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Anton Jäger: Hyperpolitik

Extreme Politisierung ohne politische Folgen. Berlin: Suhrkamp Verlag (2023)

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Kurzgefasst und eingeordnet vonThilo Scholle.
Thilo Scholle ist Jurist und Referatsleiter in einem Bundesministerium.


buch|essenz

Kernaussagen

Will man die aktuelle Verfasstheit von Politik in den industrialisierten Staaten erfassen, bietet der Begriff der Hyperpolitik einen guten Ausgangspunkt: Bürger_innen haben durchaus ein politisches Bewusstsein. Dieses ist aber völlig losgelöst von hergebrachten persönlichen sozialen Bindungen und größeren gesellschaftlich-politischen Akteuren wie etwa Parteien und Gewerkschaften. Mangels ernsthafter kollektiv organisierter Gegenmacht gelingt es so nicht, die neoliberale Hegemonie zu brechen. Nötig wäre ein Neuentdecken der Relevanz kollektiver Organisation.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Wie Menschen politisches und gesellschaftliches Engagement leben und erleben, ist eine sehr relevante Frage politischer Analyse. Die gilt zunächst allgemein für eine politikwissenschaftliche Einordnung, unter welchen Bedingungen welche Art des politischen Engagements tatsächliche Wirksamkeit entfalten kann. Für die Politik der Sozialen Demokratie waren in ihrer Geschichte vor allem kollektive Organisationen wie Parteien und Gewerkschaften zentral. Wenn man davon ausgeht, dass wirtschaftliche Macht auch in einer Demokratie in aller Regel Wege findet, sich öffentlich zu artikulieren und politisch Einfluss zu nehmen, so ist die Feststellung, auf welchen Wegen und in welchen organisatorischen Zusammenhängen sich soziale Gegenmacht organisieren lässt, von großer Bedeutung.


buch|autor

Anton Jäger, geboren 1994, wurde im Jahr 2020 in Cambridge mit einer historischen Arbeit promoviert. Aktuell ist er Postdoctoral Research Fellow an der Katholieke Universiteit im belgischen Leuven. Er veröffentlicht regelmäßig in deutschen und internationalen politischen Zeitschriften.


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buch|inhalt

Die 90er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts waren in der öffentlichen Selbstwahrnehmung westlicher Gesellschaften eine eher unbeschwerte Zeit zunehmender persönlicher und politischer Freiheit. Als Sammelbegriff für die politischen Selbstwahrnehmungen dieser Zeit bietet sich der Begriff der Postpolitik an. Dies wandelte sich in den zehner Jahren des 21. Jahrhunderts: Anstelle offener Grenzen entstanden wieder Zäune, die Briten traten aus der Europäischen Union aus und Donald Trump wurde US-Präsident. Doch das neue Zeitalter erlebte keine Wiederkehr der Massenpolitik, wie sie bis Ende der 1980er Jahre bestanden hatte und die durch kollektive Organisationen wie Kirchen, Parteien und Gewerkschaften geprägt war. Zwischen Privatem und den öffentlichen Angelegenheiten hatte sich eine Kluft aufgetan. Die neue Zeit ist politisch, „aber die neuen Formen der Politik überlagern und ergänzen die Postpolitik der neunziger und nuller Jahre auf eine merkwürdige Weise, wie sie das klassische Zeitalter der Demokratie nicht kannte“. Der Begriff der Hyperpolitik soll hier ansetzen und es ermöglichen, „eine Form der Politik zu verstehen, die auf die Massenpolitik des späten 19. und des kurzen 20. Jahrhunderts, die Postpolitik der ‚sehr langen‘ neunziger und die Antipolitik der zehner Jahre gefolgt ist.“ Keine der genannten Formen ist als erschöpfende Beschreibung für den gesamten genannten Zeitraum gedacht. Aussagekraft besitzen diese Darstellungen zudem vor allem für industrialisierte Staaten.

Die Betrachtung lässt sich um zwei Achsen gruppieren:

„Die eine Achse könnte man als die der allgemeinen Politisierung einer Gesellschaft bezeichnen; die andere gibt den Grad ihrer Organisiertheit und insbesondere der Institutionalisierung der politischen Beteiligung an. Im Zeitalter der Massenpolitik zum Beispiel war die Politisierung hoch; außerdem waren das gesellschaftliche und das politische Leben relativ stark institutionalisiert. Familiäre Bindungen spielten eine große Rolle. Menschen gingen regelmäßig in die Kirche. Sie waren Mitglieder in Vereinen, aber auch in Gewerkschaften und Parteien. Diese Organisationen waren in abgrenzbaren Milieus verwurzelt und verfügten über halbwegs konsistente Ideologien.“

Kennzeichnend für die Postpolitik waren eine weitgehende Entpolitisierung, ein Rückzug der Bürger_innen ins Private sowie fehlendes Interesse an Politik an sich oder an regelmäßiger politischer Beteiligung. „Der Kontext war gekennzeichnet vom Niedergang sogenannter intermediärer Assoziationen, Zusammenschlüssen, die zwischen dem Staat und der Ebene der Individuen standen.“ Die Epoche der Postpolitik dauerte bis etwa 2008. Angedeutet hatte sie sich bereits in den 1970er und 1980er Jahren, wobei sie mit dem Mauerfall in ihr „klassisches Zeitalter“ eintrat. Etwa in der Mitte dieser Epoche und als Unterbrechung lagen die globalisierungskritischen Proteste der Jahrtausendwende.

„Anti- und Hyperpolitik schließlich vollziehen sich auf je eigene Weise in einer Welt, die einerseits eindeutig repolitisiert ist, in der aber andererseits die Erosion sozialer Bindungen anhält oder sich gar weiter verschärft.“

Das antipolitische Jahrzehnt begann mit den sozialen Protesten und Krisen in den Industrieländern ab 2009. Der progressiv-neoliberale Konsens büßte an Zustimmung ein. „Im Laufe dieser Zeit zapften zunehmend etablierte Akteure dieses antipolitische Potential an, auf die amorphe Inkubationsphase der Antipolitik folgte eine Periode der Semi-Institutionalisierung.“ Linke wie rechte populistische Bewegungen nutzten die Politisierung der von der Krise am meisten betroffenen Menschen für die Destabilisierung der etablierten Parteiensysteme. Dieser Prozess resultierte in Kombination mit erfolgreicher Anti-Establishment Rhetorik schließlich in den Wahlsiegen auch linkspopulistischer Parteien zur Mitte der zehner Jahre.

Während in der Logik der Antipolitik eine zumindest ideologisch organisierte Bewegung noch notwendig für populistische Parteien war, um Erfolge zu erringen, beschreibt die Hyperpolitik eher eine diffuse gesamtgesellschaftliche Atmosphäre, in der Konflikten mit Empörung begegnet wird und sich eher über das nächste Thema empört wird, als den vorherigen Konflikt auszutragen. „In dieser Hinsicht stellt die Hyperpolitik eine Intensivierung der Antipolitik dar, einen Modus der viralen Panik, wie sie typisch ist für das beschleunigte Internetzeitalter mit seinen kurzen Hype- und Empörungszyklen.“

Grundbedingung für die Hyperpolitik ist deshalb die Entwicklung einer Gesellschaft, in der es für die Menschen leichter ist, von einer Institution zur nächsten zu wechseln – und gesellschaftlichen Konflikten damit aus dem Weg zu gehen. Dies betrifft Beschäftigungsverhältnisse genauso wie das Beenden einer Beziehung, den Austritt aus einer Partei oder das Verlassen eines Freundeskreises. „Wer sich aus einer Facebook-Gruppe zurückzieht, muss kaum mit derselben Art von Stigmatisierung rechnen wie einst ein Streikbrecher, der in seinem Viertel anschließend geschnitten wurde.“

Außerdem gilt: „Die sich verändernden Koordinaten unseres Arbeitslebens schaffen Anreize für hyperpolitisches Verhalten.“ Hyperpolitik wird damit erst im Kontrast zur Massenpolitik lesbar.

Laut einer im Jahr 2021 veröffentlichten Studie über Freundschaften in den USA leben die Amerikaner_innen zunehmend einsam und isoliert. So gaben 12 Prozent an, keine engen Freundschaften zu haben. Im Jahr 1990 lag dieser Wert noch bei drei Prozent. Fast 50 Prozent gaben zudem an, während der Corona-Pandemie Freundschaften verloren zu haben. „Als Paradebeispiel freiwillig gewählter Gemeinschaften stehen Freundeskreise pars pro toto für andere soziale Institutionen – Gewerkschaften, Parteien, Vereine.“ Zunehmendes individuelles Aufbegehren der Beschäftigten führt bislang allerdings nicht zu einer Revitalisierung kollektiven Engagements, sondern zu einem persönlichen „Exit“. „Individualisierung und die Schwächung der Parteien und Gewerkschaften erscheinen aus einer marxistischen Perspektive dabei auch als Imperative des Kapitals. Das gemeinschaftliche Leben musste ausgedünnt werden, um neue Wege der Kapitalakkumulation zu finden.“

Beim Blick auf kollektive Organisationen von Arbeitnehmer_innen geht es daher auch um einen Blick auf „Infrastrukturen der Gegenmacht“. Die Postpolitik brachte hier Änderungen. Der Niedergang traf zwar auch konservative Organisationen. Allerdings hat gerade Donald Trump es geschafft, konservative Institutionen im ländlichen Raum für sich zu gewinnen. Gerade in Gegenden, in denen sich die Menschen abgehängt fühlen, spielt das Vereinswesen doch noch eine Rolle. Es stellt sich damit die Frage, ob auf der rechten Seite des politischen Spektrums doch eine Reinstitutionalisierung politischer Interessen beobachtet werden kann. Ob hier trotz der Hyperpolitik wirklich neues „soziales Kapital“ entsteht, lässt sich allerdings noch nicht abschließend bewerten. Auf Seiten der Arbeitnehmer_innen ist noch keine Stärkung kollektiver Infrastrukturen der Gegenmacht erkennbar.

Im Ergebnis lässt sich festhalten: „In einem gewissen Sinne ist die Hyperpolitik das Produkt eines ‚harten, aber hohlen‘ Umfelds; sie stellt einen Versuch dar, den ehernen Griff des Neoliberalismus zu brechen, ohne dass uns die dafür notwendigen Ressourcen zur Verfügung stünden.“ Die gesellschaftlichen Proteste blieben daher weitgehend folgenlos. So erlangte etwa die Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA zwar große öffentliche Aufmerksamkeit, das Ziel einer Reduzierung der Ausgaben für die Polizei wurde aber nicht erreicht. Daher bleiben wenige Optionen, um den Weg zurück zu einem Aufbau von Institutionen der Gegenmacht zu finden. Die Linke wird den Vorsprung der Rechten nur kompensieren, wenn sich ausreichend viele Menschen wieder regelmäßig in Vereinigungen engagieren. Ein Einstieg könnte hier das Engagement in Organisationen des Alltags sein, etwa in der Sphäre der gesellschaftlichen Reproduktion oder der Care-Arbeit. Auch in Zeiten, in denen durch Homeoffice kaum Kontakt zu Kolleg_innen im Betrieb besteht und der Betrieb als sozialer Ort weitgehend ausfällt, müssen beispielsweise trotzdem Kinder in die Kita gebracht werden, und damit Kontakte zu anderen Menschen gepflegt werden.

 


buch|votum

Klar ist, dass Begriffe wie „Postpolitik“ und „Hyperpolitik“ zunächst nur eine begriffliche Annäherung an das bieten können, was beschrieben werden soll. Aus sich heraus sind sie kaum verständlich. Der dahintersteckende analytische Kern ist jedoch hoch interessant: Nachzuvollziehen, wie sich politisches Bewusstsein seit der Auflösung kollektiver Bezüge und Organisationen in den Jahren vor und dann vor allem ab 1990 verändert hat, ist ein wichtiger Grundstein, um in der heutigen Zeit politisch aktiv zu sein und mit dieser Aktivität auch tatsächlich gesellschaftlich gestalten zu können. Anton Jäger zeigt plausibel auf, dass ein auf eine rein individuelle Basis ausgerichtetes politisches Engagement kaum politische Handlungsmacht erzeugt. Sein Plädoyer für eine Revitalisierung kollektiver Organisation ist beachtenswert. Etwas weniger überzeugend ist der Ansatz, in diesem Zusammenhang vor allem „Organisationen des Alltags“ herauszustellen und parteipolitisches oder gewerkschaftliches Engagement zwar nicht auszuschließen, aber auch nicht wirklich zu betonen. Das Gespräch auch in alltäglichen Zusammenhängen wie etwa der Kita zu suchen, ist sicherlich richtig – kollektive Organisationen benötigen aber auch einen übergeordneten und vor allem auch einen verbindlicheren Rahmen. Anton Jäger hat einen klugen Essay mit klarer Gedankenführung geschrieben, der gute Denkanstöße für einen Blick auf unsere Zeit und ihre politische Organisation bietet.

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Verlag: Suhrkamp
Erschienen: 28.02.2024
Seiten: 136
ISBN:978-3-518-12797-1

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