Welchen Beitrag leisten Migrant_innen zur libyschen Wirtschaft?
Migrantische Arbeiter_innen nehmen in Libyens Wirtschaft eine wesentliche Rolle ein: Sie füllen in von lokalen Arbeitskräften oftmals übergangenen Sektoren Lücken und bedienen somit eine anhaltende Nachfrage an gering qualifizierten Arbeitskräften. In der gemeinsamen Forschung der FES und des MMC berichten die Befragten, während ihres Aufenthalts in Libyens vor allem in Sektoren manueller Arbeit tätig gewesen zu sein, etwa in der Gastronomie (47 Prozent), auf dem Bau (34 Prozent) oder in der Hausarbeit (31 Prozent). Zudem agieren sie als Konsument_innen und kurbeln durch ihre Ausgaben die Wirtschaft vor Ort an. Und durch Geldsendungen nach Hause unterstützen sie ihre Familien in den Herkunftsländern und tragen zu dortigen Entwicklungsbemühungen bei. Neuerdings erkennen die libyschen Behörden den Bedarf an migrantischen Arbeitskräften im Land stärker an und zeigen sich gegenüber einer potenziellen Legalisierung eines bestimmten Aufenthaltsstatus offener, beispielsweise zur Unterstützung des Bausektors.
Was sind für Migrant_innen in Libyen die größten Herausforderungen im Hinblick auf angemessene Arbeit, Lebensbedingungen oder Belastungen wie Menschenrechtsverstöße?
Wenngleich sich in Libyen ein rascher Zugang zum Arbeitsmarkt bietet, kann es eine Herausforderung sein, dort menschenwürdige Arbeit zu finden. Unsere Untersuchungen zeigen, dass die große Mehrheit der Befragten (82 Prozent), die in Libyen Geld verdienten, keinen schriftlichen Arbeitsvertrag hatte und somit ungeschützt war gegenüber Risiken am Arbeitsplatz, Ausbeutung und Missbrauch. Durch informelle Arbeit sind diese Menschen Lohndiebstahl ausgesetzt (66 Prozent), verbalem Missbrauch (60 Prozent), mangelnder Arbeitsplatzsicherheit (49 Prozent), körperlichem Missbrauch (42 Prozent) und beschränkten sozialen Sicherheitsnetzen. 76 Prozent der Befragten verdienten Geld mit Gelegenheitsarbeiten und hatten dadurch kein kalkulierbares Einkommen. Dementsprechend konnten nur 20 Prozent der Befragten ihre Lebenshaltungskosten im Land decken; entscheiden sich Migrant_innen für Libyen als Ziel- oder Transitland, scheinen sich ihre wirtschaftlichen Bestrebungen also überwiegend nicht zu erfüllen.
Sehen sich Frauen zusätzlichen Herausforderungen gegenübergestellt?
Auf dem libyschen Arbeitsmarkt, wo die Beschäftigung von Frauen weiterhin ein Tabu darstellt, steht weiblichen migrantischen Arbeitssuchenden nur eine geringe Bandbreite an Sektoren offen. Unsere Untersuchungen zeigen, dass weibliche Befragte am häufigsten Arbeit in den Bereichen Hausarbeit und Gastronomie fanden. Da migrantische Arbeiterinnen eher in weniger sichtbaren Sektoren arbeiten, erhöht sich ihr Risiko der Ausbeutung, und sie geraten schneller in schutzbedürftige Situationen, etwa Zwangsarbeit, mangelnde Bezahlung, Konfiszierung von Ausweispapieren und geschlechtsbezogene Gewalt. So berichtet fast ein Drittel der befragten Frauen, am Arbeitsplatz sexuelle Ausbeutung oder sexuellen Missbrauch erfahren zu haben.
Welchen Einfluss hat die EU-Politik auf das Leben von Migrant_innen in Libyen?
Die Migrationspolitik der EU wirkt sich hier vielschichtig und häufig nachteilig aus. Die EU konzentriert sich auf die Eindämmung irregulärer Migration und beschränkt dazu Migrationsströme, verstärkt Rückführungen in die Herkunftsländer und lagert Grenzsicherung aus. Wenngleich die menschenrechtliche Situation von Migrant_innen in Libyen durch die Vereinten Nationen scharf verurteilt wurde, schafft es die kurzfristige Eindämmungsstrategie der EU weiterhin nicht, dem Schutz von Migrant_innen und ihrem Bedarf an Unterstützung angemessen nachzukommen. Parallel dazu befördern die mangelnden Investitionen in legale Migrationswege die Nachfrage an Schleusernetzwerken, wodurch sich die irreguläre Migration fortsetzt.
Wie lassen sich vor Ort das Leben und der Schutz von Migrant_innen verbessern, insbesondere von Frauen?
Unsere Untersuchungen weisen Wege auf, wie sich in Libyen ein sichereres und formalisierteres Umfeld für Migrant_innen schaffen ließe. Die libyschen Behörden könnten einen Dialog anführen, um den Wert von Migrant_innen anzuerkennen und deren Arbeitsmarktsicherheit zu verbessern. Durch bilaterale Abkommen mit Herkunftsländern könnten Pfade für reguläre Beschäftigung und den Zugang zum Sozialwesen geschaffen werden. In Regierungsgesprächen müssen migrantische Gemeinden unbedingt mitgedacht werden, und auch die Privatwirtschaft muss etwas beitragen, indem sie für sichere Arbeitsumfelder sorgt und sich für Arbeitsgenehmigungen einsetzt. Ausländische Geber sollten weiterhin den Schwerpunkt auf Schutzmaßnahmen für Migrant_innen legen, während humanitäre Organisationen mit psychologischer Betreuung und mit Informationen zu und Anträgen für Arbeitsbewilligungen unterstützen können. Um sozial besonders schutzlose migrantische Arbeiter_innen zu erreichen – insbesondere Frauen, die als Hausangestellte arbeiten –, sollte man mit Multiplikator_innen und Mittelsleuten migrantischer Gemeinden zusammenarbeiten und hierzu auch mobile Einheiten entwickeln.