Für Ostdeutsche und Migrant_innen zentrale Ereignisse werden in der Geschichtserzählung der Mehrheitsgesellschaft nur unzureichend wahrgenommen und verarbeitet. Emanzipatorische Prozesse werden dabei nicht anerkannt, sondern weggeschoben.
So beleuchtet das Buch auch die Schattenseiten der Deutschen Einheit für beide Gruppen. Die Autorinnen thematisieren die Deindustrialisierungspolitik der Treuhand, die massive Abwanderung aus dem Osten, die hohe Arbeitslosigkeit und die damit einhergehende soziale Deprivation ganzer Landstriche ebenso wie die rassistischen Realitäten in Ost- und Westdeutschland.
Zur Geschichte der deutschen Wiedervereinigung gehören nicht nur die Friedliche Revolution am 9. November 1989, sondern auch die rassistischen Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991, die rechtsextremen Brandanschläge auf das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen 1992, der rechtsextreme Brandanschlag 1992 in Mölln, bei dem drei Menschen starben, und der rechtsextreme Mordanschlag von Solingen 1993, bei dem fünf Menschen ihr Leben verloren. [Jahresdaten zu Solingen und Mölln ergänzt, Reihenfolge geändert]
Eine weitere wichtige historische Zäsur ist die Umsetzung der Agenda 2010 und die Einführung von Hartz IV, einer Reform, die den durch hohe Arbeitslosigkeit gebeutelten Arbeitsmarkt in Ostdeutschland besonders hart traf. Auf eine freie Stelle im Osten kamen damals 32 Erwerbslose. Gegen die Reformen gab es 2003 und 2004 eine Vielzahl von Protesten im Osten, die jedoch ohne größere Erfolge wieder abflauten. Die Agenda 2010 traf im Westen vor allem auch Migrant_innen, die dort das lohnabhängige Milieu prägten.
Die damaligen Demonstrationen im Osten waren Montagsdemos, ähnlich wie die im Jahr 1989, doch riefen sie dieses Mal bei der Mehrheitsgesellschaft vor allem Abwertung und Verachtung hervor. Führende westdeutsche Politiker_innen kritisierten die Demonstrationen als „Zumutung“, „Beleidigung der Zivilcourage“ oder als „Schande“.
Die beiden Autor_innen skizzieren zudem die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen von Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ auf Migrant_innen und Muslim_innen. In dem Moment, in dem immer mehr Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland den Aufstieg schafften und ihren Platz am Tisch einforderten, wurden diese Aufstiege geleugnet und aggressiv bekämpft – von der Elite des Landes und der Mehrheitsgesellschaft. „Deutschland schafft sich ab“ ist mit mehr als 1,5 Millionen Exemplaren eines der meistverkauften Sachbücher der bundesdeutschen Geschichte. Es stellt damit eine Reaktion auf die vorangegangenen Emanzipationsprozesse von Migrant_innen und Muslim_innen dar. Der Hegemon – die deutsche Mehrheitsgesellschaft – hat ihre Macht demonstriert und Migrant_innen wieder auf ihre Plätze verwiesen.
Exemplarisch zeigt sich dies auch an den Entwicklungen während des Sommers der Migration 2015. Foroutan beschreibt die Wirkung von 2015 als ein „Zurück-auf-Los“: als wären alle 21 Millionen bereits hier lebenden Menschen mit Migrationsgeschichte eben erst angekommen. Diskussionen um Zugehörigkeiten, Identitäten und Sprache haben in diesem Moment an Dringlichkeit verloren, da die materielle Versorgung der Geflüchteten im Vordergrund stand. Gleichzeitig wurden die schon lange in Deutschland lebenden Migrant_innen unsichtbar gemacht – und sie wurden nicht unter die Kategorie „deutsch“ subsummiert, sondern unter die der Fremden. Auch hier schob die Mehrheitsgesellschaft einen emanzipatorischen Prozess beiseite.