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Björn Hacker: Weniger Markt, mehr Politik

Europa rehabilitieren. Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf. (2018)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Michael Dauderstädt
Michael Dauderstädt ist freiberuflicher Berater und Publizist und war bis 2013 Leiter der Abteilung Wirtschaft- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung.


buch|essenz

Kernaussagen

Eine einseitige Marktgläubigkeit hat soziale Schieflagen und politischen Unmut produziert, die den Hintergrund der europäischen Krisen (Eurokrise, soziale Spaltung, Migrationskrise) bilden und sie verstärken. Die EU hat nur halbherzige Antworten darauf gefunden, während sich die zentrifugalen Tendenzen verstärkt haben. Allein eine stärkere politische Einhegung der Märkte kann Europa erneuern und neuen Wohlstand und Zukunftsvertrauen sichern.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die neoliberale Wende, Globalisierung und die einseitige Marktintegration in Europa gefährden wichtige Ziele der Sozialen Demokratie. Europa ist ein entscheidender Ansatzpunkt für einen Politikwechsel, der sozialen Ausgleich wieder in den Mittelpunkt stellt. Dafür liefert Hacker konkrete und realistische Vorschläge.


buch|autor

Prof. Dr. Björn Hacker ist ein deutscher Politik- und Wirtschaftswissenschaftler. Nach seiner Promotion 2010 zum Europäischen Sozialmodell arbeitete er zunächst bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. Seit 2014 ist er Professor für europäische Wirtschaftspolitik an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin. Er forscht zur wirtschaftlichen und politischen Integration Europas.


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buch|inhalt

Der Siegeszug der Märkte

Mitte der 1970er-Jahre ging eine Epoche zu Ende, die jahrzehntelang durch regulierte Märkte und blühende Wohlfahrtsstaaten Wachstum, Vollbeschäftigung und sozialen Ausgleich erzielt hatte. Das Ende der seit 1944 gültigen Weltwährungsordnung, steigende Inflation und Krisen schafften die Bedingungen für eine neoliberale Wende in der Wirtschaftspolitik, die den Staat und Gewerkschaften schwächen und die Märkte deregulieren wollte.

Zunächst in den USA und Großbritannien, später auch in Kontinentaleuropa dominierten Parteien und Regierungen, die versuchten, diese marktfreundliche Agenda durchzusetzen. In Deutschland wurde diese Wende zunächst zögerlich von der Regierung Kohl und schließlich unter Schröder mit der Agenda 2010 umgesetzt. Steuern wurden gesenkt, soziale Risiken wie Arbeitslosigkeit oder Alter stärker individualisiert und die Arbeitsmärkte liberalisiert.

Treiber und Begründung der Marktstärkung war die Globalisierung. Sie veränderte die Kräfteverhältnisse zwischen der mehr ortsgebundenen Arbeit und dem Staat einerseits und dem international mobilen Kapital andererseits. Niedriglohnkonkurrenz und Steuerwettbewerb erleichterten die Umverteilung zugunsten der Profite. Mit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme in Europa und Chinas kapitalistischer Öffnung beschleunigte sich der Triumphzug der Marktwirtschaft und der Wettbewerbsdruck.

Im Ergebnis nahmen die Ungleichheit und soziale Unsicherheit zu. Das Aufstiegsversprechen, das die Nachkriegsgeneration inspiriert hatte, wich Abstiegsängsten. Die erfolgreiche Expansion der höheren Bildung konnte stabile und angemessen bezahlte Arbeitsplätze nicht mehr garantieren.

Auch die Demokratie litt unter den Legitimationsverlusten der traditionellen Politik und Parteien. Das TINA-Prinzip (There is no alternative – es ist alternativlos) hinterließ ein Gefühl der Ohnmacht, gegen die sich viele Menschen mit einer Radikalisierung zu wehren versuchten, meist nach rechts, gelegentlich auch nach links.

Halbherzige Reformversuche der EU

Europa fiel gefühlt im internationalen Konkurrenzkampf zurück. Es antwortete darauf, dem Zeitgeist folgend, mit einer Stärkung der Marktintegration. Das Binnenmarktprojekt sollte die letzten Handelshemmnisse im Gemeinsamen Markt beseitigen und auch als Vorstufe zur Währungsunion dienen, die mit dem Vertrag von Maastricht 1992 beschlossen worden war. Begleitende marktregulierende und soziale Politiken wie die Grundrechtecharta und der soziale Pfeiler blieben dagegen unverbindlich und/oder ohne Biss oder scheiterten in Referenden (wie die Verfassung von 2004).

Zusammen bewirkte diese Vertiefung der Integration eine Schwächung der nationalen Schutzmöglichkeiten wie Produkt-, Umwelt- und Sozialstandards bzw. der Abwertungsoption für eine eigene Währung. Der Stabilitätspakt legte Obergrenzen für Haushaltsdefizite und Staatsverschuldung fest, die die fiskalpolitischen Spielräume der Regierungen einengten. Die unabhängige Zentralbank sollte mit ihrer Geldpolitik die Inflation und nur in zweiter Linie Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche bekämpfen.

Neben dieser Vertiefung trieb die EU auch noch die Erweiterung voran – ausgelöst durch den Zusammenbruch des Ostblocks. Zuerst traten vormals neutrale Länder wie Schweden, Österreich und Finnland bei. Dann folgte die gigantische Osterweiterung mit zehn Neumitgliedern 2004 und drei weiteren 2007 und 2013. Der Eintritt von Ländern mit deutlich niedrigerem Einkommens- und Lohnniveau in einen weiter nivellierten gemeinsamen Markt verschärfte den Wettbewerbsdruck.

Die Finanzmarktkrise von 2008 gefährdete das kreditabhängige Wachstumsmodell der Südperipherie der EU und löste eine Staatsschuldenpanik aus. Nun zeigten sich die Konstruktionsmängel der Währungsunion. Die EU reagierte mit Rettungsschirmen verbunden mit harten Sparauflagen für die Krisenländer, die die Krise nur weiter verschlimmerten. Erst verspätet, 2012, entschärfte EZB-Präsident Draghi mit der Ankündigung massiver Anleihekäufe die Krise.

Über diese schon krisengeschüttelte und sozial gespaltene EU brach 2015 die nächste Krise in Gestalt eines plötzlichen Zustroms an Geflüchteten herein. Deutschland hatte durch eine humanitär berechtigte, aber unilaterale Entscheidung den Ansturm ausgelöst. Der Versuch der EU, auch nur einen Teil der Geflüchteten nach einem Schlüssel zu verteilen, scheiterte am Widerstand mehrerer Mitgliedstaaten.

Die Sackgasse der Desintegration

Viele Menschen richteten ihre Wut und Enttäuschung angesichts von Krisen und sozialer Ungleichheit gegen die EU und Brüssel. Die politische und akademische Kritik formierte sich sowohl im rechtspopulistischen als auch im konservativen und linken Lager.

Der Rechtspopulismus steht in einer – nur mühsam sprachlich verschleierten – Tradition des Faschismus. Er will Europa oder eher das Abendland vor Überfremdung schützen und setzt verstärkt auf den Nationalstaat und das Volk. Seinen größten Erfolg konnte er in Großbritannien mit dem Brexit feiern.

Der Aufstieg des Rechtspopulismus hat auch konservative Parteien nach rechts gedrängt – vor allem in der Migrationspolitik. In Österreich koalierte die konservative ÖVP mit der rechten FPÖ. In Deutschland griff die CSU die Migrationspolitik der Großen Koalition offen an.

Linke euroskeptische Parteien erlebten vor allem im von der Austeritätspolitik geschädigten Süden einen Aufschwung. In Griechenland kam Syriza an die Macht, in Italien eine Koalition aus Lega und 5Stelle. Aber auch sozialdemokratische Parteien wie die dänische übernahmen nationalzentrierte und migrationskritische Positionen.

Selbst in der deutschen Sozialdemokratie finden sich Befürworter für eine – zumindest partielle – Desintegration. Sie kritisieren den Demokratieverlust in der Eurozone und empfehlen den Südländern einen Ausstieg. Angesichts von Globalisierung und Marktintegration fordern sie eine Renaissance des Nationalstaats mit einer starken Schutzfunktion für die sozial Schwachen.

Ein Labyrinth von Konflikten

Die Auseinandersetzung um die Zukunft der EU ist von zahlreichen, sich kreuzenden Konfliktlinien geprägt, an denen sich fundamentale Positionen und Interessen gegenüberstehen:

  • Kompetenzverteilung: Während die einen mehr Kompetenzen beim Nationalstaat haben wollen, streben die anderen nach einem europäischen Bundesstaat. Dabei kann eine pragmatische Kompetenzverteilung wechselnden Herausforderungen besser begegnen.
  • Legitimation: Kleine Länder haben hier andere Interessen als große Länder.
  • Repräsentation: Menschen sind als Bürger eines Mitgliedstaats und als Unionsbürger vertreten.
  • Demokratie: Volkssouveränität und Einbindung in eine globalisierte und europäisch integrierte Wirtschaft und Vertragsordnung reiben sich.
  • Ökonomie: Die bekannten ideologischen Grundpositionen von mehr Markt oder mehr Politik prägen alle Reformdiskurse.
  • Eurozone: Zur Reform der krisenanfälligen Währungsunion setzen die einen auf striktere Einhaltung der Stabilitätsregeln, die anderen auf eine Ergänzung durch eine Fiskalunion und wirtschaftspolitische Koordinierung bis hin zu einer europäischen Wirtschaftsregierung.
  • Sozialunion: Während Marktliberale auf den Wettbewerb zwischen Sozialordnungen und auf Strukturreformen setzen, streben die wegen der sozialen Spaltung Besorgten eine Konvergenz der Standards und Niveaus an.
  • Migration: Nicht nur Abschottung versus Öffnung, auch die Verteilung der Geflüchteten und die Methoden zu deren Integration sind umstritten

Europa politisch neu gestalten

Viele Kritiker der Brüsseler Politik neigen zu extremen Lösungen. Mal wollen sie die supranationalen Institutionen und Kompetenzen radikal beschneiden und sie in die nationale Politik zurücknehmen oder gleich der Macht der globalen Märkte überlassen. Andere träumen von einer Republik Europa, in der die Nationalstaaten nahezu verschwunden sind. Solche Vorschläge sind unrealistisch und verlängern nur die Problemlagen. Wirklicher Fortschritt kann nur durch mehr Politik erzielt werden, die auf pragmatische, aber spürbare und mutige Reformen setzt.

In der Währungsunion muss die staatliche wirtschaftspolitische Kompetenz gestärkt werden. Dabei könnten folgende Reformen helfen: Ein europäisches Rückversicherungssystem für die Arbeitslosenversicherung, die stark belastete nationale Systeme entlastet; eine Konjunkturausgleichsrücklage nach dem Modell des deutschen Stabilitätsgesetzes von 1967, die antizyklisch Mittel für Investitionen bereitstellt; eine Gemeinschaftsanleihe, mit der Eurobonds ausgegeben werden; die Vollendung der Bankenunion durch eine europäische Einlagenversicherung; ein Koordinierungsgremium für die Wirtschaftspolitik.

Um das Europäische Sozialmodell abzusichern, bräuchte man ein Europäisches Sozialprotokoll, das die sozialen Rechte vertraglich den Marktfreiheiten gleichstellt. Die EU sollte soziale Mindeststandards (z. B. Mindestlöhne, Sozialausgabenniveau, Korridore für Unternehmenssteuersätze) festlegen und durch einen sozialen Stabilitätspakt verankern.

Eine gemeinsame Einwanderungspolitik sollte nicht versuchen, Mitgliedstaaten zur Aufnahme von Geflüchteten zu zwingen, sondern zunächst Asylregelungen vereinheitlichen. Die EU braucht ein System für legale Zuwanderung. Länder, die viele Zugewanderte integrieren müssen oder wollen, könnte die EU durch Zuweisung von Mitteln für Infrastrukturinvestitionen unterstützen.

Zukünftige Herausforderungen

Um den Politikwechsel in der EU zu beschleunigen, könnte eine Koalition der willigen Mitgliedstaaten vorangehen, wie es die Verträge auch vorsehen und es in einigen Politikfeldern schon erfolgte. Eine solche Avantgarde sollte aber nur temporär sein. Besser wäre ein Konsens aller Mitgliedstaaten nach dem Motto „So viel Koordinierung wie möglich, so viel Harmonisierung wie nötig.“ Die Sozialpartner sollten in den Dialog einbezogen werden.

Eine politikstarke EU erlaubt es auch den Nationalstaaten, besser mit den Herausforderungen der Globalisierung umzugehen. Europäische Regeln, etwa für Finanzmärkte, könnten globale Maßstäbe setzen. Ein Europa, das glaubhaft gesellschaftliche Ziele politisch gegen Märkte durchsetzt, wäre sowohl im Inneren attraktiv und besser legitimiert als auch ein Leuchtturm für andere internationale Organisationen und die Welt.

Deutschland spielt bei der Reorientierung Europas eine wichtige Rolle. Es sollte dazu vor allem auch die eigene Wirtschafts- und Sozialpolitik umgestalten und mehr auf sozialen Ausgleich, Kontrolle von Marktmacht und effektivere Integration setzen. In der Europapolitik sollte Deutschland aufhören Reformen zu bremsen (z. B. Bankenunion oder Eurobonds) und stattdessen Vorreiter für die oben vorgeschlagenen Reformen sein.


buch|votum

Hackers Buch ist vor allem für eine Leserschaft aus dem Umkreis der Sozialen Demokratie besonders ergiebig, da seine politischen Werte und Ziele mit den ihren übereinstimmen und er realistische Wege aufzeigt, um sie zu erreichen. Dabei vermeidet er die Pauschalkritik an der EU, wie sie von rechts, aber auch von links geäußert wird, ebenso wie scheinbar attraktive, aber utopische Politikvorschläge. Er will Europa rehabilitieren, indem er versucht, entfesselte und unterregulierte Märkte wieder unter politische Kontrolle zu bringen. Dazu schlägt er konkrete Maßnahmen vor, deren Angemessenheit auch darin sichtbar wird, dass einige von ihnen (z. B. eine gemeinsame europäische Verschuldung für ein Investitionsprogramm) in jüngster Zeit umgesetzt wurden – wenn auch nur unter dem Druck der Coronakrise, die erst eineinhalb Jahre nach Erscheinen des Buches ausbrach.

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Verlag: J.H.W. Dietz Nachf.
Erschienen: Dezember 2018
Seiten: 264
EAN: 978-3-8012-0534-8

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