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Die FES-Publikation "African Voices from the Ground" trägt die Erfahrungen von Betroffenen aus vier afrikanischen Ländern zusammen.
Bild: von Jose Palazon / Global Post
Migration und Flucht stellen Länder in Afrika nicht erst seit der sogenannten Flüchtlingskrise vor Herausforderungen. Während sich die mediale Aufmerksamkeit hierzulande auf die Bekämpfung von Fluchtursachen fokussierte, blieben die eigentlichen Betroffenen in dieser Diskussion meist ungehört. Die FES-Studie „African Voices from the Ground“ trägt die Erfahrungen von Betroffenen aus vier afrikanischen Ländern – Äthiopien, Mali, Senegal und Südafrika – zusammen. Neben Migrant_innen wurden dazu Akteure aus der Zivilgesellschaft sowie afrikanische Regierungsbeamte befragt. Welche Motive stecken hinter Migrationsentscheidungen? Wie werden die Risiken eingeschätzt und gegen den Nutzen abgewogen? Welche Vorstellungen von Europa haben die Menschen, die sich auf den gefährlichen Weg machen?
Die Hoffnung auf ein besseres Leben ist das Leitmotiv für alle Menschen mit Migrationswunsch. Dahinter steht meist eine schlechte wirtschaftlichen Situation im jeweiligen Herkunftsland. In allen untersuchten Ländern gaben die Befragten an, dass die finanzielle Unsicherheit und hohe Arbeitslosigkeit im eigenen Land in Verbindung mit der Hoffnung auf ein besseres Einkommen im Ausland die Hauptgründe für ihre Migrationsentscheidung sind. Viele treibt der Wunsch nach einem sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg an – das gilt besonders für junge Menschen. So gehen junge Äthioper_innen fest davon aus, dass sich ihre Einkommen durch die Migration ins Ausland verbessern. Ähnliches gilt für junge Menschen aus Mali, die mit dem eigenen sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg auch eine Verbesserung für ihre Familien verbinden.
Neben wirtschaftlichen Aspekten ist der Zugang zu besserer Bildung und Austausch ein wichtiges Motiv vieler Befragter. So gaben insbesondere junge Menschen in Südafrika an, dass sie internationale Erfahrung sammeln wollen. Das Gleiche gilt für Mali. Über Stipendien erhalten junge Malier_innen zunehmend die Möglichkeit, im Ausland zu studieren. Dies äußert sich beispielsweise in dem Anteil malischer Studierender in Frankreich, der über die letzten 20 Jahre erheblich angestiegen ist. Dagegen waren für Menschen, die nach Südafrika geflüchtet sind, Krieg, Verfolgung, politische Instabilität aber auch häusliche Gewalt und Armut in ihren Heimatländern auschlaggebend für ihre Migrationsentscheidung.
Frauen gaben zudem an, dass sie der Unterdrückung, ständigen Belästigungen und dem Missbrauch in ihren Herkunftsländern entkommen wollen.
Jeder Migrationsentscheidung geht eine intensive und oftmals langwierige Abwägung von Risiko und Nutzen voraus. Das von Politik und Medien diskutierte Modell der Push- und Pull-Faktoren (anziehende und treibende Kräfte) greift meist zu kurz, um die komplexen Entscheidungsprozesse und dahinter liegenden Motive nachzuvollziehen.
Krankheiten, Hunger sowie physische und psychische Gewalt sind nur einige der Risiken, die Migrierende auf sich nehmen. So ist mehr als einem Fünftel der befragten (männlichen) Äthiopier sehr bewusst, dass die Migration tödlich enden könnte. Daneben werden weitere Risiken wie Ausbeutung und rassistische Gewalt im Zielland erwartet. Erwartungen zu schwindenden Chancen auf Arbeitsvisa für europäische Länder werden ebenfalls miteinkalkuliert. Diese werden gegen die Chancen und Risiken der informellen Migration nach Europa gestellt.
Menschen sind sich der Gefahren und Risiken ihres Vorhabens größtenteils bewusst. Sie verfolgen daher gezielt Strategien, die diesen Risiken entgegenwirken. Knapp zwanzig Prozent der Befragten aus Äthiopien gaben an, sich mittels Sprachtraining oder Recherche über die Reise und das Zielland intensiv auf die Migration vorzubereiten. Unabhängig vom Herkunftsland sind Netzwerke im Zielland eine der wichtigsten Risikominderungsstrategien. Verwandte, Freunde und Bekannte helfen dabei, das Ankommen und die Integration zu erleichtern. Schon bevor sich Menschen auf den Weg machen, werden diese von ihrem Netzwerk über mögliche Schwierigkeiten und Herausforderungen auf ihrer Route aufgeklärt. Sobald Migrant_innen das Zielland erreicht haben, können Netzwerke zum Beispiel bei der Wohnungs- und Arbeitssuche helfen, aber auch bei Rechtsfragen auf ihre gebündelten Erfahrungen und Ressourcen zurückgreifen.
In Mali, wo bereits die Übersetzung von Migration („tunga“, wörtlich übersetzt: Abenteuer) mit Gefahr assoziiert wird, sind Gebete und Glücksbringer ein ständiger Wegbegleiter vieler Migrant_innen. Auch im Senegal wird Talismanen und mystischen Glücksbringern ein hoher Stellenwert beigemessen. Einige Senegales_innen wenden verhältnismäßig hohe Mittel auf, um sich vor der Migration nach Europa vom „Marabout“, einem hohen muslimischen Geistlichen, beraten zu lassen. Davon versprechen sie sich eine sichere Ankunft im Zielland. Ungeachtet ihrer tatsächlichen Wirkung können diese Praktiken dabei helfen, Ängste abzuschwächen und den Migrierenden positive Gefühle zu vermitteln. Diese für Europäer_innen vielleicht schwer nachvollziehbare Maßnahme kann von Migrant_innen sehr wohl als eine Risikominderungsstrategie angesehen werden.
Oftmals bündeln Familien all ihre Mittel, um einem Familienmitglied die Migration zu ermöglichen. Nicht selten sind sie fest in die Entscheidung eingebunden – so wie auch spirituelle oder religiöse Persönlichkeiten. Hier wird erneut deutlich, dass das bereits zuvor thematisierte Modell der Push- und Pull-Faktoren nicht ausreichend ist, um die Komplexität der Entscheidungsfindung abzubilden. Nicht selten werden die Migrierenden in der Entscheidungsfindung in Netzwerken in eine passive Rolle gedrängt.
Migration stellt in allen untersuchten Regionen eine Strategie dar, nicht nur die eigene Situation, sondern auch die der Familie und der Gemeinschaft zu verbessern. Sogenannte Rücküberweisungen (Remittances) sind für viele Migrant_innen eine Art Solidarbeitrag für das Unterstützernetzwerk im Herkunftsland. Solche Geldtransfers haben sich für viele Familien zu einer wichtigen und unerlässlichen Einkommensquelle entwickelt. Natürlich entsteht damit ein hoher sozialer Druck auf die Migrant_innen, auf deren Schultern die Hoffnungen ganzer Gemeinschaften lasten. Diese Erwartungshaltungen macht eine Rückkehr im Falle eines „Scheiterns“ so gut wie unmöglich. Für Länder wie dem Senegal machen Rücküberweisungen fast 10% des Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes aus. Das Zurücksenden von Bargeld bringt jedoch weitere Veränderungen mit sich. So zeigt sich in Mali, dass die soziale Anerkennung immer stärker mit finanziellem Besitz verbunden ist. Während früher ein voller Getreidespeicher von hohem Status zeugte, sind es heutzutage vermehrt Besitztümer wie Motorräder oder Fernseher.
Auch an zurückgekehrte Migrant_innen besteht eine hohe Erwartungshaltung innerhalb der Gemeinschaft. Von ihnen wird häufig erwartet, Wissen und Erfahrungen gesammelt zu haben, die für das direkte Umfeld von Vorteil sein können. Man erhofft sich von ihnen, Innovationen in das Herkunftsland zu bringen und die Gemeinschaft durch eine Talentzuwanderung (Brain-Gain) positiv zu beeinflussen. So gehen Befragte davon aus, dass sie ihre im Zielland erworbenen Erfahrungen und finanziellen Ressourcen beispielsweise dafür nutzen könnten, um in ihrem Heimatland ein Unternehmen aufzubauen und so zur sozialen und ökonomischen Entwicklung ihrer Familie beizutragen.
Das utopische Bild Europas, das medial und über Netzwerke vermittelt wird, muss immer vor dem Hintergrund der gefühlten Aussichtslosigkeit von Menschen in den Herkunftsländern betrachtet werden. Für die migrierende Person ist die Migrationsentscheidung durchaus rational begründbar, basierend auf der täglich erlebten Erniedrigung durch korrupte Behörden und menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen. Die über soziale Medien vermittelten Bilder von Europa sprechen die Hoffnung vieler junger Menschen auf ein würdevolles Leben in Freiheit an. Auch wenn die Lebensrealität im Zielland nicht selten ein Leben in Unsicherheit und ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen ist, so schaffen es Migrant_innen, ihre Familien im Herkunftsland substantiell zu unterstützen und damit das positive Bild Europas teilweise zu bestätigen. Sensibilisierungskampagnen, die versuchen, ein allzu negatives Bild vom Leben in Europa zu vermitteln, wirken dagegen wenig glaubwürdig.
Durch den Einbezug von bisher unterrepräsentierten Stimmen verhilft die Studie dazu, neue Perspektiven auf das Thema der Migration darzulegen. Sie trägt dazu bei, Motive für Migration, Erwartungshaltungen von Migrant_innen und ihrem Umfeld sowie damit verbundene Entwicklungen in Herkunfts- und Zielländern besser zu verstehen. Auf dieser Grundlage formuliert der Autor eine Reihe an Empfehlungen, wie mit der vielschichtigen Herausforderung von Migration langfristig und nachhaltig umgegangen werden kann. Diese richten sich vor allem an Regierungen der untersuchten Länder, an zivilgesellschaftliche Organisationen und an die Europäische Union.
Insbesondere wird für eine generelle Stärkung der Zusammenarbeit der Regierungen Afrikas und Europas plädiert. Um den Menschen nachhaltige Alternativen zur Migration zu bieten, sollen Arbeitsmöglichkeiten vor allem dort geschaffen werden, wo die Migrationsraten am höchsten sind. Dies soll weiterhin gewährleisten, dass Familien und Gemeinschaften nicht getrennt werden. Auch der verbesserte Schutz von Frauen ist ein Aspekt, der in Zusammenarbeit der EU mit afrikanischen Regierungen und Akteuren aus der Zivilgesellschaft angegangen werden soll. Gemeinsam muss daran gearbeitet werden, treibende Migrationsfaktoren für Frauen zu vermindern.
Weitere Synergien könnten durch Programme und Strategien erreicht werden, die legale Migration ermöglichen und einen Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt erleichtern. Mit Hilfe solcher Maßnahmen würde der potenzielle Transfer von Fähigkeiten und Erfahrungen zurück in das Heimatland begünstigt werden. Der Autor plädiert darüber hinaus für eine Unterstützung seitens der zurückgekehrten Migrant_innen in Form eines Beratungs- und Nachbereitungsangebot, um dem Druck durch das soziale Umfeld zu begegnen. Legale Einreisemöglichkeiten könnten dazu führen, dass eine zirkuläre Migration zwischen Afrika und Europa nicht zum Erliegen kommt. Viele Migrant_innen würden ihren Visa-Zeitraum überschreiten, da sie befürchten, nach ihrer Rückkehr in ihre jeweiligen Heimatländer nicht wieder nach Europa einreisen zu können. Erwartungssicherheit und unbürokratische Visa-Prozeduren können helfen, einen effektiven Erfahrungsaustausch zu gewährleisten, von dem beide Kontinente profitieren.
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass auch die Zusammenarbeit mit spirituellen Führern wichtige Ansätze zur Aufklärung bezüglich Krankheiten wie AIDS oder auch der Bildung von Frauen liefern konnten. Ähnliche Formen der Zusammenarbeit könnten dazu beitragen, insbesondere Jugendliche hinreichend über die existierenden Gefahren und Risiken der Migration hinzuweisen.
Generell seien „Informationskampagnen“ zu überdenken. Es habe sich gezeigt, dass individuelle „Erfolgsgeschichten“ von Migrant_innen, die es in die EU geschafft haben, eine wesentlich stärkere Wirkung haben als abstrakte Hinweise auf Gefahren und Risiken. Die (materiellen) Vorteile der Familien jener Migrant_innen, die regelmäßig Geld nach Hause schicken, lassen alle Warnungen verblassen. Angesichts der teilweise religiösen Überzeugung, dass die Reise nach Europa der einzige Ausweg sei, müssen „Informationskampagnen“ ein ausgewogenes Bild der Risiken und Chancen zeichnen, um gehört zu werden.
Weiterhin sieht der Autor die EU in der Pflicht, sich verstärkt mit den Grundursachen von Migration zu befassen. Maßnahmen der EU, wie beispielsweise die Schaffung beziehungsweise Förderung von Arbeitsplätzen im Heimatland können zwar wirtschaftliche Anreize schaffen. Sie richten sich dabei allerdings an die Symptome und nicht an die verursachenden Faktoren von Migration. Solange keine Gute Regierungsführung (Good Governance) gewährleistet ist, die die Ursachen von Migration adressiert, werden Förderprogramme für Wirtschaft und Beschäftigung nur eingeschränkte Beiträge leisten können. Weiterhin plädiert der Autor dafür, Entwicklungszusammenarbeit und Fluchtursachenbekämpfung strikt zu trennen. Viele Maßnahmen könnten dabei helfen, eine sozial gerechte Entwicklung von Regionen zu unterstützen, ohne dabei einen (kurzfristigen) Einfluss auf Flucht- und Migrationsbewegungen zu haben. Vor allem das Knüpfen von Entwicklungszusammenarbeit an die Bereitschaft Grenzen zu sichern sei kontraproduktiv und schüre nur zusätzlich den Migrationswunsch vieler junger Menschen in den betroffenen Ländern.
„African Voices from the Ground“ liefert das Analyseinstrumentarium, um lokale Faktoren von Flucht und Migration zu begreifen. Der einzigartige Ansatz dieser Studie kann dabei helfen, regionale Besonderheiten zu berücksichtigen und den Umgang mit Migrationsfragen zu bereichern. Denn afrikanische Perspektiven und Stimmen sind nach wie vor im europäischen Migrationsdiskurs unterrepräsentiert. Dabei kann das Einbeziehen von afrikanischen Migrationsexpert_innen dabei helfen, Vorurteile und Missverständnisse zu beseitigen und die Vorteile von Migration für beide Kontinente zu entfalten. Ein regelmäßiger und faktenbasierter Austausch zwischen Entscheidungsträger_innen der Afrikanischen und Europäischen Union kann zu einem besseren Verständnis der Komplexität der Materien beitragen. Es bleibt jedoch problematisch, dass Migration immer noch primär als sicherheitsrelevantes Thema wahrgenommen wird. Staaten sehen in Migrations- und Fluchtbewegungen zuerst eine Bedrohung der nationalen Sicherheit und versuchen ihre Grenzen zu sichern. Ein derartiger Ansatz wird Migration aber weder stoppen können noch nutzt er die Chancen, die sich durch die Neuankommenden bieten. Vielmehr sollte die bestehende technische Unterstützung durch einen politischen Dialog komplementiert werden, der nicht nur nationale Vorbehalte adressiert und Misstrauen abbaut, sondern auch die positiven Aspekte von Migration für die Gesellschaften herausstellt.
Abdalla, Amr
Motives, benefits and managing risk of migration towards Europe / Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), Institute for Peace and Security Studies (IPSS) ; [Author: Amr Abdalla, Ph.D.]. - Addis Ababa : Friedrich-Ebert-Stiftung ; IPSS, [2019]. - 18 Seiten = 40 MB, PDF-File. - Electronic ed.: Addis Ababa : FES, 2019ISBN 978-99944-74-03-5
Zum Download (PDF) (40 MB, PDF-File)
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