganz angekommen zu sein. Hier gibt es ein Problem in der politischen Kommunikation über alle föderalen Ebenen hinweg.
Ein Beispiel: Ich bin gerade sehr frustriert, da es scheint, dass die Intention vor Ort gar nicht auf der Integration liegt. Bzw. wird auf oberen Ebenen über Integration gesprochen, aber auf mittleren Ebenen spricht man darüber, dass die Geflüchteten vielleicht nicht lange bleiben und wieder zurück in die Ukraine gehen. Auf die Anfragen bezüglich des Integrationskursantrags konnten beispielsweise die Behörden keine Auskunft geben. Die Privatpersonen, die Geflüchtete bei sich aufnehmen, scheinen keine finanzielle Unterstützung zu bekommen, was auf Dauer schwierig wird. Die Geflüchteten, die bei Privatpersonen leben, bekommen zwar Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, eine private Wohnung, so wurde uns zunächst gesagt, sei aber nicht vorgesehen. Das hätte bedeutet, dass meine Schwester und ihr Sohn, wenn ich sie nicht länger hätte aufnehmen können, erst in eine Erstaufnahmeeinrichtung hätten umziehen müssen, um dann von dort aus einer Kommune zugewiesen zu werden. Ihre sozialen Netzwerke wären dabei nicht unbedingt berücksichtigt worden. Dabei wissen wir aus der Forschung, dass soziale Kontakte und die aus ihnen resultierende Unterstützung ganz wesentlich für einen erfolgreichen Integrationsprozess sind. Ich bin sehr erleichtert, dass – entgegen der ersten Auskunft – die Kosten für eine eigene Wohnung für meine Schwester und ihren Sohn von unserem örtlichen Sozialamt nun doch übernommen werden.
Um aber diese grundsätzliche Problematik aufzulösen, muss die Finanzierung bzw. Kostenverteilung zwischen Bund und Kommunen geregelt werden. Solange die Finanzierung vor allem bei den Kommunen liegt, werden die Integrationsmöglichkeiten für die Geflüchteten von Kommune zu Kommune unterschiedlich sein, je nach Finanzlage des betreffenden Wohnorts.
Ich verstehe schon, dass ich große Erwartungen habe, aber andererseits gibt es diese Forschungserkenntnisse, die klar belegen, dass Integration dann am erfolgreichsten ist, wenn sie schnellstmöglich startet. Ich verstehe daher nicht, auf was wir warten. Mindestens bei Personen, die sich integrieren wollen, sollte der Integrationsprozess möglichst früh beginnen.
Können wir denn davon ausgehen, dass die Menschen, die jetzt aus der Ukraine geflüchtet sind, auch langfristig bleiben möchten?
Was wir aus der Forschung wissen ist, dass die Bleibeabsichten höher sind, je weiter man vom Herkunftsland weggeht. Ich würde vermuten, dass die meisten, die keine Bleibeabsichten haben, in direkte Nachbarländer der Ukraine geflohen sind. Diejenigen, die sich doch auf den weiteren Weg in Richtung Westeuropa machen, haben wahrscheinlich höhere Bleibeabsichten.
Migration und natürlich auch Flucht ist sehr kostenreich und das in monetärer und nicht monetärer Art. Wenn wir Deutschland als potentielles Zielland betrachten, ist da erst einmal die ausgeprägte Sprachbarriere. Aus dieser Perspektive ist Polen eines der attraktivsten Zielländer. Da Englisch in vielen Schulen als zweite Fremdsprache gelernt wird, würden viele Geflüchtete aus der Ukraine lieber in englischsprachige Länder gehen oder in Länder wie Italien, in denen ein größeres Netzwerk von Ukrainer_innen lebt. Auch ist die Anerkennung der Abschlüsse in Deutschland schwierig. Um es ökonomisch auszudrücken: Es gibt große Verluste beim Humankapital, dazu die Diskriminierungen und auch eventuell negative historische Erinnerungen, das alles macht Deutschland nicht unbedingt zum ersten Wunschland für Geflüchtete aus der Ukraine.
Aus der Forschung wissen wir aber auch, dass diejenigen, die migrieren oder fliehen tendenziell einer positiv selektierten Bevölkerungsgruppe angehören. Also im Durchschnitt sind Migrant_innen und Geflüchtete besser ausgebildet als die Vergleichsgruppe, die im Herkunftsland geblieben ist oder in Nachbarländer gegangen ist. In der Ukraine ist die Bevölkerung sehr gut gebildet und Frauen sogar etwas besser als Männer. Noch ein wichtiger Punkt ist, je weiter man flieht, desto vorteilhafter aus Sicht des letztendlichen Ziellands ist dieser Selektionsprozess. Das haben wir auch bei den Geflüchteten aus der Fluchtkohorte mit Peek in 2015 beobachten können.
Für die Politik ergibt sich daraus, dass man jetzt auch ganz schnell schauen muss, dass all die Integrationsmaßnahmen, die in der Theorie zugänglich sind, auch praktisch zugänglich gemacht werden. Je länger die Menschen bleiben und je besser sie integriert sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Geflüchteten dauerhaft in Deutschland bleiben wollen. Daher ist es wichtig den Menschen diese Perspektive zu geben.
Ein großes Problem in dieser Hinsicht ist die Verteilung anhand der Wohnsitzauflage, wie wir sie bei der vergangenen Fluchtkohorte teilweise hatten. So wurden Menschen oft in wirtschaftsschwache Regionen geschickt sowie Regionen, in denen es keine die Integration ermöglichende Infrastruktur gibt. Dies sind meist Regionen in denen es zwar viel Wohnraum, aber keine Arbeitsmöglichkeiten oder Kinderbetreuungsmöglichkeiten gibt. Es wäre ein Fehler, wenn man diese Integrationskriterien bei der Integration der Ukrainerinnen und Ukrainer nicht berücksichtigt. Eine klare Politikempfehlung wäre es also von obligatorischen Wohnsitzauflagen abzusehen und zu berücksichtigen, dass Geflüchtete insbesondere dorthin verteilt werden, wo entsprechende Integrationsinfrastruktur zugänglich ist und die Arbeitsmarktlage günstig ist.
In dieser Hinsicht wäre es übrigens sinnvoll, sich noch einmal grundlegende Gedanken zum Königsteiner Schlüssel zu machen, der bei der Verteilung der Geflüchteten nun doch Berücksichtigung finden soll. Dieser sollte sehr viel stärker, als bisher, die Arbeitsmarktsituation vor Ort berücksichtigen.
Welche drei zentrale Botschaften möchten Sie im Zusammenhang mit der Frage der Arbeitsmarktintegration der aus der Ukraine Geflüchteten, v.a. Frauen, an die deutsche Politik richten?
Es ist sinnvoll so schnell wie möglich, mit den Integrationsmaßnahmen zu starten. Das funktioniert bisher noch nicht reibungslos. Mindestens für die geflüchteten Personen, die starten wollen, muss die Möglichkeit geschaffen werden. Am allerwichtigsten sind die Sprachkurse, die frühstmöglich beginnen müssen.
Die zweite Empfehlung betrifft die Verteilung von Geflüchteten im Bundesgebiet. Diese sollte nur erfolgen, wenn Personen nicht privat untergebracht sind – also noch keine sozialen Netzwerke bestehen. Zusätzlich müssen bei der Verteilung unterschiedliche Integrationsaspekte sowie die Arbeitsmarktlage vor Ort berücksichtigt werden.
Die dritte Botschaft kommt aus der Gender-Forschung, denn wir haben nun eine andere soziodemografische Struktur, eine andere Komposition der Fluchtkohorte, nämlich Frauen, viele davon Mütter. Hier ist die Kinderbetreuung besonders wichtig und die damit verbundene Integration von Kindern in das deutsche Kita- und Schulsystem. Und zusätzlich kommen Frauen mit Bildungsabschlüssen im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, bei denen die Qualifikation schwieriger zu transferieren ist und Abschlüsse nicht automatisch anerkannt werden. Es braucht daher beispielsweise berufsspezifische Sprachkursangebote. Es sind aber gerade diese Qualifikationen, von denen Deutschland, wenn die Anerkennung vereinfacht wird, profitieren kann. Denn gerade im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich haben wir große Fachkräftebedarfe.
Vielen Dank für dieses Interview!
Yuliya Kosyakova ist seit April 2016 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am IAB. Hier koordiniert sie (zusammen mit Herbert Brücker) unter anderem die IAB-BAMF-SOEP Befragung von Geflüchteten. Sie studierte Ökonomie (European Economic Studies, MSc) an der Universität Bamberg und schloss 2016 ihre Promotion in Soziologie an dem Europäischen Hochschulinstitut (EUI) in Florenz ab. Zu ihren Forschungsinteressen zählen Migrations- und Integrationsforschung, soziale Ungleichheiten, Geschlechterungleichheiten, und internationale Vergleiche.
Sie wurde in der Ukraine geboren und kam 2002 nach Deutschland. Nach dem Kriegsanfang in der Ukraine ist ihre Schwester Anfang März zusammen mit ihrem Sohn aus Kharkiv geflohen und lebt nun bei ihr.
Ansprechpartnerin in der FES: Susan Javad
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