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Welche Konzepte für eine Neugestaltung des Care-Regimes benötigt werden. Ein Beitrag von Barbara Thiessen.
Bild: von picture alliance / Bildagentur-online/Tetra
Die Metapher von Corona als Brennglas, das alle bereits vorhandenen Krisenphänomene, Ungleichheitsstrukturen und Diskriminierungseffekte verstärkt und unübersehbar macht, ist schon oft bemüht worden. Tatsächlich wird nun der Zusammenhang von Gender und Care Gegenstand öffentlicher Debatten. Unübersehbar geworden sind die unzumutbaren Beschäftigungsbedingungen in der Pflege und verschiedenen sozialen Berufen. Die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung im Privaten – ein Klassiker feministischer Debatten seit über einhundert Jahren – wurde zum Thema. Und sichtbar wurde auch die prekäre Arbeit von migrantischen 24h-Pflegekräften und deren Familien in den zumeist osteuropäischen Herkunftsländern. Als krisenuntauglich haben sich zudem die in den letzten 30 Jahren eingeführten neoliberalen Finanzierungskonzepte in Gesundheits-, Bildungs- und sozialen Diensten erwiesen. Dort wo die Erwirtschaftung von Renditen im Mittelpunkt steht, hat der gesundheits- und sozialpolitische Auftrag das Nachsehen.
Sozial- und Gesundheitswissenschaftler_innen mit kritischer Genderperspektive forschen seit vielen Jahrzehnten zu diesen Themen. Bereits 2013 hat sich eine länderübergreifende Initiative (care-macht-mehr.com) gegründet, um im interdisziplinären Austausch Analysen und Befunde auszutauschen, zu bündeln und in öffentliche Debatten einzuspeisen. Hierzu haben wir 2013 ein Manifest verfasst, das – damals noch notwendig! – den Care-Begriff erläutert, die Care-Krise beschreibt und Perspektiven für eine sozialverträgliche und geschlechtergerechte Neugestaltung von Care einfordert. Damals haben wir konstatiert:
Auch wenn derzeit einzelne Themen öffentlich verhandelt werden (Kita-Ausbau, Pflegenotstand, Burnout etc.), sind grundsätzliche Lösungen nicht in Sicht. Das Ausmaß der Krise zeigt sich erst, wenn alle Care-Bereiche zusammen gedacht werden.
Nun ist die Not unübersehbar. Aber: Diejenigen, die Care leisten, werden zwar als „systemrelevant“ sichtbar und beklatscht, sind aber in den Krisenstäben und Expertengremien gar nicht oder nicht angemessen vertreten. Und es treten grundlegende Fragen zutage: In der noch andauernden Pandemie wird einmal mehr deutlich, dass zum Menschsein nicht nur der Wunsch nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gehört, sondern auch Verletzlichkeit und Angewiesenheit. Menschen können – in jedem Alter – ohne Care nicht (über-)leben. Frauen sind als Care-Gebende sowohl in Familien als auch in Care-Berufen überproportional aktiv. Dass Care-Tätigkeiten in beiden Bereichen sinnstiftend und erfüllend sein können, entdecken auch immer mehr Männer. Allerdings führt dies nicht automatisch zu einem Ende von Geschlechterhierarchien.
Es ist daher höchste Zeit und gute Gelegenheit, Gesundheits-, Sozial- und Wohlfahrtssysteme sowie Geschlechter- und Familienpolitiken und somit die Gesamtheit von Care-Arbeit auf den Prüfstand zu stellen. Benötigt werden Konzepte für eine gesellschaftlich solidarischere Organisation und Finanzierung von Care-Arbeit. In einem Positionspapier haben wir als Initiative care-macht-mehr.com erste Arbeitspakete vor dem Hintergrund unserer Forschungen zusammengestellt, die an einigen Stellen exemplarisch auf die besondere Situation in den drei Ländern Deutschland, Österreich, Schweiz Bezug nehmen. Aus dem Positionspapier werden hier nur einige Aspekte kurz skizziert.
Neben der Einführung von Care-Mainstreaming in ökonomischen und sozialpolitischen Planungsprozessen, um bei allen politischen Maßnahmen die Auswirkungen auf Menschen, die Care-Verantwortung tragen, die Care-Tätigkeiten leisten oder die Care benötigen, als verpflichtende Dimension bei Entscheidungen mit zu berücksichtigen, ist Daseinsvorsorge als öffentliche Aufgabe neu zu bestimmen.
Über die Bezahlung in Care-Berufen ist bereits viel diskutiert worden. Es genügt allerdings nicht „mehr Lohn“ zu fordern, sondern es braucht eine angemessene Tarifierung von Care-Arbeit, die den spezifischen Anforderungen der Tätigkeiten entspricht. Hier liegen seit 40 Jahren ausgearbeitete Modelle der Arbeitsbewertung vor, die sowohl Beziehungskompetenzen als auch die unmittelbare Verantwortung für Menschen einbeziehen. Wesentliche Beiträge zur Debatte um die Aufwertung von „Frauenberufen“ sind auch in der FES entstanden (Stiegler 1994, Gumpert/Möller/Stiegler 2016).
Die Auswirkungen von Digitalisierung auf Care-Berufe und Care-Qualität für Betroffene stehen bislang wenig im Fokus der Debatten um Care. Statt digitaler Rationalisierungs- und Standardisierungsprozesse, die unter Ökonomisierungsdruck vorangetrieben werden, braucht es eine geschlechtergerechte und diskriminierungsfreie Technikentwicklung, bei der care-erprobte Entwickler_innen mit Klient_innen in partizipativen Verfahren digitale und virtuelle Angebote sowie Care-Robotik konzipieren, die menschliche Interaktion und Kommunikation ermöglichen statt zu ersetzen.
Was die Corona-Krise zeigt ist, dass Nachbarschaften eine wichtige Ressource für das Alltagsleben sind. Um lebendige Caring Communities zu fördern braucht es daher neue Modelle für Stadt- und Regionalplanung und eine Wohnbaupolitik, die finanzierbare Wohnräume für vielfältige Lebensgemeinschaften ermöglicht.
Beteiligungsmodelle, die Selbst- und Mitbestimmungsrechte von Care-Empfänger_innen ernst nehmen, sind bislang kaum vorgesehen. Im Zuge der Corona-Maßnahmen wurden freiheitsbeschränkende Entscheidungen in Institutionen, etwa Besuchs- und Ausgangsverbote, ohne die Einbeziehung von kontrollierenden Instanzen getroffen. Das darf sich nicht wiederholen. Die Mitbestimmung an allen Entscheidungen, die Care-Empfänger_innen betreffen, müssen daher umfassend verankert werden. Das heißt auch, dass Nutzer_innen mit ihrer Expertise in die Entwicklung von Konzepten und Maßnahmen aktiv einbezogen werden. Dazu braucht es Teilhabe fördernde Strukturen und Prozesse wie Selbstvertretungsorgane in Einrichtungen, partizipative Hilfe- und Sozialplanung.
Weitere Hinweise zu Arbeitsbedingungen und Zeitpolitik finden sich in unserem Papier. Der kommende Großputz wird nur zu bewerkstelligen sein, wenn alle – gerade auch die unterschiedlichen Interessensgruppen – zusammenwirken. Wir als Initiativkreis von Forscher_innen können sozial- und gesundheitswissenschaftliche Expertise liefern. Aber es braucht zusätzlich Fachwissen aus der Praxis, von Nutzer_innen und Beteiligten aus allen Care-Bereichen: Pflege, Betreuung, Versorgung, Erziehung, Beratung, Soziale Arbeit. Unverzichtbar sind dabei die Wohlfahrtsverbände, Verwaltungen, Gewerkschaften und Initiativen, die sich mit einzelnen oder übergreifenden Care-Themen befassen. Die alte ‘Normalität’ der Entwertung von Care-Arbeit wollen und können wir nicht fortsetzen.
Literatur
Gumpert, H., Möller, E., Stiegler, B. (2016): Aufwertung macht Geschichte. Die Kampagne der Gewerkschaft ÖTV zur Aufwertung von Frauenarbeit (1990–2001), 8.1.21
Stiegler, B. (1994): Berufe brauchen kein Geschlecht: Zur Aufwertung sozialer Kompetenzen im Dienstleitungsberufen, 8.1.21
Thiessen, B., Weicht, B., Rerrich, M.S., Luck, F., Jurczyk, K., Gather, C., Fleischer, E. & Brückner, M. (2020). Großputz! Care nach Corona neu gestalten. Ein Positionspapier zur Care-Krise aus Deutschland, Österreich, Schweiz, 8.1.21
Das unterschätzte Fundament der deutschen Volkswirtschaft. Ein Beitrag von Dr. Uta Meier-Gräwe.
Corona in Deutschland aus der Genderperspektive. Ein Überblick über verfügbare Forschungsergebnisse.
Warum es endlich einen Care-Gipfel im Bundeskanzleramt braucht. Ein Beitrag von Dr. Uta Meier-Gräwe.
In der Coronakrise sind die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit laut. Doch werden sie auch gehört? Ein Beitrag von Paula Daza.
A feminist response must address four key areas: bodily autonomy, ecological sustainability, the care economy, and just financial flows.
Dr. Johannes Crückeberg
030 26935-8332Johannes.Crueckeberg(at)fes.de
Marcus Hammes
0228 883-7149Marcus.Hammes(at)fes.de