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Gezielter und besser koordiniert

Das deutsch-indische Migrations- und Mobilitätsabkommen wird oft als vorbildlich bezeichnet. Das Potenzial ist aber bei weitem noch nicht ausgeschöpft, so Seeta Sharma.


 

Frau Sharma, Indien hat mit einer Reihe von Ländern, darunter auch Deutschland, Migrationsabkommen geschlossen. Was ist der Grundgedanke dieser Abkommen? Und warum lohnen sie sich für Indien?

 

Seeta Sharma: Indien verfügt über eine demografische Dividende mit einem Durchschnittsalter von 28 Jahren und über 600 Millionen Menschen zwischen 18 und 35 Jahren, der weltweit größten Gruppe von Millennials und Gen Zs in seiner Bevölkerung. Im Vergleich dazu verzeichnet Deutschland mit einem Durchschnittsalter von 45 Jahren und etwa 14 Millionen Menschen in der Altersgruppe der 18- bis 35-Jährigen einen Rückgang.

Da Indiens Bevölkerung sehr jung ist und jährlich etwa 10 Millionen neue Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt kommen, kann Indien insbesondere Ländern, die mit demografischen Herausforderungen konfrontiert sind, qualifizierte Arbeitskräfte bereitstellen. Im Gegenzug schafft Indien durch die Unterzeichnung von Migrations- und Mobilitätsabkommen Möglichkeiten für seine Jugend. Aktuell gibt es 20 solcher Abkommen in der ganzen Welt, einige davon sind noch im Planungsstadium.  

Im Allgemeinen ist sich Indien bewusst, dass es insbesondere in den EU-Ländern innenpolitischen Druck gibt, irreguläre Migration zu adressieren und hat daher Maßnahmen ergriffen, um seine ausreisepflichtigen Staatsangehörigen zurückzuführen. Durch die Förderung einer strukturierten regulären Migration will Indien verhindern, dass seine Bürger_innen an den Rand der ausländischen Arbeitsmärkte gedrängt werden. Außerdem soll die indische Diaspora in den jeweiligen Ländern für beide Seiten produktiv genutzt werden, um Partnerschaften zu stärken, Allianzen aufzubauen und Investitionen anzuziehen.

Deutschland ist hier ein gutes Beispiel: Das Land ist mit einem Bevölkerungsrückgang und einem Arbeitskräftemangel in fast allen Sektoren konfrontiert und hat zudem einen hohen Zustrom von Geflüchteten und irregulären Arbeitsmigrant_innen. Derzeit leben über 200.000 indische Staatsangehörige in Deutschland, zum größten Teil hochqualifizierte Fachkräfte und Studierende.

 

Deutschland und Indien haben im Dezember 2022 ein Migrations- und Mobilitätsabkommen unterzeichnet. Welche konkreten Elemente enthält das Abkommen neben den übergeordneten Zielen?

 

Mit dem Abkommen verpflichten sich beide Regierungen, die Mobilität von Personen im Einklang mit den bereits bestehenden nationalen Gesetzen und Richtlinien zu ermöglichen. Es strukturiert den Transfer von Qualifikationen in das Heimatland, eine faire Migration und die Einhaltung der Grundsätze für menschenwürdige Arbeit. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Zusammenarbeit zwischen staatlichen und staatlich finanzierten Organisationen bei der ethischen Rekrutierung qualifizierter Fach- und Arbeitskräfte.

Das Abkommen ermöglicht es diesen qualifizierten jungen Inderinnen und Indern, in Deutschland Berufserfahrung zu sammeln, zu studieren, eine Berufsausbildung zu beginnen oder zu arbeiten, um den dringenden Bedarf an Fachkräften auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu decken. Es regelt die Einreise und den Aufenthalt verschiedener Personengruppen (Studierende, Auszubildende, Ehrenamtliche, Praktikant_innen, Sprachschüler_innen, junge Berufstätige, konzernintern versetzte Arbeitnehmende, Familienangehörige und arbeitssuchende Fachkräfte) in Deutschland. Es enthält auch Angaben zur Dauer des Aufenthalts und zu den Bedingungen, unter denen sie auf dem Arbeitsmarkt tätig werden können. Dies ist eingebettet in einen Rahmen, der Stipendien, Visa für die Zeit nach dem Studium, maßgeschneiderte Informationen sowie Sprachunterricht und Unterstützung vor der Einreise bietet.

Da Indien ein ziemlich großes Land ist, schlägt das Abkommen theoretisch auch bilaterale Vermittlungsvereinbarungen zwischen der Bundesagentur für Arbeit und indischen Bundesstaaten und Regionen vor, insbesondere in den Bereichen Gesundheitswesen, Gastgewerbe, Mechanik und Elektroarbeiten.

Schließlich verpflichten sich Deutschland und Indien in dem Abkommen auch zur Bekämpfung der irregulären Migration und des Menschenhandels, indem sie klare Verfahren für die Rückkehr ausreisepflichtiger indischer Staatsangehöriger vorsehen. Das Abkommen legt konkrete Schritte für die freiwillige Rückkehr von Personen fest und schafft Anreize durch finanzielle Unterstützung und Wiedereingliederungsprojekte. Und es vereinfacht die Verfahren für erzwungene Rückführungen, einschließlich der Dokumentation und der Kostenverantwortung. Dies erweist sich jedoch in der Praxis als schwierig, da der Identifizierungsprozess nicht so einfach ist, wie er klingt. Indien ist bereit, Personen zurückzunehmen, solange tatsächlich nachgewiesen werden kann, dass sie indische Staatsangehörige sind. Daher fördert das Abkommen auch den Austausch von Expert_innen und die Ausbildung von Beamt_innen zur Bekämpfung der illegalen Migration, einschließlich Schulungen zur Erkennung gefälschter Dokumente und zum Austausch von Informationen über Menschenhandels- und Schmugglernetze.

 

Wir haben inzwischen viel darüber gehört, inwiefern Deutschland von diesem Abkommen profitiert. Erfüllt es denn die Erwartungen Indiens? Was könnten beide Länder zur Verbesserung der Umsetzung beitragen?

 

Natürlich bieten diese Abkommen auch enorme Chancen für indische Staatsangehörige.  Auch haben wir uns für eine stärkere Einbindung der indischen Diaspora in Deutschland sowie für eine bessere Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung eingesetzt, sodass auf die ein oder andere Art und Weise auch Kompetenzen nach Indien zurück transferiert werden können.

Für eine erfolgreiche und groß angelegte Umsetzung bleiben jedoch vor allem zwei zentrale Herausforderungen bestehen. Erstens sieht das Migrationsabkommen zwischen Deutschland und Indien keine bevorzugten Einreisebedingungen für Inderinnen und Inder vor, sondern basiert auf  bereits bestehenden Einwanderungsgesetzen für Drittstaatsangehörige – anders als z. B. die deutschen Abkommen mit einigen Balkanstaaten, in denen die Anerkennung von Qualifikationen und Zeugnissen eine viel größere Rolle spielt. Das bedeutet, dass indische Staatsangehörige tatsächlich relativ oft in Anerkennungsverfahren stecken bleiben.

Das bringt mich zum zweiten Punkt. Das Abkommen ist sehr umfassend, aber es muss in der Umsetzung beschleunigt werden. Seit der Unterzeichnung vor etwa anderthalb Jahren wurde das ohnehin niedrige Ziel eines Austauschs von 3.000 Arbeitskräften pro Jahr nicht erreicht. Zum Vergleich: Die USA hat 380.000 Arbeitsvisen für indische Arbeitskräfte und ihre Familienangehörigen ausgestellt. Das heißt, Deutschland hat zwar ein klares Bekenntnis zu diesem Abkommen abgelegt, es könnten aber zusätzliche Maßnahmen erforderlich sein, damit es in der Praxis noch besser funktioniert.

Ich halte es zum Beispiel für sinnvoll, Migrationskorridore einzurichten, die eine deutsche mit einer indischen Stadt oder Region direkt miteinander verbinden. Dadurch könnte man einen klareren Rahmen für potenzielle Migrantinnen und Migranten schaffen und gleichzeitig die Chancen verbessern, dass sich in bestimmten Städten in Deutschland eine Gemeinschaft unter den zugewanderten Fachkräften bildet. Dies würde dann auch dazu beitragen, Deutschland selbst als attraktiven Standort bekannter zu machen. Wir brauchen Erfolgsgeschichten von in Deutschland arbeitenden Inderinnen und Indern, um diese dann in einem größeren Netzwerk verbreiten zu können. Im Moment gibt es keine starke indische Diaspora in Deutschland, weshalb Deutschland als interessantes Zielland oftmals vielleicht gar nicht in Betracht gezogen wird. Die bevorstehende Integration wird durch die Unterstützung einer starken Gemeinschaft vor Ort erleichtert, die aus indischer Sicht in anderen Ländern womöglich stärker ausgeprägt ist.

Ein weiterer Faktor sind die hohen sprachlichen Anforderungen. Indien ist bis zu einem gewissen Grad eine englischsprachige Nation und historisch eng mit Großbritannien verbunden. Vor diesem Hintergrund ist das Erlernen der deutschen Sprache eine zeitaufwändige und kostspielige Alternative für jeden Arbeitnehmer, der sich genauso gut für eine Arbeit in einem Land entscheiden könnte, für die er keine neue Sprache lernen müsste. Daher bin ich überzeugt, dass es von Vorteil wäre, die Sprachanforderungen für die Einreise zu senken und sich zu verpflichten, diese Fähigkeiten dann zu erwerben, wenn die Fachkräfte bereits in einen Arbeitsplatz in Deutschland integriert sind.

Aber das funktioniert natürlich nicht ohne die Anerkennung von Qualifikationen. Dieser Prozess ist in seiner jetzigen Form zu komplex und muss gestrafft werden. Derzeit werden einige zertifizierte deutsche Berufsausbildungsgänge, die in Indien absolviert wurden, in Deutschland nicht anerkannt. Wir brauchen eine bessere institutionelle Struktur, die den Weg für eine gegenseitige Anerkennung ebnet – auch im Hinblick auf die Anerkennung der neu erworbenen Qualifikationen von Inderinnen und Indern bei ihrer Rückkehr nach Indien. Insgesamt müssen die deutschen Interventionen in Indien besser koordiniert werden, auch bei der Herstellung von Verbindungen zurück nach Deutschland, so dass Strukturen institutionalisiert werden, die Mobilität fördern.

Insgesamt sind die Grundlagen zwar solide und das Abkommen hat das Potenzial, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, doch sind eine strukturiertere Zusammenarbeit und gezielte Anstrengungen beider Seiten erforderlich, um das Potenzial besser auszuschöpfen.

 

Das Interview führte Joscha Wendland.

 

 


Zur Person

Seeta Sharma ist eine unabhängige Beraterin und berät das Ministerium für berufliche Qualifizierung und Unternehmertum der indischen Regierung. Die im Artikel geäußerten Ansichten sind ihre persönlichen Ansichten und spiegeln in keiner Weise die Position der indischen Regierung wider.

 

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.

Redaktion

Annette Schlicht
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