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Mit Gewerkschaften besser raus aus Covid-19 – Ein Zurück in den „Normalzustand“: weder möglich noch erwünscht

von Norbert Kluge



Nach dem Einbruch kommt der Aufbruch: In Deutschland hat die Bundesregierung dafür ein gewaltig ausgestattetes Konjunkturpaket vorgelegt. Für Europa sehen wir die gleiche große finanzielle Anstrengung – ein Recovery-Programm, dass sich zumal aus eigenen EU-Mitteln refinanzieren soll (sprich aus den bis dato von einer politischen Mehrheit geschmähten Euro-Bonds). 

So verständlich und notwendig „die große Welle“ auch ist: Besteht Klarheit darüber, wohin wir „aufbrechen“ wollen? Wer und wie kümmert man sich quasi unterhalb der großen politischen Linien später ums „Kleingedruckte“, wenn es um die Umsetzung der Mittel in konkrete Maßnahmen und Projekte geht? Wie stellen wir sicher, dass Bürger_innen sich als Arbeitnehmer_innen an der Gestaltung der Post-Corona-Arbeitswelt proaktiv beteiligen können; sie also als Subjekte verstanden werden und nicht bloß als Adressat_innen zur Anpassung an die vorgegebenen neuen Bedingungen?

Solidarische Lösungen gewinnen neue Anerkennung

 „Gewerkschaften können ein Revival erleben. Es besteht die Chance, dass Gewerkschaften besser aus der Krise hervorgehen als zuvor“, so formuliert der österreichische Gewerkschafter Wolfgang Greif seine These beruhend auf den Beobachtungen in seinem Land. Neoliberal geprägte Lösungsvorschläge der vergangenen Jahrzehnte haben erkennbar an Plausibilität verloren. Solidarische Lösungen haben wieder größere Anerkennung gewonnen. Aber zahlt das bessere öffentliche Ansehen gewerkschaftlicher Prinzipien auch auf die Organisationsmacht der Gewerkschaften ein? Der Ausnahmezustand gibt Raum für die Renaissance staatlicher Handlungsfähigkeit. Menschen nehmen wahr, dass die große Politik etwas tut für sie – aber fühlen sie sich dadurch auch aufgefordert und ermuntert, selbst aktiv zu werden?

Das Beklatschen der Leistungen in den sogenannten Systemberufen, vor allem in den Gesundheitsberufen, ist kaum verstummt, da regt sich vereinter Widerstand, vor allem der Arbeitgeber_innen, das auch in bessere Arbeitsbedingungen und in höhere Löhne umzumünzen. Hinzu kommt: Der Ruf danach, schnell die aufgehäuften Schulden wieder abzubauen, wird von konservativer und liberaler Seite schon wieder hörbarer. Die ersten Opfer einer solchen Politik wären mit Sicherheit diejenigen, die schon vor dem Ausbruch der Pandemie unter sozialer Ungleichheit und Mangel an Einkommen litten. Müssen sich Gewerkschaften darauf einstellen, dass sie alle Kraft auf die absehbaren neuen sozialen Verteilungskämpfe richten müssen, während der demokratische Aufbruch zu neuen Ufern für ein besseres Arbeitsleben und Wirtschaften unter die Räder kommt?

Der Sinneswandel ist da – und doch bleibt Skepsis angebracht

Und Europa? Wirtschaftliche Prosperität als Voraussetzung für das soziale Europa und bessere Klimaperspektiven lassen sich nur über ein europäisches Gemeinschaftsprojekt schaffen. Auf den ersten Blick scheinen die Weichen richtig gestellt zu sein. Insbesondere das EU-Programm Next Generation und der kommende mittelfristige EU-Finanzplan, im Zusammenwirken mit den Anstrengungen des schon vor der Pandemie von der EU-Kommission postulierten Green Deal, spiegeln einen grundlegenden Sinneswandel insbesondere im makroökonomischen Verständnis europäischer Wirtschaftspolitik wider: Wenn die reicheren EU-Mitgliedstaaten ihre Möglichkeiten nicht mit den ärmeren teilen, verlieren am Schluss alle. Vor wenigen Monaten noch Mindermeinung, gehört dieser Satz inzwischen zum Allgemeingut politischer Proklamationen.

Allerdings bleiben die europäischen Gewerkschaften einstweilen skeptisch, angesichts der nach wie vor bestehenden Besetzung von europäischen Schlüsselpositionen durch liberale Politiker_innen und der anhaltenden Zögerlichkeit der europäischen Politik, endlich der Vollendung des Binnenmarkts auch die entsprechenden Schritte für ein sozialeres Europa mit dem Ausbau der sozialen Rechte und der stärkeren arbeitsmarktlichen Gestaltung unter Einbeziehung der Sozialpartner folgen zu lassen. Das aber wäre bitter nötig: Denn dem EU-Binnenmarkt ist längst de facto ein mehr oder weniger unregulierter gemeinsamer europäischer Arbeitsmarkt gefolgt. Die neu eingerichtete Europäische Arbeitsbehörde ist der erste richtige Schritt.

Was steht für die Arbeitnehmer_innen auf der europäischen Agenda?    

Covid-19 wirkt wie eine Steilvorlage, die bisherige Erfolgsgeschichte von Gewerkschaften zu erneuern. Festgefügte Strukturen brechen auf. Fenster für neue Diskurse und Handlungsmöglichkeiten öffnen sich. Wer in einer solchen Lage der Verunsicherung Orientierung herstellen und in Struktur umsetzen kann, der ist dabei. Im Ausnahmezustand schlägt die Stunde des Krisenkorporatismus. Mitbestimmung sorgt dafür, bei allen Unterschieden der rechtlichen Vorgaben und Praktiken in den EU-Mitgliedstaaten, dass Unternehmen eben nicht nur den Shareholder_innen eindrucksvolle Renditen bescheren. Sie hat mehr im Blick als Börsenwert, Dividende und Investorenrendite. Sie steht für ein breiteres Verständnis von Unternehmensführung, das sich am nachhaltigen Erfolg des Unternehmens ausrichtet.

Ob Klimawandel, erodierender gesellschaftlicher Zusammenhalt, digitaler Wandel oder exzessiver Finanzkapitalismus: Wir brauchen mehr denn je solche zuverlässig arbeitenden Mechanismen der Aushandlung guter und fairer Lösungen, die durch Beteiligung der Arbeitnehmer_innen auf Augenhöhe erzielt werden.

Es ist gut, dass die Arbeitnehmerseite heute starke soziale Signale in der vielstimmigen politischen Landschaft Europas setzt. Arbeitnehmer_innen wollen sich nicht einfach als Opfer und Objekte für Krisenanpassung klassifizieren lassen. Über ihre Gewerkschaften, den Europäischen Gewerkschaftsbund (ETUC) und auch die europäischen Branchengewerkschaften, sind sie als ernsthafter politischer Akteur in Europa anerkannt, weil sie hörbar und hartnäckig ihre Stimme in der politischen Meinungsbildung der Europäischen Union erheben: Wie kann und soll ein guter Weg raus aus der Pandemie gefunden werden, der keine neuen sozialen Schlagseiten entstehen lässt oder als Krisenfolge einfach hinnimmt? In ihren Augen wird der ausgerufene Green Deal ohne einen substanziellen Social Deal kein erfolgreiches Projekt der europäischen Zivilgesellschaft werden. Es geht um ein besseres und nachhaltigeres Arbeitsleben, an dessen Gestaltung Arbeitnehmer_innen proaktiv beteiligt sind. Denn sie werden in absehbarer Zukunft nach wie vor aus ihrer Hände Arbeit ihr Einkommen beziehen müssen. 

Der „New Economic Deal“, der sich aus den Vorschlägen der Gruppe der Arbeitnehmer im europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ergibt, fängt ganz unten an, an den Arbeitsplätzen, in den Betrieben und in den Regionen. Hier entstand die Solidarität, gemeinsam und gesellschaftlich gewinnbringend aus der Krise herauszufinden. Es ist deshalb unsere Verpflichtung, die Macro-Wolke der großen Worte, Programme und Summen wieder zu verlassen und aus den – virtuellen – Verhandlungssälen Europas ins reale Leben zurückzukehren. Bei allem Wohlwollen: Auch von den Regierungen Deutschlands und Frankreichs sind keine Geschenke an die Arbeitnehmerschaft zu erwarten. Es ist daher unsere Aufgabe, aus unseren konkreten Erfahrungen zu Hause auf europäischer Ebene die Anforderungen an ein neues sozialeres und ökologisches Europa Im Detail zu schildern und zu adressieren. Jede politische Maßnahme aus Europa sollten wir dann auch daran messen. Der ETUC hat die Aufgabe der Zeit in ein griffiges Bild gebracht – es geht um „More Democracy at Work“.
 


Über den Autor

Dr. Norbert Kluge ist Gründungsdirektor des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung Düsseldorf, Mitglied des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) Brüssel.


Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.

 

 


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