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Aktuell herrschen gute Voraussetzungen um zu einer sachlicheren Debatte und Migrationspolitik zurückzukehren, sagt Marcus Engler vom DeZIM.
Nach der Europawahl wird in den Regierungsparteien intensiv um den weiteren Kurs in der Migrations- und Asylpolitik gerungen. Stimmen nach einer Fortsetzung oder sogar Intensivierung des zuletzt eingeschlagenen restriktiven Kurses wurden laut. Diese Entwicklung birgt Risiken für das Einwanderungsland Deutschland, die internationale normenbasierte Ordnung sowie für die Regierungsparteien selbst. Es wäre wünschenswert, dass die Regierung zu einer langfristig ausgerichteten, evidenzbasierten und chancenorientierten Migrationspolitik zurückzukehrt.
Die übergreifende Logik des Koalitionsvertrags der Ampel besteht darin, Flucht- und Migrationsbewegungen besser zu ordnen und irreguläre Migration in reguläre zu überführen. Das ist ein wichtiges, aber nicht leicht zu erreichendes Ziel. Denn Flucht- und Migrationsbewegungen lassen sich nur partiell steuern. Die Aspirationen und Fähigkeiten zur eigenständigen Mobilität von Schutzsuchenden und anderen Migrant_innen werden in der Migrationspolitik weitgehend ignoriert. Eindimensionale normative Forderungen, wie solche, dass Schutzsuchende sich den Ort des Schutzes nicht aussuchen dürfen, halten einem Realitätscheck nicht stand. Regelmäßig überwinden Schutzsuchende gewaltsame und zunehmend rechtswidrige Abwehrmaßnahmen von Staaten. Sie sind u.a. angetrieben von dem Bedürfnis Schutz zu erhalten, mit Angehörigen zusammenzuleben oder Lebensperspektiven außerhalb von prekären Zuständen in Transitländern zu finden.
Das grundlegende Ziel Migration besser zu steuern, ist keineswegs neu und findet sich seit Jahren in so gut wie allen Regierungsprogrammen. In Abgrenzung zur Migrationspolitik zurückliegender CDU-geführter Regierungen legten die Ampelparteien zu Beginn der Legislaturperiode jedoch ein stärkeres Gewicht auf die Chancen, die mit Einwanderung einhergehen, auf den Respekt von (Menschen-)Rechten, auch an EU-Außengrenzen, und stärker auf Pragmatismus anstelle einer engstirnigen Migrationskontrolldogmatik. Es ist ein gutes Regierungsprogramm, mit einer langfristigen Perspektive.
Kurz nach der Übernahme der Amtsgeschäfte durch die Ampel führte der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zu einer Veränderung der Prioritäten und zu einer Reduzierung von Handlungsspielräumen. Die Aufnahme und Versorgung von rund einer Million Schutzsuchenden aus der Ukraine war eine enorme Kraftanstrengung, die – ähnlich wie 2015 – mit großer Unterstützung der Zivilgesellschaft relativ gut bewältigt wurde. Zugleich kommen seit 2022 auch deutlich mehr Schutzsuchende aus anderen Staaten nach Deutschland, was zu einer starken Belastung der Aufnahmekapazitäten in vielen Kommunen führte.
Trotz dieser Herausforderungen hat die Ampelzentrale Gesetzgebungsprojekte aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt: Das Chancenaufenthaltsrecht, die Weiterentwicklung der Erwerbsmigration und die Staatsbürgerschaftsreform sind darunter die wichtigsten. Zugleich wurde eine intensivierte Migrationsdiplomatie auf den Weg gebracht, einige Migrationsabkommen wurden abgeschlossen, über weitere wird verhandelt.
Es bleibt abzuwarten, wie genau all diese Maßnahmen bei der Erreichung der migrationspolitischen Ziele greifen werden. Denn die Verwaltungen, die mit der Umsetzung dieser neuen Gesetze betraut sind, sind weiter stark belastet. Die neuen Regeln bei der Arbeitsmigration kommen einer kleinen Revolution gleich. Und insgesamt nimmt die Komplexität migrationspolitischer Regeln weiter zu. Dennoch ist zu erwarten, dass die grundsätzlichen Ziele erreicht werden. Es werden mehr Arbeitskräfte aus Drittstaaten einwandern, viele Menschen über das Chancenaufenthaltsrecht eine dauerhafte Lebensperspektive bekommen und mehr Menschen Staatsbürgerschaftsrechte erhalten. Das ist gut für die betroffenen Personen, aber auch für die deutsche Gesellschaft insgesamt.
Zu den realen Herausforderungen mit Blick auf die Schutzsuchenden aus der Ukraine und der Überlastung der Kommunen, kam eine hartnäckige Kampagne gegen Flüchtlinge von CDU/CSU. Diese Kampagne enthält neben verbalen Provokationen auch immer radikalere Forderungen, bis hin zur Abschaffung des individuellen Asylrechts in Europa. In der Flüchtlingspolitik gibt es inzwischen kaum noch erkennbare inhaltliche Unterschiede zwischen Union und den Rechtsextremen. Es ist zu bezweifeln, dass die Union diese Forderungen umsetzen könnte, sollte sie erneut in Regierungsverantwortung kommen. Stimmen von der AfD hat die Union dadurch nicht zurückgewonnen. Erfolgreich war sie allerdings damit, den gesellschaftlichen Diskurs nach rechts zu verschieben, die Ampel unter Druck zu setzen und zu einer Kursänderung zu bewegen.
Eine Zeitlang reagierten die Ampelparteien abwehrend auf restriktive Forderungen. Im Laufe des Jahres 2023 kam es dann in der Regierung zu einer Strategieänderung: Man setzte kommunikativ und gesetzgeberisch stärker auf Restriktionen. Deutlich wurde dies etwa bei der uneingeschränkten Unterstützung der GEAS-Reform, der Einführung von stationären Grenzkontrollen, der drastischen Verschärfung der Rückführungspolitik, der Absenkung von Sozialleistungen für Geflüchtete oder der als Kontrollinstrument konzipierten Bezahlkarte. Dabei bewegte sich die Debatte immer wieder auf postfaktischem Terrain. Wissenschaftliche Erkenntnisse und massive Einwände von Menschenrechtsorganisationen wurden bei Entscheidungen weitgehend ignoriert. Kurzfristige wahltaktische Erwägungen, bei denen Kontrollbotschaften einen zentralen Platz einnahmen, wurden handlungsleitend. Langfristige Strategien gerieten in den Hintergrund.
Seit Ende 2023 beobachten wir einen deutlichen Rückgang bei den Asylantragszahlen und eine gewisse Entspannung in den Kommunen. Die Zahl der Arbeitsmigration aus Drittstaaten steigt, ebenso wie die Zahl der Abschiebungen. Auch die Salienz des Themas war nach dem Höhepunkt im Oktober 2023 spürbar zurück gegangen, zuletzt aber wieder leicht angestiegen. Im Grunde sind das keine so schlechten Voraussetzungen, um zu einer sachlicheren Debatte und zukunftsorientieren Politik zurückzukehren. Doch dann kam die Europawahl, bei der SPD, Grüne und FDP nicht gut abschnitten, während Parteien, die für eine restriktive Migrationspolitik stehen, Stimmengewinne erzielt haben.
Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Rechtsverschiebung fortgesetzt werden oder sogar intensiviert werden sollte, ist jedoch problematisch. Viele Studien zeigen, dass Mitte-Links-Parteien nicht von einer solchen Strategie profitieren. Der Verweis auf den Erfolg der dänischen Sozialdemokraten hält einer genaueren empirischen Analyse nicht Stand. Wenn neben konservativen auch noch Mitte-Links-Parteien auf restriktive Narrative und Entscheidungen einschwenken, zementiert dies einen gesellschaftlichen Diskurs, bei dem Einwanderung v.a. als Sicherheitsproblem oder als Belastung wahrgenommen wird. Genau diese Entwicklung war in den letzten Monaten zu beobachten.
Die Auswirkungen des demografischen Wandels werden immer spürbarer. Bei der Erwerbsmigration verfolgt die Bundesregierung eine doppelte Strategie. Sie intensiviert die rechtliche Liberalisierung und versucht Herausforderungen bei der Implementierung – z.B. Visavergabe – anzugehen. Parallel gibt es intensive Anwerbebemühungen in Drittstaaten. Wie zäh dieser Prozess ist, wurde in den letzten Monaten deutlich. Studien zeigen, dass Deutschland nicht ganz oben auf der Liste der bevorzugten Zielstaaten, vieler potenzieller Migrant_innen steht. Zugleich fühlen sich viele Migrant_innen in Deutschland zunehmend weniger geschützt und entwickeln Auswanderungspläne, wie Analysen des DeZIM-Instituts zeigen.
Der demografische Wandel betrifft viele Industriestaaten gleichzeitig und die Konkurrenz um Arbeitskräfte nimmt weltweit rasant zu. Griechenland führte gerade die 6-Tage Woche ein. Indien schließt Migrationsabkommen mit einer ganzen Reihe europäischer Staaten. Der Mangel an Arbeitskräften wird zum Gamechanger in der Migrationspolitik. Je früher Staaten dies erkennen, desto besser. Neben einer deutlichen Verbesserung der Migrations- und Integrationsinfrastruktur, ist ein positives Einwanderungsnarrativ von großer Bedeutung. Auch wenn toxische Migrationsdebatten sich vor allem auf schutzsuchende Menschen fokussieren, so strahlen sie doch auf die gesamte Einwanderungsdebatte aus. Allerdings sollte bei der Debatte nicht außer Acht gelassen werde, dass es nicht nur um ökonomische Argumente geht, sondern auch um die Verteidigung einer offenen Gesellschaft, in der vielfältige Lebensentwürfe ihren Platz haben. Gleiches gilt für das konsequente Einhalten von Menschenrechten, auch an EU-Außengrenzen. Diese sind kein Luxus, von dem man sich in schlechten Zeiten lösen kann. Sie sind Kernbestandteil einer rechte- und normenbasierten Weltordnung, für die sich die Bundesregierung gar nicht stark genug einsetzen kann.
Sozialdemokratische Entscheidungsträger_innen sollten Narrative und politische Vorschläge, die Migration und Flucht ausschließlich als Bedrohung oder Belastung hinstellen und bei denen Menschenrechte zu einer Fassade verkommen, entschieden zurückweisen und zu einer stärker chancenorientierten Erzählung zurückkehren. Und sie sollten offene Punkte aus dem Koalitionsvertrag umsetzen. Es ist ungewiss, ob die neuen Anstrengungen in der Arbeitsmigration, eine ausreichende Zahl an Menschen nach Deutschland bewegen können, die sich auch langfristig niederlassen wollen. Vor diesem Hintergrund scheint es ratsam, Menschen, die eigenständig nach Deutschland gekommen sind und deren Asylantrag z.B. abgelehnt worden ist, eine zweite Chance zu geben. Das Chancenaufenthaltsrecht ist ein guter Ansatz, der wahrscheinlich aber nicht ausreicht. Weiterhin bestehende Arbeitsverbote sollten endlich fallen. Ausbildungsangebote ausgebaut werden. Solche Ansätze scheinen gerade mit einem sozialdemokratischen Menschenbild gut vereinbar zu sein, bei dem soziale Gerechtigkeit und Aufstiegschancen eine wichtige Rolle einnehmen. Gerade die SPD sollte diese Chance ergreifen.
Dr. Marcus Engler ist Sozialwissenschaftler und forscht seit September 2020 am DeZIM-Institut. Er befasst sich intensiv mit Flucht- und Migrationsbewegungen sowie mit deutscher, europäischer und globaler Flüchtlings- und Migrationspolitik.
Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.
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