Ein Exodus am Vorabend des „Global Compact on Migration“

Was im Oktober als eine Karawane von ein paar Dutzend Migrant_innen aus Honduras begann, die vor politischer Verfolgung flüchteten, wurde schnell zu einer transnationalen Mobilisierung von Tausenden von Familien und Individuen – und zu einer umstrittenen internationalen Debatte um das Recht von Menschen, Schutz vor eskalierender Gewalt und Armut zu suchen. Trotz der offensichtlichen humanitären Sorgen, die eine solche Massenbewegung eigentlich hervorrufen sollte, hat dieser Exodus von Asylsuchenden aus Mittelamerika vor allem  deshalb internationale Aufmerksamkeit bekommen, weil US-Präsident Trump das Schicksal der Migrant_innen ausnutzte, um die einwanderungskritische Plattform seiner Regierung kurz vor den US-Zwischenwahlen zu stärken.

Der Massenexodus hat Tausende Menschen aus Honduras angesprochen, die verzweifelt vor eskalierender staatlicher Repression, erdrückender wirtschaftlicher Ungleichheit, menschenunwürdigen Lebensbedingungen und fortwährenden kriminellen Aktivitäten von Drogenkartellen und Gangs fliehen wollen. Die Vorstellung, zusammen zu fliehen, sich dadurch gegenseitig zu beschützen und außerdem dem organisierten Menschenhandel zu umgehen, übte eine ungeheure Anziehungskraft auf Menschen aus, sich der Karawane anzuschließen. Daher sollte die Karawane auch eher als eine spontane Anpassungsmaßnahme an eine verzweifelte Lage anstelle einer sorgfältig vorbereiteten Aktion verstanden werden.

Während der letzten zwei Jahre haben viele Staaten im Rahmen der Vereinigten Nationen an einem Globalen Pakt für „sichere, reguläre und geordnete Migration“ und „funktionale humanitäre Schutzmaßnahmen“ für Migrant_innen und Geflüchtete gearbeitet. Die gen Norden ziehenden Karawanen von Menschen aus Mittelamerika haben den gähnenden Abgrund enthüllt, der die Welt der Politik, Bürokratie und Diplomatie von der Lebensrealität von Menschen trennt, die einen Weg aus zunehmend katastrophalen Zuständen suchen. Diese Karawane und die negativen Reaktionen, die sie bei Politikern hervorgerufen hat, dient als Mahnung an die politischen Hindernisse, die überwunden werden müssen, um effektive internationale Regelungen zu schaffen. Effektiv in dem Sinne, dass sie die Rechte von Menschen, die sich grenzüberschreitend bewegen, tatsächlich schützen.

Wir, Organisationen und Individuen, die sich für Gerechtigkeit, Fairness und ein besseres Leben für Gemeinschaften überall in Amerika einsetzen, müssen den Blick über diese unmittelbare Krise hinaus lenken und die strukturellen Zustände von Unterdrückung analysieren, die diese untermauern. Am Vorabend der Verabschiedung des Globalen Migrationspakts sind regionalspezifische Perspektiven umso wichtiger, damit die individuellen Herausforderungen unserer Region kontextualisiert werden können und damit die Zukunft, die wir wollen, definiert werden kann.

Strukturelle Herausforderungen

• Wirtschaftliche Ungleichheit, gemessen an der zutiefst ungerechten Verteilung von Einkommen und Wohlstand in den USA, Lateinamerika und dem Rest der Welt. Diese wirtschaftliche Realität wird seit Jahrzehnten durch ein breites Spektrum von öffentlichen Politiken verstärkt.
• Die Dominanz der „white supremacy“ (Weiße Vorherrschaft) als Fundament der meisten Formen von Rassismus weltweit. In den letzten Jahrzehnten haben sich rassistische Vorurteile mit der tiefen Angst und dem Hass vor Fremden vermischt. In vielen Ländern, wie zum Beispiel den USA, wurden in den letzten Jahrzehnten Gesetze erlassen, mit denen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit institutionalisiert wurden.
• Die neu erstarkten Vorurteile auf der Basis von Gender, dem Ausdruck von Gender und sexueller Orientierung, die am Ende einer langen Linie von Patriarchat und Männerherrschaft stehen.
• Das tiefe Misstrauen gegenüber der repräsentativen Demokratie und ihrer Institutionen. Wähler_innen auf der ganzen Welt haben das Vertrauen darin, dass politische Parteien und Regierungen im Allgemeinen Probleme lösen können, verloren. Das Ergebnis ist, dass eine neue Generation von Demagog_innen die legitimen Beschwerden von Menschen ausnutzen und durch das Schüren von Ängsten zu politischer Macht gelangen.
• Eine dominierende Ideologie, die Individualismus über Gemeinschaft stellt und die Idee perpetuiert, dass ein gewinnorientierter Privatsektor die Lösung für alle Probleme der Menschheit bereithält. Diese Ideologie schränkt unsere Fähigkeit ein, uns einen anderen Ansatz für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklungsstrategien und -systeme vorzustellen.

Die Frage der menschlichen Mobilität zieht sich wie ein roter Faden durch all diese Themenfelder. Ein Umdenken in Bezug auf den Wert und die Rolle von menschlicher Mobilität in dem Migrationszyklus, der die Karibik, Mittelamerika und Nordamerika verbindet, muss ein zentrales Element dieses neuen Paradigmas für regionales gemeinschaftliches Wohlbefinden in unserer Hemisphäre werden. Insoweit, als dass die internationale Gemeinschaft mit der Umsetzung eines Globalen Paktes für Migration voranschreitet, muss sie eben auch diese regionalen Herausforderungen miteinbeziehen.

Zehn Wegweiser für Wohlergehen

Die folgenden zehn Gebiete markieren den Weg zu einer langfristig gedachten Vision für die Transformation unserer Hemisphäre. Es bedarf einer Mischung aus Dringlichkeit, Geduld, Druck und Kreativität, um dieses Ziel zu erreichen. Zudem werden sowohl nationale Gesetze als auch effektive regionale und globale Steuerung gebraucht. Diese ersten Wegweiser verstärken sich gegenseitig und, wenn sie gleichzeitig vorangetrieben werden, werden sie uns zu erfüllenden, nachhaltigen und einladenden Gesellschaften führen.

1. Gut ausgebildete Bevölkerung. Angefangen bei der Vorschule bis hin zur Universität, einschließlich technischer Laufbahnen und Ausbildungsberufe: Eine Bildungslandschaft, in der Innovation und Kreativität großgeschrieben werden und gleiche Chancen für alle Mitglieder einer diversen Bevölkerung vorhanden sind.
2. Gesunde Individuen und Familien und eine Politik, die das Recht auf Gesundheitsversorgung garantiert, unabhängig davon wo eine Person geboren wurde oder wo sie lebt.
3. Basisinfrastruktur für menschliches Wohlergehen (Wohnraum, Trinkwasser, Abwasserversorgung, Energie, Zugriff auf virtuelle Netzwerke, etc.) sowie eine robuste öffentliche Wirtschaftsinfrastruktur (Schnellstraßen, öffentlicher Nahverkehr, Flughäfen, Seehäfen, elektrische Energiegeneratoren, etc.) die in einer ökologisch verantwortungsvollen Weise betrieben wird, die die Folgen des globalen Klimawandels abschwächt.
4. Systeme, die Schutz und Sicherheit garantieren und die öffentliches Vertrauen genießen. Jeder Mensch verdient die Chance, ohne Angst vor Verfolgung und Gewalt zu leben. Für alle, die in ihren Heimatländern nicht sicher leben können, müssen wir Richtlinien verfolgen die humanitären Schutz bieten und Schutzsuchende willkommen heißen.
5. Humane, vernunftbezogene und vorausschauende Politiken um menschliche Mobilität zu verwalten und die die Chancen für alle zu maximieren. Außerdem soll die volle, gleichberechtigte und bedeutungsvolle Partizipation von Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund in den Politikspielräumen, die ihr Leben auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler Ebene betreffen, gewährleistet werden.
6. Angemessene, gut bezahlte Arbeit und das Recht auf kollektive Organisation. Das Prinzip von angemessener, würdiger Bezahlung sollte die Basis für alle Beschäftigungsformen sein. Dies schließt traditionell marginalisierte Arbeit wie Hausarbeit, Kinderbetreuung, Seniorenbetreuung und Landarbeit mit ein. Wir anerkennen die Rolle von organisierten Arbeitnehmer_innen beim Ausgleichen von Machtungleichgewichten und für den Schutz der Rechte von Arbeiter_innen.
7. Effektives zivilgesellschaftliches Engagement, das Politikschaffende für diese Ziele zur Verantwortung zieht, und zwar von unten und über Grenzen hinweg.
8. Verantwortungsvolle Umweltpolitiken die die historische Schuld gegenüber People of Colour, Frauen und armen Menschen anerkennen und die auf die kurz- und langfristigen Folgen des Klimawandels eingehen.
9. Gerechte und strenge Steuerpolitiken, die eine gerechte und nachhaltige Entwicklung begünstigen und rücksichtslose Praktiken, die das Allgemeinwohl gefährden, bestrafen.
10. Gute demokratische Regierungspolitiken und -praktiken, inklusive Transparenz und Rechenschaft, auf allen Regierungsebenen. Gute demokratische Praktiken setzen lange vor und nach der Stimmabgabe an der Wahlurne an. Das Erschaffen und Anwenden neuer Mechanismen, um eine neue transnationale Staatsbürgerschaft auszuüben, wird Innovation und Kreativität erfordern.

Erste Schritte für diese Vision

Um diese Ideen von Konzept bis zur Realisierung zu bringen, bedarf es sozialer und politischer Organisation auf allen Ebenen, von lokal zu global. Ein wesentlicher Schritt wird sein, die organisatorischen Kapazitäten von migrantischen Gemeinschaften zu erkennen und zu fördern, damit Mitglieder dieser Gemeinschaften in allen sie betreffenden, entscheidungstragenden Sphären für ihre Rechte einstehen können. Zudem müssen wir zusammen arbeiten und themenübergreifend und grenzübergreifend neue kreative Wege finden. Räume der kollektiven Aktion, so wie das Global Coalition on Migration und Women in Migration Network, können einen nachhaltigen Perspektivwandel bewirken. Diese zehn Wegweiser zeigen uns die Richtung, doch wir werden nicht über Nacht zum Ziel kommen. In der Zwischenzeit sollten wir also jeden Schritt, der uns näher dorthin bringt, wahrnehmen. Somit sollten wir unsere großen Visionen vereinigen und unsere Macht, diese Visionen umzusetzen, vergrößern. Dies ist der Weg zu einer besseren Zukunft für Gemeinschaften in der ganzen Region und auf der ganzen Welt.
 

Autorin:

Amy Shannon ist Senior Beraterin von ALIANZA AMERICAS. Ihre Mission ist ein inklusiveres, gerechteres und nachhaltigeres Leben für migrantische Latino-Gemeinschaften in den USA und in Nord- und Südamerika zu erreichen. Sie arbeitet auf transnationaler Ebene mit Partnern aus Zivilgesellschaft und Regierung, Gewerkschaften und religiösen Gemeinschaften zusammen und hofft, ein würdevolleres und gerechteres Leben für alle Bewohner_innen Südamerikas zu erreichen.