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Ein kurzer Überblick über die Geschichte der Privatisierung in der Bundesrepublik seit der neoliberalen Ära unter Margaret Thatcher und Helmut Kohl in den 1980er Jahren und ihre Auswirkungen auf Beschäftigte und Kund:innen bis heute.
Der neue Kanzler war Historiker, kein Wunder also, dass Helmut Kohl sich auf die Geschichte berief. Alle historischen Erfahrungen, so erklärte er im Mai 1983 im Bundestag, würden lehren: „Eine Wirtschaftsordnung ist umso erfolgreicher, je mehr sich der Staat zurückhält und dem einzelnen seine Freiheit läßt.“ (Deutscher Bundestag 1983, S. 57) Kohl war zu diesem Zeitpunkt erst einige Monate im Amt, aber es war keineswegs sein erster verbaler Angriff auf die bisherige Wirtschaftspolitik. Bereits im Oktober 1982, unmittelbar nachdem die sozialliberale Koalition zerbrochen war und der Bundestag ihn zum sechsten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt hatte, betonte der CDU-Politiker, dass er für einen Kurs „weg von mehr Staat, hin zu mehr Markt“ (Deutscher Bundestag 1982, S. 7218) stünde.
Das entsprach dem Zeitgeist: Schon seit einigen Jahren befand sich die keynesianische Wirtschaftspolitik in der Krise, die nahezu alle westlichen Industriestaaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs betrieben hatten und deren Markenzeichen eine starke Rolle des Staats war. Große Teile der Welt erlebten in den 1950/60er-Jahren einen langanhaltenden Boom, weshalb diese Epoche auch als „Goldenes Zeitalter des Kapitalismus“ bezeichnet wird. In Folge des „Ölpreisschocks“ von 1973 und der einsetzenden wirtschaftlichen Stagnation geriet dieses System jedoch in eine Krise. Vielerorts ging die Produktivität zurück, die Inflation stieg und die Staatsverschuldung wuchs. Zahlreiche Staaten erlebten wieder eine Zunahme von Armut und Arbeitslosigkeit. Entsprechend kamen vermehrt Zweifel auf, ob der Keynesianismus zur Bewältigung von Wirtschaftskrisen brauchbar sei.
Auch dank des unermüdlichen Einsatzes konservativer Think Tanks und Stiftungen wurden keynesanische Ideen im öffentlichen Diskurs nach und nach durch Vorstellungen abgelöst, die deren Vordenker:innen wie der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman als „neoliberal“ bezeichneten. Hatten sich zunächst nur Wirtschaftsexpert:innen für diese Theorien interessiert, setzten sie sich bald im globalen Süden und in den westlichen Industrienationen durch. Chile wurde während der Pinochet-Diktatur zu einem Experimentierfeld dieser Politik. Eine weitere Vorreiterrolle nahmen die wirtschaftlichen Großmächte USA und Großbritannien ein, wo der Neoliberalismus ab 1979/80 unter dem Präsidenten Ronald Reagan und der Ministerpräsidentin Margaret Thatcher zum Regierungsprogramm erhoben wurde.
Ein wesentliches Element der einsetzenden neoliberalen Wirtschaftspolitik stellte die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen dar. Prominente europäische Beispiele sind etwa die Industriekonzerne BP und Renault. Hinter der Privatisierungspolitik steckte die Hoffnung, im Falle defizitärerer Betriebe die Staatsfinanzen zu entlasten und Steuereinnahmen zu generieren. Oft argumentierten die Befürworter:innen von Privatisierungen auch damit, dass privatwirtschaftliche Unternehmen effizienter und besser wirtschaften würden als schwerfällige Staatsbetriebe. Hinzu kam ein grundsätzlich gewandeltes Staatsverständnis, betonen die Historiker Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael: „Der Staat sollte gewissermaßen schrumpfen, seine Funktion als konsensstiftender Partner von Kapital und Arbeit aufgeben, sich aus der Kontrolle oder gar der Eigenregie von Unternehmen und Sektoren zurückziehen, vielversprechende Märkte für die private Wirtschaft und den Finanzmarktkapitalismus freimachen.“ (Doering-Manteuffel/Raphael, S. 45)
Die Kohl-Regierung war keineswegs die erste Koalition in Deutschland, die Privatisierungen vornahm. Schon in den 1960er-Jahren verkaufte der Staat Anteile an Volkswagen und der VEBA (Vereinigte Elektrizitäts- und Bergwerks AG). Doch nun, ab Mitte der 1980er-Jahre, nahm die Entstaatlichungspolitik deutlich an Fahrt auf. Es folgten die Privatisierung oder der Anteilsverkauf der Lufthansa, der Salzgitter AG und der Vereinigten Industrieunternehmen AG (VIAG). Auch bei Volkswagen und VEBA ging der Prozess weiter, aus VEBA und VIAG ging später E.on hervor. Kurze Zeit später geriet die öffentliche Infrastruktur ins Visier: Ende der 1980er-/Anfang der 1990er-Jahre wurden das Fernsehen, die Energie- und Wasserversorgung, die Bahn, die Telekommunikation und die Post (teil-)privatisiert. Gleichwohl war die Bundesrepublik in dieser Zeit gegenüber anderen westlichen Industriestaaten noch eine Nachzüglerin, was unter anderem aber auch daran lag, dass es in der Bonner Republik einen eher niedrigen Anteil staatlicher Unternehmen gab.
Die quantitativ größte Welle von Privatisierungen erfasste in der ersten Hälfte der 1990er-Jahren Ostdeutschland und traf nahezu alle Branchen der ehemaligen DDR-Staatswirtschaft: Die extra zu diesem Zweck gegründete „Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums“ (Treuhandanstalt) übertrug 13.000 Volkseigene Betriebe und mehr als 22.000 Geschäfte, Gaststätten und Hotels in private Hände, hinzu kamen mehr als 1.700 Apotheken und jeweils knapp 500 Buchhandlungen und Kinos. Dabei gingen knapp 80 Prozent der ehemaligen DDR-Wirtschaft an Westdeutsche, 14 Prozent an Ausländer:innen und lediglich sechs Prozent an ehemalige DDR-Bürger:innen.
Es folgten in Ost und West weitere Privatisierungswellen, beispielsweise im Gesundheitssektor, bei den kommunalen Wohnungsbeständen oder im Bildungsbereich. Auch unter der seit 1998 amtierenden rot-grünen Bundesregierung gab es keine Abkehr von dieser Politik. Im Gegenteil: Die Privatisierungserlöse lagen während deren Amtszeit (bis 2005) über jenen, die in den acht Jahren nach der Wiedervereinigung realisiert wurden. Zu dieser Zeit wurde etwa die Autobahnraststätten- und Tankstellenbetreiberin Tank & Rast privatisiert und Bundesanteile an den Flughafengesellschaften Hamburg und Frankfurt am Main verkauft. Bis heute hat sich der deutsche Staat von rund 90 Prozent seiner unmittelbaren und mittelbaren Beteiligungen getrennt.
Insgesamt gingen Privatisierungen allerdings sehr unterschiedlich vonstatten. Verschiedene Formen lassen sich hier unterscheiden. Die umfassendste Form ist die „materielle Privatisierung“. Hier übergibt der Staat eine bislang durch die öffentliche Hand erfüllte Aufgabe vollständig in die Hand von Privatunternehmen. Ein Beispiel hierfür ist die Telekommunikation in Deutschland, für die lange Zeit die staatliche Bundespost zuständig war. Heute teilen private Konzerne wie die Deutsche Telekom, Vodafone und Telefónica den Markt unter sich auf. Als „funktionale Privatisierung“ wird derweil der Umstand bezeichnet, dass der Staat private Unternehmen mit Aufgaben betraut, zugleich aber die Verantwortung hierfür behält – etwa bei der Abfallbeseitigung. Public-private-Partnerships (öffentlich-private Partnerschaften) wie beim Neubau des Berliner Stadtschlosses oder der Hamburger Elbphilharmonie fallen ebenfalls in diese Kategorie. Auch bei Schulsanierungen oder dem Ausbau von Autobahnen kam dieses Konzept häufiger zur Anwendung. Die am wenigsten weitreichende Form ist die „formelle Privatisierung“. Dabei wird eine Verwaltungseinheit oder eine Behörde zwar in ein Unternehmen privater Rechtsform umgewandelt, verbleibt dann allerdings in staatlichem Eigentum. Dies ist beispielsweise bei der Transformation der Bundesbahn und der DDR-Reichsbahn in die Deutsche Bahn AG geschehen.
Die Bilanz der Privatisierungen in Deutschland fällt tendenziell negativ aus – zumindest aus der Sicht der Beschäftigten und der Kund:innen. Zwar gibt es durchaus Beispiele dafür, dass bestimmte Güter oder Dienstleistungen günstiger bereitgestellt werden, wenn sie von verschiedenen privaten Unternehmen angeboten werden. Doch das Versprechen eines gesteigerten Service durch private Anbieter ist keineswegs immer eingelöst worden. Deutsche Bahn und DHL gelten vielmehr als Paradebeispiele für schlechte Dienstleistungen bei überhöhten Preisen. Studien haben gezeigt, dass Outsourcing in der Summe oftmals teurer ist, als wenn Dienstleistungen von staatlichen Beschäftigten verrichtet werden. Auch auf dem Wohnungsmarkt macht sich die Privatisierungspolitik ungünstig für die Mieter:innen bemerkbar. Gab es in den 1990er-Jahren noch rund drei Millionen Sozialwohnungen, so sind es mittlerweile nur noch knapp 1,1 Millionen. Gleichzeitig explodierten die Mieten in den Metropolen. Hinzu kommt, dass Privatisierungen viele Arbeitsplätze gekostet haben, allein im Sektor Postdienste der ehemaligen Bundespost sank die Zahl der Beschäftigten von 400.000 (Ende 1980er-Jahre) auf 260.000 (1998). Andernorts wurden sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse durch Minijobs ersetzt. Zudem hat die Entstaatlichungspolitik zu einer Schwächung der Gewerkschaften beigetragen, vor allem durch Tarifflucht und die Zersplitterung in zahlreiche einzeln zu verhandelnde Tarifverträge.
Insofern ist es wenig verwunderlich, dass die Kritik an Privatisierungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark zugenommen hat. Die DGB-Gewerkschaften standen von Beginn an derartigen Umstrukturierungen ablehnend gegenüber. Deutlich wahrnehmbar wurden kritische Stimmen mit dem Aufkommen der globalisierungskritischen Bewegung zu Beginn des Jahrtausends, die verschiedenen Auswüchse neoliberaler Politik ins Visier nahm. Das Netzwerk Attac kritisierte beispielsweise, dass Bereiche öffentlicher Daseinsvorsorge wie das Bildungswesen, Verkehr, der Gesundheitssektor und die Energie- und Wasserversorgung nicht der Marktlogik überlassen werden dürften. Die Finanzkrise von 2008 führte dann zu einem vorsichtigen Umdenken bei der Politik selbst, die seinerzeit den Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate und mehrere Landesbanken verstaatlichte.
Die historische Erfahrung mit weniger Staat scheint also für viele Menschen eine ganz andere zu sein als für Kanzler Kohl in den 1980er-Jahren. Entsprechend sind in verschiedenen Städten Bürger:innen-Initiativen entstanden, die sich für die Rekommunalisierung von privatisierten Unternehmen einsetzten. In Berlin wurde beispielsweise 2013 nach einem Volksentscheid der Teilverkauf der Wasserbetriebe rückgängig gemacht, im selben Jahr rekommunalisierte die Stadt Hamburg die Energienetze. Es hat den Anschein, als sei die Geschichte der Privatisierungen mittlerweile an einem Wendepunkt angelangt.
Dr. Marcel Bois, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg
Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 10. Wahlperiode, 4. Sitzung, 4.5.1983.
Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 9. Wahlperiode, 121. Sitzung, 13.10.1982.
Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte, Göttingen 2008.
Norbert Frei/Dietmar Süß (Hg.): Privatisierung. Idee und Praxis seit den 1970er Jahren, Göttingen 2012.
Thomas Handschuhmacher: „Was soll und kann der Staat noch leisten?“. Eine politische Geschichte der Privatisierung in der Bundesrepublik 1949–1989, Göttingen 2018.
Jana Mattert/Laura Valentukeviciute/Carl Waßmuth: Gemeinwohl als Zukunftsaufgabe. Öffentliche Infrastrukturen zwischen Daseinsvorsorge und Finanzmärkten, Berlin 2017.
Florian Mayer: Vom Niedergang des unternehmerisch tätigen Staates. Privatisierungspolitik in Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland, Wiesbaden 2006.
Detlef Sack: Vom Staat zum Markt. Privatisierung aus politikwissenschaftlicher Perspektive, Wiesbaden 2019.