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Vor 75 Jahren – sechs Wochen vor Verabschiedung des Grundgesetzes – trat das Tarifvertragsgesetz in Kraft. In den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurden im Westen Deutschlands staatliche Strukturen neu aufgebaut. Auch die Gewerkschaften, die sich in dieser Zeit neu organisierten, waren darum bemüht, ihre zentralen Anliegen in diesen Wiederaufbauprozess einzubringen. Das künftige Wirtschaftssystem, die Sozialisierung zentraler Wirtschaftsbereiche, die Fragen von Betriebsverfassung oder auch Mitbestimmung wurden für die Gewerkschaften zu wichtigen Themen dieser Jahre. Die Erneuerung des Tarifwesens, mit dem Tarifvertragsgesetz vom 9. April 1949 als Höhepunkt, war ein zentrales Feld dieser gewerkschaftlichen Arbeit.
Mit der Befreiung Deutschlands im Mai 1945 begann auch der Wiederaufbau der deutschen Gewerkschaftsbewegung, die sich in „einheitsgewerkschaftlicher Form“ neu organisierte. Der Verlauf dieser Entwicklung war durch die unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen der westlichen Besatzungsmächte geprägt: Während in der britischen Zone ein zonenweites System mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund als Dachorganisation entstand, ließen die US- und französischen Alliierten in ihren Zonen nur Strukturen zu, die einen Gewerkschaftsaufbau auf Ebene der Bundesländer möglich machten.
Der Umstand, dass die Gewerkschaften in der britischen Zone mit Hans Böckler (1875-1951) eine Leitfigur und mit Nordrhein-Westfalen, speziell mit dem Ruhrgebiet, eine Region mit verdichteter industrieller Struktur hatten, führte dazu, dass von hier die stärksten gewerkschaftspolitischen Impulse ausgingen. Hans Böckler arbeitete dafür mit Hans Carl Nipperdey (1895-1968) zusammen, der bereits vor 1945 Hochschullehrer im Zivil- und Arbeitsrecht war und eine unrühmliche Rolle bei der Gleichschaltung der Betriebe nach 1933 spielte. Trotz alledem avancierte er zum arbeits- und verfassungsrechtlichen Berater der Gewerkschaften. Im Zentrum gewerkschaftlichen Wirkens standen die Forderung nach einer Verankerung gewerkschaftlicher Interessen in den Länderverfassungen, der Entwurf eines Tarifvertragsgesetzes im Vereinigten Wirtschaftsgebiet und das Einbringen von Ansichten des Verfassungsausschusses des Gewerkschaftsrates in die Verhandlungen des Parlamentarischen Rates.
In den Westzonen begann – unter Beteiligung der Alliierten – der Aufbau staatlicher Organisationen auf Länderebene. Die Länderverfassungen erhielten in Anlehnung an die Artikel 156 und 165 der Weimarer Reichsverfassung Abschnitte zum Themenbereich „Arbeit und Wirtschaft“. In Artikel 165 der Weimarer Reichsverfassung hieß es zum Beispiel, dass „die Arbeiter und Angestellten dazu berufen sind, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken.“
Die Koalitionsfreiheit, die später in Artikel 9, Abs. 3 ihren Einzug ins Grundgesetz fand, bekam auch Raum in den meisten Landesverfassungen. In der hessischen Landesverfassung wurde beispielsweise in Artikel 29 die Rechtmäßigkeit des Streikrechts und das Verbot von Aussperrung festgeschrieben. In Artikel 41 ging man sogar soweit, dass die Sozialisierung in den Bereichen Bergbau, Eisen, Stahl, Energie und Verkehr gefordert wurde.
In dieser Zeit befanden sich die deutschen Gewerkschaften in der Zwickmühle, einerseits die Sozialisierung, also die Überführung von Privateigentum in Staatseigentum in weiten Teilen der deutschen Wirtschaft zu fordern, andererseits – u.a. durch Unterstützung des Marshall-Plans – direkt Hunger und Elend der deutschen Bevölkerung zu mildern. So erklärte Hans Böckler Ende September 1947 nach seiner Rückkehr vom Besuch eines britischen Gewerkschaftskongresses, dass er sich in seinen
„Ausführungen auf das energischste gegen dieses Ansinnen großkapitalistischer Kreise gewandt und ausdrücklich betont habe, dass die Gewerkschaften nur im alleräußersten Fall, d. h. nur dann, wenn das deutsche Volk vor die Alternative gestellt würde, die Sozialisierung des Bergbaus zu vertagen oder auf den Ausbau seiner Wirtschaft zu verzichten, die Vertagung dem Verhungern vorziehen würde. Aber auch in diesem Fall würden die Gewerkschaften den Kampf um die Sozialisierung mit gesteigerter Energie fortsetzen.“ (Eine Klarstellung des Kollegen Böckler, in: Der Bund, 27.9.1947).
So trat gegenüber den Diskussionen um Wirtschaftsdemokratie oder Betriebsverfassung die Frage des Neuaufbaus des Tarifsystems zunächst in den Hintergrund. Den Verfassungen nachgeordnete Gesetze wie beispielsweise das „Betriebsrätegesetz für das Land Hessen“ vom 26. Mai 1948 oder auch das am 6. August 1948 erlassene Gesetz zur Sozialisierung des Kohlebergbaus wurden aber dann letztlich durch die Besatzungsmächte nicht zugelassen. Hier spielte eine entscheidende Rolle, dass den Besatzungsmächten eigene liberale Wirtschaftssysteme näher waren als eine durch Sozialisierungen geprägte Ordnung.
Im „Vereinigten Wirtschaftsgebiet“, das die USA und Großbritannien durch Zusammenlegung ihrer Zonen im Januar 1947 geschaffen hatten, fand 1947/48 mit Währungsreform und Teuerungswellen ein starker wirtschaftlicher Umwälzungsprozess statt. Der von alliierter Seite verordnete Lohnstopp (bis 3. November 1948) verschärfte die Versorgungslage auf Seiten der Arbeitnehmer_innen weiter. Für die Gewerkschaften erhöhte dies die Bereitschaft zu Streiks. Anfang Februar 1948 hatte die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) in der britischen Zone einen Generalstreik ausgerufen, mit dem gegen die geringere Lebensmittelzuteilung der Angestellten gegenüber den „Schwerarbeitern“ protestiert wurde. Ein Generalstreik, über den spontan von Delegierten einer Gewerkschaftskonferenz der Großstädte der Rhein-/Ruhrregion diskutiert wurde, konnte von Hans Böckler, Christian Fette und Werner Hansen gerade noch verhindert und so ein Konflikt mit den Besatzungsmächten abgewendet werden.
Der dann für den 12. November 1948 ausgerufene Generalstreik war nicht nur Reaktion auf die Lebenslage der deutschen Arbeitnehmerschaft, sondern spiegelte auch das schwierige Verhältnis zwischen Wirtschaftsrat, mit dem Direktor des Wirtschaftsamtes Ludwig Erhard, und den Gewerkschaften wider. Im Vorfeld kam es zu kontroversen Diskussionen zwischen Alliierten, Wirtschaftsrat und Gewerkschaften. Am Abend des 8. November 1948 trat Hans Böckler vor die Presse, um zu berichten, dass die Militärregierungen gegen den geplanten Streik keine Einwände geäußert hätten, weil die Aktion gewerkschaftlich, nicht aber politisch motiviert sei. Trotz kurzfristigen Rückzugs der Gewerkschaft der Eisenbahner vom Streik beteiligten sich sieben bis neun Millionen Arbeitnehmer_innen am Generalstreik.
Während die Gewerkschaften ihre Forderung nach einer grundlegenden Umgestaltung der Wirtschaftsordnung nicht durchsetzen konnte, gab es wichtige Weichenstellungen im Tarifwesen. Anders als in der Frage des künftigen Wirtschaftssystems waren sich alle politischen Akteure (Alliierte, Parteien, Arbeitgeber und Gewerkschaften) einig, dass die Wiederherstellung eines freiheitlichen Tarifsystems Ziel sein sollte. Die Arbeitsverwaltung des britischen, später auch des Vereinigten Wirtschaftsgebietes forderte hingegen ein System, das ein stärkeres Eingreifen des Staates in das Tarifgeschehen (z.B. durch die Einrichtung eines Tarifregisters, die materielle Prüfung oder die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen) ermöglichen sollte.
In den Gewerkschaften war die Diskussion um die Ausgestaltung der Tarifpolitik nach 1945 stark geprägt durch die Rückbesinnung auf die Zeit vor 1933 und die Offenheit der Frage um ein künftiges deutsches Wirtschaftssystem, dessen Ausgestaltung auch einen maßgeblichen Einfluss auch auf das neue Tarifwesen gehabt hätte. Bereits ein Jahr nach Kriegsende, am 22. Mai 1946 erließ die Alliierte Kontrollbehörde eine Verordnung, die Tarifverträge zur Regelung von Löhnen und Arbeitsbedingungen ausdrücklich gestattete:
„Tarifverträge über Löhne und andere Arbeitsbedingungen können zwischen Gewerkschaften oder deren Verbänden einerseits und Arbeitgebern oder deren Verbänden andererseits abgeschlossen werden. Solche Verträge können alle Fragen umfassen, die sich auf das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, auf Arbeitsbedingungen und Löhne beziehen, einschließlich auch derjenigen Fragen, welche durch bereits in Kraft befindliche Tarifordnungen geregelt sind.“ (Anordnung der Militärregierung für Bayern. Verordnung über Abschluss und Inhalt von Tarifverträgen, vom 22. Mai 1946, in: Amtsblatt. ArbMin. 1946, S. 75).
In dem bereits im August/September 1947 für den DGB von Hans Carl Nipperdey verfasstem Gutachten zu den „Grundsätzlichen Forderungen zum Abschnitt ‚Arbeit und Wirtschaft‘ in den neuen Landesverfassungen“ (DGB-Archiv im AdsD, 5/DGAC000460) wurden auch die unbeschränkte Koalitionsfreiheit, das Streikrecht der Gewerkschaften, die Tarifautonomie und ein Verbot der Zwangsschlichtung zu zentralen Forderungen. In einer gemeinsamen Sitzung der arbeitsrechtlichen, lohn-, sozial- und wirtschaftspolitischen Ausschüsse des DGB der britischen Zone am 10. März 1948 nahm Nipperdey – als Arbeitsrechtler freier von ideologischer Festlegung – gegen den konstruierten Gegensatz zwischen Tarifhoheit und Wirtschaftslenkung Stellung, trat für einen freien Tarifvertrag ein und erklärte eine Beschränkung der Vertragsautonomie für gefährlich.
Nipperdey wurde in der Folgezeit mit dem Entwurf eines Tarifvertragsgesetzes beauftragt, den er am 6. April 1948 vorlegte. Zentral war in dem dann überarbeiteten Entwurf, dass ein Tarifvertrag nicht durch eine Betriebsvereinbarung ausgehebelt werden konnte. Der Gewerkschaftsrat der amerikanischen und britischen Zone reichte den Entwurf im September 1948 an die Arbeitsverwaltung weiter. Die SPD-Fraktion im Wirtschaftsrat brachte aber den überarbeiteten Entwurf zeitnah als Initiativantrag ein. So nahm man – in Übereinstimmung mit den Arbeitgebern – der Arbeitsverwaltung das Heft des Handelns aus den Händen, verhinderte so eine zeitliche Verschleppung des Gesetzes im „Verwaltungsdschungel“. Am 9. und 10. Oktober 1948 wurde das Gesetz in 2. und 3. Lesung ohne Gegenstimmen beschlossen. Es trat jedoch erst am 9. April 1949 mit der Veröffentlichung im Gesetzblatt in Kraft, weil die späte Genehmigung der Besatzungsmächte dies verzögert hatte.
Der Umstand, dass das Tarifvertragsgesetz noch vor dem Grundgesetz, das in Artikel 9 die Vereinigungsfreiheit 9 als Grundrecht festschrieb, verabschiedet wurde, zeigt jedoch, welche Bedeutung der Vorabklärung eines tarifpolitischen Systems beigemessen wurde.
Hubert Woltering
Das AdsD ist ein zentrales Archiv, wenn man sich mit dem Wiederaufbau der deutschen Gewerkschaftsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt, auch wenn für die Jahre 1945 bis 1949 die Überlieferung teils lückenhaft ist. Im DGB-Archiv, das sich seit 1995 als Sonderarchiv im AdsD befindet, machen hier die Bestände „Deutscher Gewerkschaftsbund (Britische Zone)“ [5/DGAC…] und „Gewerkschaftsrat der vereinten Zonen“ [5/DGAB…] eine Ausnahme. Hinzu kommen beispielsweise die Nachlässe von Hans Böckler, Erich Potthoff oder Viktor Agartz. Auch wenn kein geschlossener Organisations- oder Personenbestand vorhanden ist, bringt die Recherche zu zentralen Namen oder Begebenheiten dieser Jahre weitere Treffer.
Ebenfalls hohe Bedeutung kommt den Beständen der Bibliothek im AdsD zu, da sich hier die Vorläufer der DGB-Wochenzeitung Welt der Arbeit finden lassen. Als Beispiel seien Der Bund, Der Badische Gewerkschaftler oder auch die Die Württembergisch-Badische Gewerkschafts-Zeitung genannt. Hinzu kommen natürlich die Kongressprotokolle, Geschäftsberichte und weitere Publikationen der gewerkschaftlichen Organisationen 1945 bis 1949.
Michael Kittner: Arbeitskampf. Geschichte, Recht, Gegenwart, München 2005.
Jürgen P. Nautz: Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland. Das Tarifvertragsgesetz vom 9. April 1949, Frankfurt a.M. u.a. 1983.
Reinhard Bispinck/Thorsten Schulten (Hg.): Zukunft der Tarifautonomie. 60 Jahre Tarifvertragsgesetz: Bilanz und Ausblick, Hamburg 2010.
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