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Kurzgefasst und eingeordnet von Carsten Schwäbe – Carsten Schwäbe hat Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert und arbeitet als Wissenschaftler im Bereich der Innovationsforschung an der Freien Universität Berlin.
Demokratie steht unter Druck: durch autoritäre Bewegungen und Regierungen, aber auch durch die Schwächen ihrer Infrastrukturen wie Parteien und Medien, die als Vermittler zwischen den Regierenden und den Regierten fungieren. Um Demokratie zu schaffen, müssen die eigentlichen Prinzipien der Demokratie, die Bedeutung von Freiheit, Gleichheit und Ungewissheit über den Ausgang von Wahlen und anderer politischer Prozesse geklärt werden. Anstatt von mehr Bildung für die Menschen und mehr Transparenz zu sprechen, sollten auf diese Weise Parteien, Medien sowie die demokratische Selbstwirksamkeit der Menschen konkret und zielgerichtet gestärkt werden. Gerade für die Überwindung von Autoritarismus oder des überbordenden Einflusses Wohlhabender auf die Politik gibt es innovative Vorschläge wie Gutscheine zur Finanzierung von Parteien und Medien.
Müllers Diagnose eines Verlusts an Selbstwirksamkeit trifft sowohl auf Große Koalitionen zu als auch auf andere lagerübergreifende Bündnisse, durch die sich letztlich in vielen wesentlichen Politikfeldern nur wenig ändert, obwohl ganz andere Parteien in die Regierung gewählt wurden. Müller schlägt innovative Instrumente im Geist der Sozialen Demokratie vor, die unter Repräsentation nicht nur die Abbildung von Umfragen im politischen Handeln verstehen. Vielmehr zielt er auf eine Revitalisierung der dynamischen und kreativen Funktion repräsentativer Demokratien ab. Diese erfüllen Parteien und Medien erst durch das fortwährend weiterentwickelte Angebot normativer Vorstellungen, mit deren Hilfe neue politische Selbstbilder mobilisiert werden, die politischen Wandel ermöglichen.
Verlag: Suhrkamp VerlagErschienen: 10.05.2021Seiten: 270ISBN:978-3-518-42995-2
Jan-Werner Müller lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Princeton University, US-Bundesstaat New Jersey.
Er beschäftigt sich mit dem Aufstieg des Populismus in der Welt, um neue Perspektiven für Demokratie und Freiheit zu entwickeln.
2021 sind Demokratien unter den Ländern mit einer Bevölkerung von mehr als einer Million Menschen zum ersten Mal im 21. Jahrhundert in der Minderheit. Nur die Schuld bei den Mächtigen zu suchen, greift zu kurz, weil es letztlich die Strukturen unserer Demokratien sind, die den Aufstieg des Autoritarismus nicht oder nur bedingt aufgehalten haben.
„Über Institutionen nachzudenken, heißt nicht, Politik auf Prozesse zu reduzieren. Entscheidend ist die Prüfung der Prinzipien, die die Regeln des demokratischen Spiels und dessen informelle Normen eigentlich erst beseelen und rechtfertigen. […] Nichtkodifizierte Regeln können mindestens ebenso bedeutsam sein wie Gesetze. Sie halten das demokratische Spiel am Laufen (und vor allem erlegen sie den Spielern Beschränkungen auf, die im Regelwerk gar nicht zu finden sind.)“
Wieso kommt ein undemokratischer Populismus auf demokratischen Wegen an die Regierung? Oftmals sehnen sich die Menschen nicht nach dem Autoritären, sondern drücken mit ihrer Stimme eine Antipathie gegenüber bestehenden Regierungen aus. Das liegt an der ersten von zwei Sezessionen, also tiefgreifenden Spaltungen der Gesellschaft. Während von Wohlstand und Wachstum vor allem die privilegiertesten Gruppen der Gesellschaft profitieren, nehmen soziale Probleme immer weiter zu. Über diese Ungleichheit herrscht jedoch in großen Teilen Intransparenz. Sie ist nicht legitimiert, sondern Resultat von Gier und Macht.
Diese Entkopplung der etablierten Parteien und Eliten von den Menschen ebnet den Weg des Populismus in die Regierung. In Ungarn kam Viktor Orbán wegen Korruption und ökonomischer Stagnation an die Macht. Und Hillary Clinton war für viele amerikanische Linke unwählbar. Im Zweiparteiensystem hilft diese Unzufriedenheit automatisch der Gegenseite, selbst wenn die Donald Trump heißt.
Die zweite Sezession betrifft die Abkehr vieler enttäuschter Bürger_innen am unteren Ende des Wohlstandsspektrums von Wahlen und politischer Beteiligung.
„Politische Parteien haben auch keinen Grund, sich um Leute zu kümmern, die keinen Gebrauch von ihrem Wahlrecht machen. Das verstärkt wiederum den Eindruck der Armen, dass die Politik ihnen nichts zu bieten habe (falls sie es sich überhaupt leisten können, der Politik Aufmerksamkeit zu schenken). […] Die Folge ist ein Teufelskreis, der politische Eliten und ärmere Bürger immer weiter voneinander entfernt; oder, anders gesagt: Politischer Wettbewerb nimmt ab, während ökonomischer Wettbewerb unter den Bürgerinnen und Bürgern immer weiter wächst.“
Diese Abkehr geht so weit, dass manche Menschen sogar akzeptieren, dass die Demokratie Schaden nimmt, solange ihnen Populismus einen vermeintlich erkennbaren Vorteil verheißt.
Wenn Populismus zur Verachtung anderer im Namen eines sogenannten wahren Volkes aufruft, dann wird das demokratische Grundprinzip politischer Gleichheit verletzt. Das geht über Gleichheit vor dem Gesetz hinaus und meint Gleichheit im Zusammenleben, bei der Menschen mit anderen als ebenbürtig gelten. Damit ist nicht Homogenität gemeint. Vielfalt ist vollkommen verträglich mit Gleichheit. Politische Konflikte sind nicht gefährlich, sondern fruchtbar, solange dieser Grundsatz politischer Gleichheit gewahrt bleibt. Nur durch politische Konflikte gibt es eine echte Wahl; ein weiteres Grundprinzip der Demokratie, das über das Abhalten von Wahlen hinausgeht. Damit Menschen ihre Wahlmöglichkeiten abwägen können, müssen inhaltliche und personelle Alternativen auch erkennbar zur Wahl stehen. Erst dann können Menschen für die Stimmabgabe und politisches Engagement mobilisiert werden.
Repräsentation als Prinzip unserer heutigen Demokratie steht in der Kritik. Sie führt zu Unfreiheit, weil die Wählenden politische Macht nicht direkt ausüben können, und zugleich zu Ungleichheit zwischen Abgeordneten und Wählenden. Diese Kritik basiert jedoch auf der Annahme, dass ständige und gleichwertige Beteiligung in einer komplexen Welt möglich seien.
„Repräsentation per se ist weder demokratisch noch antidemokratisch. Dasselbe gilt für Wahlen. Es kommt darauf an, wie sie genau verstanden werden und was geschieht, bevor, vor allem aber nachdem die Repräsentanten gewählt worden sind.“
Demokratische Repräsentation bedeutet auch einen wohlwollenden Umgang mit dem Verlieren: Eine Minderheitenmeinung darf nach einer Wahl nicht delegitimiert werden, sondern soll sich Gehör im politischen Prozess bis zu den nächsten Wahlen verschaffen können.
„Wenn gleiche Freiheit real ist, dann sollte es ihnen möglich sein, den Status quo zu stören und einen Konflikt darüber vom Zaun zu brechen, welche Konflikte am wichtigsten sind.“
Auf diese Weise können sich Regierung und Opposition nie sicher sein, ob sie nach einer Wahl nicht doch die Rollen tauschen. Diese institutionalisierte Ungewissheit ist ein weiteres demokratisches Grundprinzip. Nimmt man die Ungewissheit aus der Demokratie, trifft es nicht nur die Minderheit, der die Chance genommen wird, wieder zur Mehrheit zu werden. Ebenso schützt echte Demokratie auch die Möglichkeit von Mehrheit und Minderheit, die eigene Meinung zu ändern.
„Schockierend war [deswegen im Wahlkampf 2016 Hillary] Clintons beiläufige Bemerkung, dass manche Bürger einfach „nicht zu retten“ seien. Anders gesagt, man brauche gar nicht erst versuchen, mit ihnen zu sprechen, sie für etwas zu interessieren und am Ende vielleicht sogar zu bewegen, ihre Meinung zu ändern.“
Repräsentation sollte daher dynamisch verstanden werden. Parteien bieten Selbstbilder an, die bestimmten Gruppen Ideen und Interessen ihrer Identität vermitteln sollen. Auf diese Weise können Gruppen entlang bestimmter Konfliktlinien organisiert werden.
„Je leichter es ist, Konfliktlinien zu ziehen und bestimmte Darstellungen gemeinsamer Interessen gesellschaftlichen Gruppen anzubieten, desto eher erleben die Bürger ihr politisches System als frei und offen für Wandel. Sie finden heraus, was andere denken und welche konkreten Interessen man mit anderen teilt.“
Leider diagnostiziert die Politikwissenschaft vielen Demokratien eine Tendenz dazu, dass sich ein Regierungswechsel letztlich nicht in einem substanziellen Politikwechsel niederschlägt. Die Sezession der Regierenden von den Wählenden wird dadurch verstärkt, dass selbst bei einer veränderten Wahlentscheidung die Wählenden keine Veränderung wahrnehmen. Oftmals gilt:
„Wenn die Hochvermögenden und die übrige Bevölkerung (nicht nur die Armen) divergierende Präferenzen haben, gewinnen stets die Wohlhabenden.“
Parteien und Medien mobilisieren Gruppen zur demokratischen Meinungsbildung entlang strukturierter sozialer Konflikte. Diese für repräsentative Demokratien zentrale Funktion ist vereinbar mit dem Streben von Parteien nach Wahlsiegen und von Medienunternehmen nach Gewinnen. Um ihrer vermittelnden Funktion zwischen den Wählenden und den Repräsentanten gerecht zu werden, müssen Parteien und Medien nicht nur den externen Pluralismus der Meinungen in einer Gesellschaft darstellen, sondern auch intern eine gewisse Vielfalt zulassen.
Parteimitglieder fühlen sich zwar Grundwerten verpflichtet, müssen aber demokratisch über die politische Umsetzung debattieren. Würde man die Abweichung von der Parteilinie grundsätzlich untersagen, gäbe es keine Möglichkeit mehr, innerhalb der Partei Meinungsänderungen durchzusetzen. Eine loyale, legitime Opposition würde fehlen. Parteien können sich damit nicht erneuern. Daher sind gespaltene Parteien nicht per se ungesund, solange sie zum Schluss noch plausible politische Positionen entwickeln können.
„Das Problem in vielen Ländern ist heute paradoxerweise, dass ein hohes Maß an Polarisierung – ergo auch Politisierung – herrscht, dass die Parteien gleichzeitig aber eigentümlich ausgehöhlt oder gar entpolitisiert sind, und zudem unfähig, als Laboratorien für ein kohärentes Weltbild zu dienen […].“
Medienpluralismus wird oft erst dann erkennbar, wenn er fehlt, zum Beispiel durch die Zensur von kritischem Journalismus oder der Vergabe staatlicher Werbeanzeigen nur an regierungsloyale Medien. Medienpluralismus ist jedoch wichtig, weil er vor einem technokratischen Demokratieverständnis schützt.
„Technokratie und Populismus sind keine diametralen Gegensätze. […] Wer mit den Technokraten nicht übereinstimmt, outet sich als irrational; wer den Populisten widerspricht, gibt sich als Volksverräter zu erkennen. […] Sie sind beide antipluralistisch und sogar antipolitisch, wenn man Politik so versteht, dass die Lösungen sich niemals einfach nur aus Fachwissen oder der Fiktion eines vollkommen einheitlichen Volkswillens ergeben.“
Wie können Parteien und Medien ihrer Funktion als vermittelnde Infrastruktur in Demokratien gerecht werden? Klassische Vorschläge wie mehr Transparenz, Bildung oder einfachere Zugänge sind so simpel wie unspezifisch, um die demokratischen Prinzipien der Selbstwirksamkeit, Chancengleichheit oder Unsicherheit über Wahlergebnisse systematisch zu stärken. Parteispenden können begrenzt oder verboten werden. Dafür können Gutscheine an Menschen ausgegeben werden, die pro Kopf einen gleichen Geldbetrag vorsehen, den die Menschen in die Infrastruktur von Parteien insgesamt oder gestückelt an mehrere Parteien investieren können. Auf diese Weise müssen Parteien sich nicht mehr um einzelne Großspender bemühen, sondern um die Masse der Menschen. Ungenutzte Gutscheine können entsprechend der letzten Wahlergebnisse an die Parteien gezahlt werden. Außerdem können Anhänger von Parteien diese durch die Nichtwahl abstrafen, aber sie finanziell weiterhin unterstützen, sodass Parteien durch ein besonders schlechtes Wahlergebnis nicht mehr unmittelbar existenzgefährdet wären.
„Solche Projekte, die den Bürger*innen eine direkte finanzielle Kontrolle über die demokratische Infrastruktur geben sollen, könnten außerdem das Gefühl stärken, dass es bei den Wahlen mit rechten Dingen zugeht. So ließe sich dem verbreiteten (und oft zutreffenden) Eindruck entgegenwirken, dass Stimmen zwar zählen, aber letztlich doch finanzielle Ressourcen entscheiden.“
Gutscheine können auch zur Finanzierung von Medienunternehmen verwendet werden und dabei zum Beispiel auch journalistischen Neugründungen eine wertvolle Starthilfe bieten. Gemeinnützige Mediengesellschaften können für kleine Geldgeber durch Gutscheine und für größere durch Steuerermäßigungen attraktiv sein. Die Entkopplung der Stimmrechte von der Geldanlage hin zu gleicheren Stimmrechten würde garantieren, dass Medien nicht durch großes Geld dominiert werden. Bedenken über eine stärkere Parteilichkeit von Medien können dadurch entkräftet werden, dass parteiische Ausrichtungen oft bewusst verschleiert werden, wohingegen eine transparente Parteilichkeit kein Problem für die Demokratie darstellen muss.
Die Wahl von Entscheidungsträger_innen per Los, die durch Expert_innen beraten werden sollen, stellt einen eher technokratischen Vorschlag dar, der nicht die Dynamik des kreativen Prozesses repräsentativer Demokratien berücksichtigt. Interessant könnte das Losverfahren jedoch für Fragen der politischen Strukturen und Prozesse wie des Wahlrechts sein, denn:
„Die Wahlkampffinanzierung, die Größe der Parlamente, die Dauer der Amtsperioden – all das sind Fragen, bei denen Abgeordnete möglicherweise für sie selbst existierende Vorteile abschaffen müssen.“
Im Umgang mit populistischen und autoritären Parteien sollten es die Parteien selbst sein, die entscheiden, welche Partei im demokratischen Spektrum liegt und welche nicht. Das mag vor dem Hintergrund möglicher Ausschlusstendenzen gegen neue Parteien zunächst ungewöhnlich klingen. Aber die Parteien müssen auf ihr Bild in der Öffentlichkeit achten und große Parteien lassen sich ohne Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht einfach verbieten.
In seinem neuen Buch konkretisiert Jan-Werner Müller die abstrakte Idee aus Furcht und Freiheit (2019) (https://www.fes.de/akademie-fuer-soziale-demokratie/buch-essenz/buch-essenz-mueller), dass liberale Demokratien Menschen stärker zuhören und insbesondere Furcht ernst nehmen müssen. Parteien und Medien als kritische Infrastruktur der Demokratie kommt hier entscheidende Bedeutung zu, obwohl sie sowohl in Verfassungen als auch im politischen Diskurs stärker infrage gestellt werden. In bemerkenswert verständlicher Sprache führt Müller die Lesenden durch die komplexe Frage, was Demokratie wirklich ausmacht und weist dabei nicht einfach nur auf die Notwendigkeit repräsentativer Demokratie hin. Vielmehr zeigt er auf, dass Repräsentation nicht statisch sein darf.
„Das eigentliche Problem dürfte vielmehr die von vielen gepriesene ‚Stabilität‘ (inklusive idealisierter Bilder von Volksparteien) sein – denn ‚stabil‘ kann auch heißen: Ein Parteiensystem ist unfähig, auf neue Herausforderungen und insbesondere neue Repräsentationsansprüche zu reagieren.“
Parteien und Medien dürfen nicht nur repräsentieren, sondern müssen ihre Grundwerte in den aktuellen Kontext übertragen und neue Ideen aktiv propagieren. Das trifft insbesondere in diesen von sozial-ökologisch-digitalen Transformationen und neuen Herausforderungen geprägten Zeiten zu, in denen Demokratie nicht selten die Verliererseite der Veränderung übersehen hat, weil sie nicht politisch repräsentiert wurde.
Das Buch bietet eine Vielzahl von Ansatzpunkten dafür, wie sich die Soziale Demokratie neu aufstellen muss. In der Ampelkoalition müssen schmerzhafte Kompromisse mitgetragen werden, die keine fundamentale politische Änderung zum Beispiel in Verteilungsfragen mit sich bringen. Die von Müller geforderte Transparenz von mehr Entscheidungsmechanismen sollte hier in und zwischen den Koalitionsparteien gelten, damit die politischen Profile der Parteien erkennbar bleiben. Außerdem müssen sich Parteien, die eine schnellere soziale und ökologische Wende wollen, die Frage stellen, wie sie die Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten ändern können, ganz im Sinne von Müllers kreativem Verständnis von Repräsentation. Anstatt Regierungsbeteiligungen in blockübergreifenden Bündnissen anzustreben, dürfen rote und grüne Parteien sich nicht gegeneinander ausspielen, sondern müssen gemeinsame Mehrheiten von einem echten Politikwechsel überzeugen.