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Kurzgefasst und eingeordnet von Thilo Scholle – Thilo Scholle ist Jurist und arbeitet als Referent in der Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft des Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
Das Gleichheitsversprechen moderner Demokratien geht vom Prinzip aus, dass jede in einer Wahl abgegebene Stimme stets gleich viel wert ist. Tatsächlich ist das Wahlniveau oft niedrig und über die Jahre hinweg in vielen Ländern gesunken. In der öffentlichen Diskussion wird daher mitunter der Eindruck artikuliert, dass von gewählten Regierungen getroffene Entscheidungen nicht mehr viel mit den politischen Vorstellungen vieler Wähler_innen zu tun haben. Zudem lässt sich feststellen, dass in höheren Einkommensgruppen meist auch eine höhere Wahlbeteiligung besteht.
Die Idee der völligen Wirkungsgleichheit aller abgegebenen Stimmen ist eine Idealvorstellung. Real sind modern-kapitalistische Gesellschaften von Interessengegensätzen und Widersprüchen durchzogen, hinter denen mitunter auch ökonomische Interessen stehen. Finanzielle Stärke macht es oft auch einfacher, in politischen Debatten wirkmächtig zu werden. Für politische Bewegungen in der Tradition der Arbeiterbewegung, die ohne große eigene ökonomische Macht daherkommen, ist vor diesem Hintergrund eine möglichst breite Mobilisierung in öffentlichen Debatten wie auch an der Wahlurne besonders wichtig. Umso dramatischer erscheint der von Lea Elsässer herausgearbeitete Befund, dass im deutschen Kontext keine der Parteien, die in den vergangenen zwanzig Jahren an der Bundesregierung beteiligt waren, als politischer Repräsentant der Interessen unterer Einkommensschichten wahrgenommen wurde.
Verlag: Campus VerlagErschienen: 08.11.2018Seiten: 218ISBN: 9783593510040
Lea Elsässer studierte zunächst International Economics and European Studies in Tübingen und Lissabon und schloss ihr Studium mit einem Master in Economics im Jahr 2013 an der Universität Köln ab.
Seit 2011 war sie zunächst studentische und dann wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und anschließend Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes.
Seit 2017 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen. Ihre bisherigen Publikationen befassen sich insbesondere mit Fragen des Verhältnisses zwischen sozialer Lage und politischer Repräsentation.
Mit dem vorliegenden Buch wurde sie im Jahr 2017 an der Universität Osnabrück promoviert.
Der Band gliedert sich in acht Kapitel. Ausgehend von einigen theoretischen Vorüberlegungen entwickeln sie den Leitgedanken zum Zusammenhang von Responsivität und Demokratie und eine ausführliche Erläuterung der verwendeten Methodik und Datenbasis bis hin zu einer Vorstellung der zentralen Befunde und ihrer politisch-analytischen Einordung.
Das Gleichheitsprinzip ist ein grundlegendes Prinzip der Demokratie. Es verlangt, dass die Anliegen aller Mitglieder der politischen Gemeinschaft die gleichen Chancen haben, im politischen Prozess berücksichtigt zu werden – ungeachtet möglicher Unterschiede zwischen ihnen. „Liberale Demokratien sind deshalb einer ständigen Spannung ausgesetzt, denn sie produzieren aufgrund ihrer kapitalistischen Verfasstheit notwendigerweise sozioökonomische Ungleichheiten, die aber nicht dazu führen dürfen, dass politische Einflusschancen an ökonomische Ressourcen gebunden sind. So besteht immer die Gefahr, dass durch ungleich verteilte Ressourcen eine Kumulation von Einkommen und Vermögen möglich wird, welche die demokratische Entscheidungsfindung in der politischen Sphäre verzerrt und damit die Legitimität der Demokratie untergräbt.“
Dabei wirkt sich soziale Ungleichheit nicht nur auf die Beteiligung an Wahlen aus, sondern betrifft auch andere Beteiligungsformen wie etwa die Teilnahme an Demonstrationen und die Aufnahme von direktem Kontakt zu Politiker_innen. Dies gilt auch für die Beteiligung in politischen Parteien, die sozial immer homogener werden. Arbeiter_innen sind dort stark unterrepräsentiert, während Menschen aus oberen Einkommensgruppen, Akademiker_innen sowie Beamt_innen einen Großteil der Parteimitglieder stellen. Dies überträgt sich auch auf die Zusammensetzung der Parlamente, in denen der ohnehin schon geringe Anteil von Abgeordneten aus der Arbeiterklasse in den zurückliegenden Jahren noch weiter abgenommen hat.
Im weiteren Verlauf des Bandes wird zunächst die Frage betrachtet, ob die politischen Entscheidungen des Deutschen Bundestages zugunsten oberer sozialer Klassen verzerrt sind. Grundlage für die Erhebung der Präferenzen oberer und unterer Klassen ist eine speziell für diese Studie entwickelte Datenbank, die mehr als 700 Sachfragen mit Vorschlägen zu konkreten Politikänderungen enthält. Den Untersuchungszeitraum bilden die Jahre 1980 bis 2013.
Erkennbar wird, dass über alle Jahre eine soziale Schieflage besteht – und zwar in konkreten Politikentscheidungen sowie in allen unterschiedlichen politischen Koalitionen, die in dieser Zeitspanne mit der Regierungsverantwortung betrauten waren. Beobachten lässt sich zudem, dass sich politische und soziale Ungleichheit wechselseitig verstärken.
Im Sinne der vorliegenden Untersuchung bedeutet das Konzept der Responsivität, „dass die Wünsche und Anliegen der Bevölkerung von den Regierenden in ihren Entscheidungen berücksichtigt werden und somit eine Rückkoppelung politischer Entscheidungen an den Bevölkerungswillen besteht.“ Nicht deckungsgleich sind dabei die Begriffe der „Repräsentation“ und der „Responsivität“. Neben der „Rückkoppelung an den Bevölkerungswillen“ enthält das Konzept der „Repräsentation“ auch ein Element des Handlungsspielraums und damit der Möglichkeit aktiver und autonomer Handlungen der Entscheidungsträger.
„Politische Repräsentation findet demnach in einem Spannungsfeld zwischen Responsivität und autonomem Handlungsspielraum statt.“ Dies gilt umso mehr, als dass es gerade nicht den einen homogenen Bevölkerungswillen gibt. Eine solche Klarstellung darf allerdings nicht zu elitären Konzepten einer vermeintlich ignoranten Bevölkerung führen, die zur Formulierung präziser politischer Positionen nicht fähigen ist. Empirisch lassen sich weder Anknüpfungspunkte dafür finden, dass die politischen Präferenzen unterer sozialer Klassen irrational seien, noch dafür, dass politische Eliten verantwortungsbewusste oder gemeinwohlfördernde Entscheidungen auch dann treffen, wenn keine Rückkoppelung zu unteren Bevölkerungsschichten besteht.
Die bereits bestehende Forschung bestätigt die Ausgangsthesen der vorliegenden Arbeit. Unterschiede zwischen den existierenden Arbeiten bestehen vor allem darin, wie sie das Konzept der politischen Responsivität empirisch operationalisieren. Einige Studien konzentrieren sich auf die Kongruenz von politischen Einstellungen und politischen Positionen, lassen konkrete politische Entscheidungen aber außer Acht. Andere Studien untersuchen den Zusammenhang zwischen Präferenzen und „policy outcomes“, etwa der Höhe der Sozialausgaben oder der Verbreitung sozialer Ungleichheit innerhalb eines Staates.
Als dritte Gruppe empirischer Arbeiten lässt sich ein Ansatz erkennen, der untersucht, „in welcher Hinsicht die Handlungen beziehungsweise Entscheidungen der Regierenden mit den Einstellungen und Interessen der Bevölkerung übereinstimmt“. Politische Entscheidungen können in diesem Sinne sowohl Gesetze und parlamentarische Abstimmungen, aber auch Regierungsbeschlüsse sein. Einen vergleichbaren Grundansatz entwickelt auch die vorliegende Arbeit. Anhand einer Vielzahl konkreter politischer Reformvorschläge wird untersucht, ob die politischen Entscheidungen des Bundestages stärker die Präferenzen oberer sozialer Klassen widerspiegeln als die unterer sozialer Klassen. Damit leistet die Arbeit zudem einen Beitrag zur ebenfalls aktuell vielfältig diskutierten Frage, ob gesellschaftliche Konfliktlinien in der gegenwärtigen Demokratie noch entlang sozialer Klassen verlaufen. Besonders im Fokus stehen dabei Fragen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.
Als Basis der weiteren Analyse dient die speziell für die vorliegende Arbeit entwickelte Datenbank „Responsiveness and Public Opinion in Germany“, die auf den Umfragedaten der beiden regelmäßigen Erhebungen Politbarometer und DeutschlandTrend basiert. Dabei wurde für verschiedene soziale Gruppen der Anteil der Zustimmung für die einzelnen Fragen berechnet. Ergänzt wird die Datenbank um weitere Analysepunkte, etwa ob die vorgeschlagene Politikänderung tatsächlich umgesetzt wurde, welchem Politikfeld die Frage zuzuordnen ist und welche Koalition im fraglichen Zeitpunkt im Bundestag eine Mehrheit besaß. Insgesamt wurden 1.233 Sachfragen in die Datenbank aufgenommen, von denen 863 Fragen so gestellt wurden, dass sie die hier besonders interessierende Zustimmung nach möglichen Politikänderungen erfragen. Für das Forschungsdesign besonders wichtig sind daher Fragen wie etwa die im Jahr 2011 im DeutschlandTrend gestellte Frage: „Derzeit wird über die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland diskutiert. Sind Sie für die Einführung eines solchen Mindestlohns oder dagegen?“
Die Schichtung nach der sozialen Lage der befragten Personen wurde nicht nach Einkommen, sondern durch die Einteilung in sechs Berufsgruppen vorgenommen: ungelernte Arbeiter_innen, Facharbeiter_innen, einfache Angestellte, höhere Angestellte, Beamt_innen und Selbstständige. Nicht erfassen lässt sich so die Gruppe der ökonomischen Elite, die in solchen Umfragen kaum abbildbar ist.
Zunächst ist festzustellen, dass sich Ansichten und Forderungen an staatliche Politik unterscheiden: „Dieser Arbeit liegt die Prämisse zugrunde, dass wichtige gesellschaftliche Konfliktlinien entlang sozialer Klassen verlaufen, da untersucht wird, ob politische Entscheidungen zugunsten privilegierter sozialer Klassen verzerrt sind.“ Für die Einordnung der Konfliktlinien werden zwei Konfliktachsen entwickelt:
Die Achse Staat-Markt sowie die Achse Universalismus-Partikularismus. Im Konfliktfeld Staat-Markt bevorzugen höhere Berufsgruppen in der Tendenz eher Marktmechanismen zur Allokation von Ressourcen, während untere Berufsgruppen sich tendenziell eher für einen ausgebauten Sozialstaat und eine stärkere Regulierung der Wirtschaft aussprechen.
Im Bereich Universalismus-Partikularismus werden vor allem Fragen aus den Bereichen Migrations-, Umwelt- und Gesellschaftspolitik zusammengefasst. Dabei lassen sich zwar tendenziell konservativere Einstellungen bei unteren sozialen Gruppen feststellen, die Unterschiede bei sozioökonomischen Themen sind allerdings wesentlich eindeutiger als bei gesellschaftspolitischen Fragen.
Die soziale Schieflage politischer Repräsentation lässt sich an verschiedenen Kennziffern festmachen. Stimmen etwa 20 Prozent der Selbstständigen einer Politikänderung zu, so liegt die Wahrscheinlichkeit ihrer Umsetzung bei ungefähr 40 Prozent. Stimmen 80 Prozent der Selbstständigen einer Politikänderung zu, so steigen die Chancen auf Umsetzung auf über 60 Prozent. Im Bereich der ungelernten Arbeiter_innen spielt es demgegenüber keine Rolle für die Chancen der politischen Umsetzung, ob 20 oder gar 80 Prozent dieser Gruppe einer Politikänderung zustimmen.
„Im gesamten Untersuchungszeitraum gab es keine einzige größere Reform, die nur von den unteren, aber nicht von den oberen sozialen Klassen gewollt war. Von Arbeiterinnen und Arbeitern oder einfachen Angestellten befürwortete Ausweitungsmaßnahmen wurden nur dann umgesetzt, wenn auch die oberen Berufsgruppen sich dafür aussprachen. Dagegen wurden zahlreiche Reformen mit der Unterstützung von Selbstständigen und Beamten, aber gegen den Willen der unteren Berufsgruppen umgesetzt.“
Diese selektive Responsivität der politischen Entscheidungsträger in Fragen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik lässt sich als Trend in den meisten europäischen Wohlfahrtsstaaten beobachten: Er hat zu einer Ausrichtung der staatlichen Leistungen auf eine Aktivierung der Leistungsempfänger_innen beigetragen.
Dies betrifft auch die Politikentwicklung sozialdemokratischer Parteien, deren zunehmend der Mittelschicht entstammende Anhängerschaft eine solche Tendenz befürwortet.
Die selektive soziale Responsivität ist dabei nicht gleichzusetzen mit einem Desinteresse oder der völligen Abkehr von Sozialpolitik. So werden sozialinvestive Maßnahmen etwa zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht nur von Beamt_innen und Selbstständigen, sondern auch von Arbeiter_innen und einfachen Angestellten nachgefragt. Insgesamt lässt sich ein Trend zu einem sozialstaatlichen Umbau erkennen, der weniger auf absichernde Sozialpolitik, sondern mehr auf Aktivierung setzt, mitunter auch zwangsweise. Mit Blick auf die SPD lässt sich zeigen, dass insbesondere die „traditionelle Stammwählerschaft“ der Partei Reformen wie etwa die Hartz-IV-Gesetze abgelehnt habe. Die mit dem Bevölkerungswillen am wenigsten in Einklang stehende Reform war die Anhebung der Altersgrenze für die gesetzliche Rente auf 67 Jahre durch die Große Koalition im Jahr 2007. Als responsiv gegenüber den oberen sozialen Klassen wird hier die Zustimmung mindestens der Selbstständigen oder der Beamt_innen sowie die Gegenmeinung mindestens der ungelernten und die Facharbeiter_innen gewertet Die einzige Politikänderung aus dem Bereich der Sozialpolitik, die klassenübergreifende Zustimmung fand, ist die Verschärfung der Anreize zur Arbeitsaufnahme.
Vor allem die frühere Traditionsklientel der Sozialdemokratie erlebt ein Repräsentationsdefizit. „Demnach wenden sich mehr Menschen von der Politik ab, weil ihre Anliegen nicht beachtet werden, was wiederum die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in ihrer selektiven Responsitivität bestärkt, da sie von potentiellen Nichtwählerinnen und Nichtwählern auch nicht mehr politisch sanktioniert werden.“
Lea Elsässer ist ein hochinteressantes und in der Gedankenführung klar strukturiertes Buch gelungen. Mit der Frage, welche sozialen Interessen politische Entscheidungen tatsächlich beeinflussen, bearbeitet sie eines der zentralen Themen einer Demokratie, die von der Idee der gemeinsamen Entscheidung von Freien und Gleichen getragen wird. Aus Sicht der Sozialen Demokratie lassen sich hier zudem für die weitere Diskussion Anleihen bei Debatten finden, die die Arbeiterbewegung von Anbeginn an begleiten, insbesondere zur Frage, welche strukturellen Entscheidungen zur Einschränkung ökonomischer Macht nötig sein könnten, um der Bevölkerungsmehrheit bei einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht wirklich zum Durchbruch zu verhelfen.
Mit Blick auf konkrete Handlungsempfehlungen in Richtung einer stärkeren Beteiligung unterer sozialer Schichten ist zunächst der von der Autorin überzeugend herausgearbeitete Umkehrschluss zu betonen: Eine fehlende Berücksichtigung der Interessen bestimmter sozialer Gruppen und eine geringe Beteiligung an politischen Prozessen verstärken sich gegenseitig. Durchaus komplex ist daher die vor diesem Hintergrund zu beantwortende strategisch-inhaltliche Kernfrage, um welche politischen Projekte sich Allianzen für eine Politik der Sozialen Demokratie zwischen zumindest mittleren und unteren sozialen Gruppen bilden lassen. Hinzu kommt, dass die hier untersuchten Gruppen sich zwar jeweils mehrheitlich bestimmten Positionen zuordnen lassen, zugleich aber keineswegs völlig homogen sind.
Für die weitere Debatte um Mehrheiten für eine Politik der Sozialen Demokratie bietet Lea Elsässers Band einen wichtigen Impuls.