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Foundational Economy Collective: Die Ökonomie des Alltagslebens

Für eine neue Infrastrukturpolitik. Berlin: Suhrkamp (2019)

Preisträger_innen 2020 des Hans-Matthöfer-Preises für Wirtschaftspublizistik

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Kurzgefasst und eingeordnet von Frederik Beck
Frederik Beck Frederik Beck hat in politischer Ökonomie promoviert und arbeitet zum Thema Wertschöpfung der Zukunft beim SPD-Parteivorstand. 


buch|essenz

Kernaussaugen

Fundamentalökonomie meint alle physischen und sozialen Infrastrukturen, die alltägliches Leben und produktives Wirtschaften erst ermöglichen: Stromnetze, Wasserleitungen, Schulen, Krankenhäuser, wohlfahrtsstaatliche Leistungen. Sie werden meist nur beachtet, wenn sie ausfallen.

Die Politik sollte diese Güter und Leistungen allen Bürger_innen zur Verfügung stellen. Dazu müssen

  • die Bürger_innen stärker eingebunden werden,
  • Unternehmen mit sozialen Betriebslizenzen auf das gesellschaftliche Wohl verpflichtet werden.
  • die Steuersysteme umgebaut und
  • neue Allianzen geschmiedet werden.

Dieser Umbau der Gesellschaft zum Wohle aller sollte mit Experimenten auf lokaler Ebene beginnen.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Digitaler Kapitalismus und Finanzmärkte erscheinen heute als natürliche, unumstößliche Ordnung. Nur: Sie sind es nicht. Die Perspektive der Fundamentalökonomie erinnert daran, dass sie politisch gemacht sind, formbar bleiben, trotz allem. Sie zeigt, dass Unternehmen eingebettet sind in gesellschaftliche Netze. Ohne Arbeiter_innen und staatliche Vorleistungen gehen sie ein wie Blumen ohne Wasser. Progressive Kräfte wissen das – vergessen es aber bisweilen. Sie sollten mit diesem Argument die Machtfrage neu stellen: Wessen Unternehmung die öffentliche Sache berührt, hat besondere Pflichten. Eine neue, demokratisch ausgehandelte Wirtschaftsverfassung für den digitalisierten Finanzkapitalismus – das wäre was.


buch|autor_innen

 

Das Buch ist von einem britisch-italienisch geprägten Kollektiv von Autor_innen verfasst. Das Kollektiv möchte jenseits der Mainstream-Ökonomie neu nachdenken, wie Wirtschafts- und Finanzpolitik aussehen sollen. Informationen zum Kollektiv finden Sie hier.


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buch|inhalt

Die (Wieder-)Entdeckung des Fundamentalen

Wirtschaftspolitik hat oft einen engen Blick: früher Industriezweige, dann National Champions, in den letzten Jahren schillernde Start-ups. Die Fundamentalökonomie beschreibt hingegen die wenig beachteten Teile der Wirtschaft, ohne die unser alltägliches Leben nicht funktionieren würde: Schulen, Kinderbetreuung, Pflegeheime sowie die Versorgung mit Wasser, Strom und Medizin.

Die fundamentalökonomische Sphäre lässt sich mit drei Kriterien abgrenzen:

  •     Ihre Güter und Dienstleistungen werden von allen Bürger_innen täglich benutzt.
  •     Sie werden unabhängig vom Einkommen benutzt.
  •     Sie werden meist über Versorgungsnetzwerke oder Filialnetze bereitgestellt.

Fundamentalökonomie: Bereiche

Die Fundamentalökonomie lässt sich weiter in zwei Bereiche aufteilen.

Erstens die materielle Fundamentalökonomie. Sie „besteht aus den Rohren und Kabeln, Versorgungs- und Filialnetzen, die jeden Haushalt mit den unverzichtbaren Dingen des Alltags verbinden – Wasser, Strom, Bankdienstleistungen, Lebensmittel“ (S. 65). Diese Grundstrukturen entscheiden darüber, ob es einer Gesellschaft im Ganzen überhaupt gut gehen kann. Wanken sie beispielsweise, weil Wasser knapp oder die Stromversorgung unterbrochen ist, drohen Krisen. Zugleich sind sie politisch besonders begehrt: Bei Privatisierung winken dauerhafte und hohe Gewinne.

Zweitens die providentielle Fundamentalökonomie (aus dem Engl. to provide with bzw. for, „versorgen mit, sorgen für“). Sie umfasst die meist vom Staat bereitgestellten Leistungen wie medizinische Grundversorgung, Bildung und die sozialen Sicherungssysteme.

Je nach Definition sind in den hoch entwickelten Ländern zwischen einem Drittel und der Hälfte der Arbeitnehmer_innen in der Fundamentalökonomie beschäftigt (Deutschland 41,3 Prozent, Großbritannien 43,8 Prozent, Italien 36,9 Prozent).

Strukturen

Fundamentalökonomische Strukturen entstehen, wenn „soziotechnische Innovationen“ (S. 80) mit politischen Mehrheiten zusammenfallen, die diese neuen Infrastrukturen durchsetzen. Die Errungenschaften verteidigen sich nicht von selbst, sondern bleiben umkämpft. Das zeigt ihre Geschichte: In der ersten, „heroischen“ (S. 81) Phase ab ca. 1850 entstehen Gas- und Wasserleitungen, der öffentliche Nahverkehr und Sozialwohnungen. In der zweiten Phase, nach dem Zweiten Weltkrieg, expandiert der Sozialstaat und mit ihm die Versorgung mit Medizin, Bildung und sozialen Netzen. In der dritten Phase, seit den 1980er Jahren, werden große Teile fundamentalökonomischer Infrastrukturen privatisiert oder abgebaut.

Wie und warum wurde die Fundamentalökonomie zerschlagen? Um das zu verstehen, muss man der Spur des Geldes folgen, den finanzialisierten Kapitalismus sezieren.

Spätestens seit den 1980er Jahren gilt in der öffentlichen Debatte der Staat als ineffizient, öffentliche Verschuldung als moralische Katastrophe. Die Politik Margaret Thatchers in Großbritannien lieferte die Blaupause für die neoliberale Zeitenwende: Das Motto „Privatisieren und auslagern“ galt bald in ganz Europa als Wunderwaffe.

Besonders die Fundamentalökonomie leidet daran. Ehemals durch den Staat erbrachte Leistungen werden ausgelagert. Die Unternehmen haben statt des gesellschaftlichen Wohls ihre Gewinne im Blick. Investoren profitieren in der Gegenwart, Infrastrukturen verkommen. Privatleute müssen Schulden anhäufen, um konsumieren und leben zu können. Die Ergebnisse lassen sich in Großbritannien und den USA besichtigen: luxuriöse SUVs, kaputte Straßen. Privater Reichtum, öffentliche Armut. Ersteres erzeugt Letzteres.

Logiken

Fundamentalökonomie und klassische Mainstream-Ökonomie folgen gegensätzlichen Logiken:

Investitionen in die Wasserversorgung oder das Schienennetz sind risikoarm, langfristig angelegt und werfen eine niedrige, aber stetige Rendite ab. Es gilt ein impliziter Vertrag: Alle Stakeholder werden gleich behandelt; die Forderungen der Kapitalseite sind Forderungen unter vielen.

Die Logik im finanzialisierten Kapitalismus ist eine andere: Investitionen sind riskant, kurzfristig und versprechen hohe Erträge. Die Interessen der Kapitalgeber werden priorisiert. Sie schöpfen heute Gewinne ab, die sozialen und gesellschaftlichen Kosten sind nachrangig. Der implizite soziale Vertrag zerbricht.

Als in den 1990er Jahren private Investoren fundamentalökonomische Aktivitäten übernehmen, importieren sie ihre Logik. Betreiber fundamentaler Dienstleistungen nutzen ihre Marktmacht aus, um Kosten zu reduzieren oder Einnahmen zu erhöhen.

Je nach Markt und Lage variieren die Strategien: Im Lebensmitteleinzelhandel drücken sie die Löhne und die Preise der Lieferanten; im Strommarkt erhöhen sie versteckt die Preise. Durch „Financial Engineering“ umgehen sie Steuern, beispielsweise, indem Vermögenswerte verteilt und verschoben werden. Die Privaten machen Gewinne, die Gesellschaft trägt die Kosten. Dass die hohen Renditen über den Aktienmarkt an alle zurückkehren, ist ein Mythos. Vielmehr werden wenige richtig reich, viele gehen leer aus.

Die Verfassung der Fundamentalökonomie

Der Erhalt und Ausbau der Fundamentalökonomie sind nicht nur wirtschaftlich sinnvoll, sie sind auch moralisch geboten. Bürger_innen mit Trinkwasser und Medizin, Wohnungen und Parks zu versorgen, ist nicht ein Vorhaben unter vielen. Es ist die Grundlage für ein gelingendes Leben. In den Infrastrukturen schlummert Moral.

Das fundamentalökonomische Projekt orientiert sich am indischen Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen und der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum. Sie verstehen „die wirtschaftlichen Ressourcen nicht als technischen Produktionsinput, sondern als politisch-moralisches Mittel zur Förderung des Wohlergehens und eines gehaltvollen Lebens“ (S. 152).

Viele Mainstream-Ökonom_innen behaupten, Wirtschaft sei frei von Moral. Das Gegenteil stimmt. Beschließt der Staat, fließendes Wasser, Schulen und Krankenhäuser für alle zu stellen, dann sagt er: Das braucht ihr für ein gutes Leben. Eine zutiefst moralische Aussage.

So wie Bürger_innen hat auch ein Unternehmen Rechte und Pflichten. Es schließt einen unausgesprochenen Vertrag mit der Gesellschaft: Der Staat erteilt Privilegien, beispielsweise, indem er das Schienennetz stellt oder Baugenehmigungen erteilt. Dafür sollte das Unternehmen etwas für die Gesellschaft leisten, das über den Verkauf von Waren und Dienstleistungen hinausgeht.

In den letzten Jahrzehnten haben Investoren und Unternehmen aber neue Geschäftsmöglichkeiten ohne neue Pflichten erhalten. Deshalb muss der Vertrag zwischen Gesellschaft und Unternehmen neu belebt werden. Dies gelingt, indem öffentlich eine neue Wirtschaftsverfassung debattiert und beschlossen wird, in der Rechte und Pflichten von Unternehmen festgeschrieben werden.

Wie könnte eine solche Wirtschaftsverfassung aussehen? Die Grenzen zwischen Öffentlich und Privat müssten neu gezogen werden. Nicht Eigentum, sondern die Funktion des Unternehmens für die Gesellschaft ist dabei entscheidend. Unternehmen, die „grundlegende öffentliche Dienste erbringen“ (S. 174), erhalten einen öffentlichen Status, aber auch einen Auftrag. Beispielsweise sollten diese Unternehmen auf „Offenheit und Ehrlichkeit“ (S. 174) ebenso verpflichtet werden wie darauf, existenzsichernde Löhne in der gesamten Lieferkette sicherzustellen.

Mit privatisierten Versorgungsbetrieben oder großen Supermarktketten sollten gesellschaftliche Betriebslizenzen (social licences to operate) ausgehandelt werden. Diese Lizenzen verbinden das Recht auf eine bestimmte unternehmerische Tätigkeit mit Pflichten, beispielsweise Ausbildungsplätze bereitzustellen, gute Löhne zu zahlen und fragwürdige finanzielle Praktiken einzustampfen. Was genau diese Lizenzen umfassen, sollte je nach Kontext „flexibel und offen“ (S. 179) angepasst werden. In jedem Fall sollten sie aus freien und ergebnisoffenen Verhandlungen hervorgehen.

 

Die Erneuerung der Fundamente

Die neoliberalen Jahrzehnte haben die Fundamentalökonomie geschwächt. Wie kann sie erneuert werden? Vier große „Verschiebungen“ sind nötig. Sie sollen das „Paradigma des politisch Möglichen“ (S. 202) neu definieren und den Weg ebnen für eine neue politische Praxis.

Erstens: „Fragen wir die Bürger, was sie wollen“ (S. 203). Welche Ansprüche haben Bürger_innen an Wirtschaft und Staat, welche Fundamentalökonomie wünschen sie sich? Diese Fragen sind nur zum Teil beantwortet. Empirische Studien deuten darauf hin, dass Bürger_innen oft anderes wollen, als politische Eliten ihnen bieten. Deshalb sollte es eine Vielzahl von Beteiligungsformaten geben: Konsultationen, Bürgerforen und Fokusgruppen, um zu ermitteln, welche Güter und Dienste unbedingt gebraucht werden. Diese Informationen sollten die Prozesse der repräsentativen Demokratie ergänzen, nicht ersetzen.

Zweitens: Großunternehmen sollten über soziale Betriebslizenzen stärker auf gesellschaftliche Ziele verpflichtet, Kleinunternehmen gestärkt werden. Unternehmen und Gesellschaft sollten neu über Rechte, Pflichten und ihre gemeinsamen Ziele verhandeln. Hierfür sind gesellschaftliche Betriebslizenzen geeignete Instrumente.  

Drittens: Das Steuersystem muss so umgebaut werden, dass fundamentale Dienste und Güter finanziert werden können. In vielen Staaten Europas reichen die Einnahmen aus Steuern nicht aus, um wichtige Infrastrukturen zu finanzieren. Zugleich sinken in den OECD-Ländern die öffentlichen Investitionen. In den reichen Gesellschaften Europas sind nicht die Ressourcen knapp, sondern der politische Wille, sie auf soziale Infrastrukturen zu lenken. Steuern auf Vermögen sowie eine Neuauflage einer Bodenwertsteuer können helfen.

Viertens: „Da die Exekutive nicht immer wohlmeinend oder kompetent ist, müssen wir hybride Allianzen mit intermediären Institutionen bilden“ (S. 225). In Zeiten, in denen der Zentralstaat manchmal überfordert wirkt, könnten Institutionen zwischen Staat und Markt dazu beitragen, die Ausrichtung auf Wohlfahrt und Güter für alle vor Ort zu stärken.

Alle vier Verschiebungen können unabhängig voneinander angegangen werden. Wir sollten nicht warten, bis die Bedingungen günstig sind, um alle gemeinsam zu starten. Vielmehr sollte experimentiert werden, wie sich Wirtschaft und Politik vor Ort nachhaltig verändern lassen.

Dabei gibt es weder ein Standardrezept noch eine Gebrauchsanweisung und auch keine abschließenden Indikatoren. Es kann bereits als Erfolg gelten, wenn der Zugang zu wichtigen Leistungen besser wird, wenn mehr und bessere Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn lokal verwurzelte Unternehmen entstehen und wenn gesellschaftliche Betriebslizenzen geschlossen werden. „Es gilt, eine experimentelle Tradition wiederzuentdecken und eine radikale politische Praxis auf eine Art zu erfinden, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann“ (S. 244).


buch|votum

Die Fundamentalökonomie wirkt auf den ersten Blick wie eine Felsformation: fest verankert, unverrückbar, gemacht für die Ewigkeit. Während aber Felsen nur langsam über Jahrhunderte hinweg durch die Gezeiten geformt werden, so ist die Gestalt der Fundamentalökonomie weder natürlich noch stabil. Nicht Naturgewalten, sondern politische Machtkämpfe entscheiden, wie gut die Medizin, wie verlässlich der öffentliche Transport, wie sicher die Straßen sind. Die Fundamentalökonomie ermöglicht den Alltag und bleibt dabei – solange alles funktioniert – unsichtbar. Dabei ist ihre Gestalt politisch umstritten, form- und wandelbar.

Diese Perspektive auf soziale Infrastrukturen ergänzt die Debatte über das Verhältnis von Staat und Markt. Viele sehen zwischen beiden einen Gegensatz – eine überholte Perspektive. Das Buch nimmt einen neuen, realistischeren Standpunkt ein, ähnlich wie zum Beispiel die Wissenschaftler_innen Mariana Mazzucato, Philipp Staab und Quinn Slobodian. Manche Argumente des Buches sind bereits bekannt, die Verknüpfung der Kapitel ist mitunter herausfordernd, an manchen Stellen muss man sehr aufmerksam lesen. Trotzdem können progressive Akteur_innen mindestens zwei Dinge mitnehmen:

Erstens: Das diskursive Spielfeld bestimmen

Sie müssen das diskursive Spielfeld bestimmen, auf dem es um Wirtschaft geht. Wirtschaftskompetenz meint heute, nach niedrigeren Steuern für Unternehmen zu rufen und in Investitionen vor allem zukünftige Schulden zu wittern. Progressive Akteur_innen sollten sich von dieser vermeintlichen Kompetenz freisprechen, sie brauchen sie nicht. Stattdessen sollten sie definieren, was Wirtschaftskompetenz meint: Ideen zu entwickeln, wie die gemeinsamen Ziele von Unternehmen und Gesellschaft in demokratischen Prozessen verhandelt, wie Gewinne gerecht verteilt und produktiv investiert und wo neue Eigentumsformen ausprobiert werden können.

Zweitens: Wer profitiert von den Gewinnen, wie werden die Kosten verteilt?

In der Debatte über das Verhältnis von Staat und Markt, von Politik und Unternehmen schlummert die große Frage: Wer profitiert von den Gewinnen, wie werden die Kosten verteilt? Progressive Akteur_innen kennen diese Frage nur zu gut, manchmal scheuen sie eine Antwort. Die Perspektive der Fundamentalökonomie gibt Hinweise: Kein Unternehmen prosperiert ohne hoch ausgebildete Arbeiter_innen und belastbare Infrastrukturen, Gesellschaften ohne wertschaffende Unternehmungen bleiben blass. Wenn man diese Co-Abhängigkeit ernst nimmt, dürfen progressive Akteur_innen nicht den Kopf in den Sand stecken, sobald der Begriff „Wettbewerbsfähigkeit“ fällt. Vielmehr sollten sie ihr Recht durchsetzen, die Pflichten von (globalen) Unternehmen neu zu verhandeln. Die hier vorgestellten sozialen Betriebslizenzen weisen einen Pfad. Vielleicht finden sich ja Unternehmen, die mitmachen wollen – aus wohlverstandenem Eigeninteresse.

Verlag: Suhrkamp
Erschienen: 12. August 2019
Seiten: 263
ISBN: 978-3-518-12732-2

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