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Kurzgefasst und eingeordnet von Hanna Fath. Hanna Fath hat Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn studiert. Sie ist Stipendiatin des Instituts zur Förderung publizistischen Nachwuchses in München und arbeitet derzeit als freie Journalistin.
Christina Clemm befasst sich in ihrem Buch mit Frauenhass – wie er wirkt, wen er trifft, welche Formen er annimmt und weshalb aus ihrer Sicht nicht ernsthaft etwas gegen ihn unternommen wird. Frauenhass und die daraus resultierende patriarchale Gewalt sind allgegenwärtig. Sie trifft Frauen in der Sprache, im Netz, in der Medizin, im Beruf, in der Familienplanung und in der Altersversorgung. Hinsichtlich intersektionaler Diskriminierungen betrifft Hass einige Frauen mehr als andere, aber keine bleibt von ihm unberührt. Dabei ist Frauenhass kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem, das dem patriarchalen System innewohnt und dieses stabilisiert. Frauenverachtung wird anerzogen und früh erprobt. Sie ist so weit verbreitet und alltäglich, dass sie kaum wahrgenommen wird. Clemms Diagnose: Die Justiz weigert sich, das Problem zu verstehen, sich fortzubilden und etwas an den Strukturen zu ändern, und die Politik weigert sich, mehr Geld und Ideen in Prävention, Kampagnen sowie in Täterarbeit und Unterstützung der Betroffenen zu investieren.
Geschlechtergerechtigkeit ist ein programmatisches Ziel der Sozialen Demokratie. Basierend auf Statistiken und Erfahrungsberichten macht Clemms Analyse deutlich, wie sehr Diskriminierung aufgrund des Geschlechts auf vielfältige Weise in unsere Gesellschaft eingewoben ist. Sie legt ausführlich begründet dar, warum bereits durchgesetzte Instrumente der Gleichstellung nicht ausreichen und welche Forderungen sich daraus ergeben. Besonders die juristischen Ausführungen geben konkrete Handlungsempfehlungen – beispielsweise eine Anpassung des Strafrechts –, die auch für die Debatte um entsprechende Maßnahmen innerhalb der Sozialen Demokratie interessant sind. Clemms Thesen helfen dabei, feministische Forderungen stark zu machen und den Diskurs mit Zahlen und Daten zu füttern.
Christina Clemm, geboren 1967, ist Fachanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin. Seit fast dreißig Jahren vertritt sie Opfer geschlechtsbezogener, sexualisierter oder in anderer Weise menschenverachtender Gewalt.
Clemm berät unterschiedliche Organisationen zur Prävention und Aufarbeitung geschlechtsbezogener Gewalt. Zuletzt erschien von ihr das Buch „Akteneinsicht – Geschichten von Frauen und Gewalt“ (2020).
Geschlechtsspezifische Gewalt in den Medien
Clemm entlarvt die gesellschaftlich und medial gestützten Narrative, die verhindern, dass die Ursachen von Frauenhass und seine Folgen angegangen werden. So wird nach Femiziden oft von Familiendramen oder Verzweiflungstaten gesprochen. Clemm kritisiert diese romantisierenden Platzhalter, die Opfer und Taten individualisieren und den Opfern häufig noch eine Mitschuld geben. Als Beweggründe für die Taten werden Verzweiflung, Überforderung, Liebe, Minderwertigkeitskomplexe oder sexuelle Triebe angeführt, anstatt die eigentliche Ursache klar zu benennen: Frauenhass. Clemm korrigiert: Die Täter sind nicht wahnsinnig und ihre Taten nicht abwegig oder sinnlos. Sie dienen dem Zweck, die bestehende Gesellschaftsordnung zu stabilisieren, indem sie Frauen von ihren eigentlichen Zielen ablenken, sie behindern und dazu veranlassen, auf die ihnen zugewiesenen Plätze zurückzukehren. Die Bagatellisierung und die Vernebelung der Gründe von geschlechtsbezogener Gewalt verneinen die Notwendigkeit, Frauenhass tatsächlich zu bekämpfen. Statt die Ursachen in den einzelnen Beziehungen oder bei den Frauen zu suchen, muss gefragt werden: Was sind das für Männer? Welchen Männlichkeitsbildern folgen sie? Warum hat sie niemand gestoppt?
Es wäre leicht, sofort effektive Maßnahmen zur Einschränkung geschlechtsbezogener Gewalt zu ergreifen. Dass dies nicht geschieht, ist nur mit dem strukturellen Nutzen geschlechtsbezogener Gewalt erklärbar. Clemms These lautet also, dass patriarchaler Hass nicht bekämpft wird, weil er die herrschenden Lebensverhältnisse stützt. Die Gewalt gegen Frauen bewirkt dabei nicht nur individuell etwas, sie ist gesamtgesellschaftlich antifeministisch, denn sie verhindert die Gleichstellung der Geschlechter und die Freiheit der Frauen. Durch die permanente Gewalt oder auch nur die Möglichkeit, Gewalt zu erfahren, werden Frauen daran gehindert, sich weiterzuentwickeln und in ihren Lebensentwürfen voranzukommen. Eines der grundlegenden Probleme ist, dass die Opfer meist mit sehr viel mehr sozialer Ächtung rechnen müssen als die Täter – eines der Machtinstrumentarien des Patriarchats. In der Erniedrigung von Frauen eine Wertsteigerung zu erfahren, ist nur in einer Gesellschaft vorstellbar, die auf Ungleichheit beruht. In einer Gesellschaft, in der Männlichkeit mit Deutungshoheit sowie mit ökonomischer und politischer Macht verbunden ist, ist sexualisierte Gewalt als Ausdruck von Potenz nur vordergründig verboten. Statt Freiheit und Gleichberechtigung für alle zu fördern und Differenzen als Bereicherungen zu verstehen, wird die binäre Geschlechterordnung mit ihren traditionellen Rollenzuschreibungen mit allen Mitteln verteidigt – auch und nicht selten mit Gewalt.
Eines der Mittel, um bestehende Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten, ist der alltägliche Sexismus, wobei die Grenzen zwischen Sexismus und Frauenhass fließend verlaufen. Während Sexismus die systematische Benachteiligung, Abwertung, Verletzung und Unterdrückung einer Person oder einer Gruppe aufgrund ihres Geschlechts bezeichnet, äußert sich Frauenhass in handfesten Taten. Nicht jeder Sexismus ist gleich Frauenhass, aber Frauenhass basiert immer auf Sexismus. Sexismus ist dabei keine individuelle, spontan gefühlte Abneigung, sondern eine der Grundfesten des patriarchalen Gesellschaftssystems.
Der Fortschritt in Richtung Gleichstellung verläuft in engen Grenzen. Gleichstellung ist jedoch ohnehin nur als Zwischenschritt erstrebenswert. Denn Gleichstellung in einem maroden und gefährlichen System ist ein schlechter Maßstab; ein guter wäre ein System, in dem alle in Freiheit leben können. Wer eine gerechte Gesellschaft für alle will, dem kann es nicht um Teilhabe an Macht gehen, sondern der muss für ihre Abschaffung kämpfen. Deshalb ist es kein Zufall, sondern Vorsatz, dass Personen, die gegen Rassismus, Klassismus und Sexismus eintreten und somit die Geschlechterordnung grundsätzlich infrage stellen, zurückgedrängt, geschlagen oder sogar getötet werden.
Sexualisierte Gewalt wird nur in den seltensten Fällen verurteilt. Nur zehn Prozent der Betroffenen erstatten Anzeige. Die Gründe dafür sind Angst, Scham oder Sorge, dass ihnen nicht geglaubt wird oder sie stigmatisiert werden. In lediglich acht Prozent dieser angezeigten Fälle werden die Täter verurteilt. Vor Gericht erfahren Frauen also selten justizielles Recht: Gerichte sind voll von misogynen und sexistischen Umgangsweisen, oft unhinterfragt, womöglich unreflektiert. Sich mit verschiedenen Diskriminierungsformen auseinanderzusetzen, ist kein Teil der juristischen Ausbildung. Selbst bei Vorliegen vorausgegangener Drohungen werden Partnerinnentötungen von manchen Strafkammern als spontane Taten bewertet. Die Beurteilung der Motivation nehmen die zur Entscheidung berufenen Richter_innen vor, deren oft nicht hinterfragte Vorstellungen und Werte erheblichen Einfluss auf die Urteile haben. Die Ungerechtigkeit beginnt allerdings schon viel früher: Die mangelnde Repräsentation von Frauen im Recht, insbesondere in seiner Entstehung und Entwicklung, führt dazu, dass ihre Sichtweisen und Interessen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Da Recht und Rechtsprechung ein Ausdruck von Macht sind, muss daher stets die Frage gestellt werden, wer Macht mittels Recht ausüben kann und über Zugänge und Einflussmöglichkeiten auf Rechtssetzung und -anwendung verfügt. Es bedarf einer grundsätzlichen Reform des Strafsystems, wobei juristische Erkenntnisse mit psychologischen, soziologischen und ethischen Erkenntnissen verbunden werden müssen. Bei der Neuregelung sollten jene Tötungsdelikte, die auf Frauenhass oder Geringschätzung von Frauen beruhen, als besonders verwerflich angesehen und entsprechend verurteilt werden.
Mängel im Justizsystem sind auch beim Schutz vor gewalttätigen Vätern zu diagnostizieren. In der Regel wird bei getrenntlebenden Eltern dem Vater auch dann begleiteter Umgang mit den Kindern ermöglicht, wenn er gegenüber der Mutter massiv gewalttätig geworden ist. Denn in Sorgerechtsstreitigkeiten dominiert weiter die Ansicht, Kinder bräuchten beide Eltern und dass ein Mann, der seine Partnerin schlage, deshalb noch nicht per se ein schlechter Vater sei. Selbst wenn sie ihre Brutalität nur auf erwachsene Frauen beschränken, sind die Täter jedoch nicht fähig, Kinder zu erziehen. Denn sie zeigen durch ihre Taten, dass sie die körperliche und seelische Integrität anderer Menschen nicht achten.
Traditionelle sexistische und genderstereotype Rollen werden anerzogen. Sie prägen die Geschlechtsidentitätsfindung von Kindern. Während Mädchen von Anfang an lernen, fürsorglich zu sein, ist Gewalt von klein auf Teil des männlichen Verhaltensspektrums. Dies schlägt sich auch in den jeweiligen Kommunikationskulturen nieder: Mädchen lernen, Konflikte verbal zu klären, Jungs dürfen sich prügeln.
Sexuelle Belästigung subsumiert Clemm unter Variationen sexueller Aggressivität gegenüber Mädchen und Frauen, die in Gesellschaften mit männlicher Vorherrschaft nach wie vor als Objekt des männlichen Zugriffs gelten. Sexualisierte Gewalt hat viele Formen und reicht von verbalen Angriffen über das unerlaubte Berühren von fremden Körpern und das ungewollte Zeigen und Zusenden von sexualisierten Bildern bis hin zum Erzwingen von sexuellen und pornografischen Handlungen, Vergewaltigungen und sexueller Nötigung. Weiblich sozialisierte Menschen werden von Kindheit an darauf vorbereitet, sich vor geschlechtsbezogener und insbesondere sexualisierter Gewalt zu fürchten. Ihnen wird die Verantwortung zugewiesen, sich selbst davor zu bewahren, indem sie sich hinreichend schützen und idealerweise gar nicht erst in Gefahr begeben. Dabei geht in der Debatte oft unter, dass die spezifischen Bedürfnisse von Frauen in der Stadtplanung wenig berücksichtigt werden – eine gendersensible Stadtplanung kann hier Vieles zum Positiven verändern. Trotzdem sind Übergriffe aus dem nahen sozialen Umfeld viel wahrscheinlicher – eine Realität, die noch immer tabuisiert wird. Im privaten wie im öffentlichen Raum würde Prävention bedeuten, Taten zu verhindern. Konkret geht es darum, in Kitas und Schulen eigene Grenzen und die Achtung der Grenzen anderer zu thematisieren, das herrschende Männlichkeitsbild kritisch zu betrachten und zu dekonstruieren sowie zu erklären, wie patriarchale Gewalt funktioniert und sich verbreitet. Kurz: An die Stelle von „Schützt eure Töchter!“ muss „Erzieht eure Söhne!“ treten.
Frauenhass wird als gesellschaftliches Problem verneint und seine Allgegenwärtigkeit infrage gestellt. Zugleich stellen sogenannte Maskulinisten, also Männer, die die Ausübung sexualisierter Gewalt nicht nur hinnehmen, sondern öffentlich proklamieren, ihren Frauenhass öffentlich zur Schau und finden eine Anhängerschaft. Eine Kultur der Überwindung patriarchaler Gewalt muss also vor allem die Männer adressieren: Es reicht nicht, dass sie nicht selbst gewalttätig oder übergriffig sind. Sie müssen andere davon abhalten.
Frauenhass ist auch eine tragende Säule rechtsextremer Ideologien und verbindet Attentäter weltweit – in Oslo, Halle, Hanau oder Christchurch – miteinander, unabhängig davon, ob sie ein geschlossenes rechtsextremes, antisemitisches oder islamistisches Weltbild haben. Antifeminismus und patriarchales Anspruchsdenken sind integrale Bestandteile von autoritären Persönlichkeitsstrukturen, die regelmäßig bei Amokläufern auftreten. Nachforschungen haben zudem ergeben, dass nahezu alle rechtsextremen und dschihadistischen Attentäter vorher aufgrund häuslicher Gewalt aktenkundig waren.
Clemm schlägt die Brücke vom Kampf gegen Sexismus zur reproduktiven Gerechtigkeit. Das Feld der Reproduktion ist schwer umkämpft, denn die Regulierung der Frage, wer wann Kinder bekommen und wer davon abgehalten werden soll, ist ein wichtiges Instrument der Steuerung von Gesellschaften und Staaten. Reproduktive Gerechtigkeit, also das Recht für alle auf sexuelle Autonomie, das Recht, Kinder zu haben oder nicht zu haben und das Recht, Kinder unter sicheren Bedingungen gebären und aufziehen zu können, ist aktuell nicht gegeben. Das kontroverseste und am stärksten polarisierende Thema in der Reproduktion ist der Schwangerschaftsabbruch. Schwangerschaften gegen den Willen der Schwangeren austragen zu müssen, ist Gewalt, und die gesundheitlichen und psychischen Schäden bei den Betroffenen sind massiv. Gemäß Clemms Generalthese geht es dabei denjenigen, die Schwangerschaftsabbrüche verbieten, nicht um das ungeborene Leben, sondern um Macht über Reproduktion als Form patriarchaler Unterdrückung.
Eine weitere Ausprägung von Gewalt im patriarchalen System zeigt sich in der ökonomischen Dimension, beispielsweise in mangelnden Entschädigungszahlungen für Betroffene geschlechtsbezogener Gewalt. Zudem leiden Frauen unter dem Gender-Pay-Gap, unter den Auswirkungen unbezahlter Care-Arbeit sowie unter Eheverträgen, die dazu führen, dass Frauen eher in schlechten und oft von Gewalt geprägten Ehen bleiben als nach einer Trennung in prekären Verhältnissen zu leben. Ökonomische Gewalt ist auch am Wirken, wenn Väter nach der Trennung für ihre Kinder keinen Unterhalt zahlen.
Clemm schließt mit einem umfangreichen Katalog an Forderungen, um Frauenhass und geschlechtsspezifischer Gewalt zu begegnen: Auf der Ressourcenebene fordert sie unter anderem wirksame Täterarbeit, ausreichend Frauenhausplätze und Schutzwohnungen sowie kostenlosen Zugang zu Rechtsvertretungen und fachkundigen Psychotherapeut_innen. Darüber hinaus betont sie aber auch die Wichtigkeit von langfristigem präventivem Engagement für einen gesamtgesellschaftlichen Wandel. Darunter fällt, Solidarität und Empathie einzuüben und auszuüben sowie Täterstrategien zu verstehen, zu bekämpfen und offenzulegen, welche Strukturen die Gewalt bedingen und fördern. Clemm plädiert für ein Nachdenken über die Ehe, über die Ausschließlichkeit von Paarbeziehungen und über die Strukturen von Kleinfamilien. Die Unantastbarkeit der Zweisamkeit ist zu hinterfragen.
Mit „Gegen Frauenhass“ gelingt Clemm ein aufklärerisches Buch, in dem deutlich wird, wie stark unsere Gesellschaft von patriarchaler Gewalt durchdrungen ist und deshalb alle angeht. Frauenhass ist in der Familie genauso verbreitet wie in der medialen Berichterstattung, in der Kulturindustrie, in den Polizeistationen, im Internet, im öffentlichen Raum und in der Sprache. Ohne viel Fachjargon benennt Clemm patriarchale Strukturen und macht klar, dass es Frauenhass ist, der dieser Gewalt zugrunde liegt. In ihren Forderungen nimmt Clemm alle in die Verantwortung, adressiert aber vor allem Politik und Justiz sowie diejenigen, die von der Ungleichheit im binären Geschlechtersystem so häufig profitieren – Männer. Clemm bezieht sich in ihren Ausführungen auf einen fiktiven Femizid-Fall, zitiert aber auch zahlreiche Studien und gibt den von ihr vertretenen Frauen eine Stimme. „Gegen Frauenhass“ ist ein umfassendes, leidenschaftliches feministisches Manifest, das durch juristische Expertise und psychologisches Feingefühl überzeugt.
Verlag: HanserErschienen: 04.09.2023Seiten: 256ISBN: 978-3-446-27731-1