Multipolare Ordnungen tendieren auffällig häufig zu Fünfer-Konstellationen. Als Beispiele können die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates oder das 19. Jahrhundert in Europa angeführt werden. Die ungerade Zahl hat den Vorteil, dass Zweier-Blöcke sich nicht gegenseitig blockieren können, sondern dass es immer ein Zünglein an der Waage gibt, das balancierte Entscheidungen ermöglicht.
Im 21. Jahrhundert wird die Fünfer-Konstellation wahrscheinlich aus den USA, China, der EU, Russland und Indien bestehen. Während Russlands Atomwaffen, Ressourcen und militärische Handlungsbereitschaft das Land im Kreis der großen Mächte halten, steigt Indien durch das große Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum auf. Ob die EU in den Kreis der Großmächte aufrückt, hängt entscheidend von der Einigungsfähigkeit ihrer Mitglieder ab. Deswegen versuchen nicht nur China und Russland, sondern auch die radikalen Republikaner in den USA, die EU, so gut es geht, politisch zu spalten.
Innerhalb dieser Fünfer-Konstellation steht der demokratische Block der USA mit dem Juniorpartner EU dem autoritären Block von China mit dem Juniorpartner Russland gegenüber. Diese bipolare Orientierung führt zu begrenzten Koalitionsoptionen. Eine 4:1-Konstellation ist unwahrscheinlich, was das Anforderungsprofil für Indien als mögliches Zünglein an der Waage handhabbar macht. Ferner handeln die Blöcke nicht vollständig treu. Die EU folgt den USA nicht unbedingt in kriegerische Auseinandersetzungen und umgekehrt; dasselbe gilt für China und Russland.
Diese bipolare Fünfer-Konstellation wird bei der Vermeidung großer Krisen zuverlässiger sein als eine anarchische Weltordnung. Während im Rahmen der uni- und bipolaren Weltordnungen des letzten Jahrhunderts Kriege vor allem in der Peripherie und nicht im Zentrum geführt wurden, kehren sie in einer multipolaren Ordnung durchaus auch wieder in ihre Machtzentren zurück. Der russische Krieg in der Ukraine ist ein erster Vorbote hierfür. Da die Ukraine aufgrund der demokratischen und ökonomischen Attraktivität der EU die russische Einflusssphäre verlassen wollte, drängt Russland sie nun militärisch zum Bleiben. Würde die militärische Bedrohung durch Russland in der Ukraine scheitern, könnte das andere Regionen in und um Russland zu einem Verlassen der Russischen Föderation bewegen. Mit einer Rücknahme der Gewalt durch Russland ist daher nicht zu rechnen.
Während das russische Imperium auf militärischer Bedrohung basiert, wirken die USA und die EU als Imperium per Einladung. In diesen Ordnungen überwiegen die ideologischen und ökonomischen Anziehungseffekte, sodass Länder Mitglied werden oder verbündete Länder in der zweiten Reihe sein wollen. China verfolgt mit seinem Seidenstraßenprojekt eine Doppelstrategie: Zum einen möchte es sich diplomatisch unabhängiger von den USA aufstellen und zum anderen will es durch einen anderen Typ der Entwicklungszusammenarbeit neue Verbündete anziehen und von sich abhängig machen.
Demgegenüber verliert das westliche Modell der Entwicklungszusammenarbeit an Bedeutung, und auch der westliche Anspruch zur globalen Durchsetzung universaler Werte wie Menschenrechte, Demokratie und Marktwirtschaft ist gescheitert. Verweise auf das Völkerrecht stehen unter dem Vorbehalt, dass mächtige Akteure es auch durchsetzen müssen und sich selbst die USA oder die NATO nicht immer daran gehalten haben.
„Man wird davon ausgehen müssen, dass die Polmächte mit ihren je eigenen Werteordnungen auch eine unterschiedliche Auslegung des Völkerrechts pflegen werden. Das gilt vor allem für das Agieren innerhalb ihrer Einflusssphären.“
Um Werteordnungen in den eigenen Einflusssphären durch den Einsatz militärischer und ökonomischer Macht zu verteidigen, bedürfen Großmächte jedoch einer entsprechenden inneren Verfasstheit. Während autoritäre Staaten ihre geopolitische Strategie auch entgegen der eigenen Bevölkerung durchdrücken können, müssen demokratische Staaten ihre Bevölkerungen laufend von diesem Ressourceneinsatz überzeugen. Dabei müssen im Fall der EU die 27 Mitgliedstaaten zwar grundsätzlich einig handeln. Allerdings kann auch nur ein Großteil der EU-Staaten ein gemeinsames Handeln entgegen widerständigen Mitgliedern wie zum Beispiel Ungarn im Falle der Unterstützung der Ukraine gegen Russland organisieren. Auch hier könnte sich eine Fünfer-Konstellation europäischer Großmächte, bestehend aus Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Polen, etablieren, die die Handlungsfähigkeit jenseits der EU, wenn erforderlich, herbeiführen.
Indien ist die große Unbekannte, da es sich bisher eine internationale Zurückhaltung auferlegt hat. Dies liegt auch daran, dass Indien seine Macht noch vollständig aufbauen muss, weil es nur durch die Möglichkeit eines unmittelbaren Rückgriffs auf seine Machtressourcen als Großmacht angesehen wird.