Jean-Philippe Kindler (2023): Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf. Eine neue Kapitalismuskritik, Rowohlt Verlag

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Kurzgefasst und eingeordnet von Gero Maaß.
Gero Maaß ist freiberuflicher Berater und war bis 2020 für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig, u. a. als Leiter der Internationalen Politikanalyse sowie der Büros in Frankreich, Großbritannien, Spanien sowie für die nordischen Länder.


buch|essenz

Kernaussagen

Selflove? Wenn jeder nur an sich denkt, ist an niemanden gedacht. Viele Lebensbereiche sind heute entpolitisiert – ein Effekt neoliberaler, konservativer Leistungsideologie. Dieser neoliberale Glaube an den sozialen Aufstieg durch Leistung ist selbst in linken Kreisen tief verankert. In dieser Logik ist jeder „selbst schuld“, wenn das Leben missrät – so, als gäbe es Chancengleichheit. Mit dieser Erzählung zieht sich die Politik aus der Verantwortung, anstatt allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Armut, Glück, Klimakrise und Demokratie müssen mehr denn je zu politischen Kampfzonen erklärt werden. Gebraucht werden neue Konzepte jenseits des Kapitalismus für ein gutes Leben für alle.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die Hauptadressaten des Buches sind die Linke und ihr politisches Sympathisantenmilieu. Dennoch bietet es Anlass sich zu fragen, ob auch die Soziale Demokratie sich im Klein-Klein des Reformismus verloren hat und die ideologische Aufladung der Identitätspolitik für den zukunftsweisenden Fokus hält. Das Buch fordert also heraus. Es plädiert dafür, das alte Klassenkonzept aus der Schublade zu holen und damit die heutige Gesellschaft neu zu vermessen.


buch|autor

Jean-Philippe Kindler, geboren 1996 in Duisburg, ist Kabarettist und Moderator.

Laut dem Klappentext des Buches beschreibt Kindler sich selbst als berufsmäßiger Provokateur.


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buch|inhalt

Zentrale Lebens- und Politikbereiche wie Armut, Glück, Klimakrise und Demokratie müssen aus der individualistischen Betrachtung herausgeholt und repolitisiert werden. Die genannten Begriffe klingen zwar, als seien sie bereits politisch genug. Doch Kindler erläutert, inwiefern ihre politische Kontextualisierung dem Programm individueller Glücksmaximierung zum Opfer gefallen ist und wo genau die Schwachstellen einer Gesellschaft liegen, in der die steigende Obsession mit dem eigenen Selbst – im Grunde eine pervertierte, europäisch angepasste Form des ohnehin irreführenden American Dream – das Gefühl für kollektive politische Verbundenheit und Verantwortung schwächt.

 

Armut

Die neoliberale Ideologie der Leistung und Selbstwirksamkeit ist auch an der Linken nicht spurlos vorbeigegangen. Die Erzählung von gleichen Chancen und vom Aufstieg hat sich in vielen Köpfen festgesetzt. In der Politik und in den Medien werden Armut wie Reichtum unterkomplex diskutiert. Die Debatten im Nachgang zur Zeitenwende und zur Schuldenbremse machen deutlich, dass politische Projekte nicht an der Finanzierung, sondern ausschließlich am politischen Willen scheitern. Armutsbekämpfung wird an die Zivilgesellschaft mit Vereinen wie etwa den Tafeln ausgelagert und vom ehrenamtlichen Engagement der Bevölkerung getragen.

Statt die Widersprüche und Gefahren kapitalistischer Warenproduktion zu thematisieren, fragen sich Linke immer häufiger, ob Weiße Dreadlocks tragen dürfen. Die Identitätspolitik hat wichtige Anliegen. Doch die Selbstreinigung vom internalisierten Weiß-Sein ändert nichts daran, dass Menschen mit Migrationshintergrund ein mehr als doppelt so hohes Armutsrisiko haben wie der Rest der Bevölkerung. Auch die Quote löst keine Probleme: Die Welt ist keine bessere, wenn auch Frauen, Queere und People of Color in Machtpositionen kommen. Ausbeutung bleibt Ausbeutung. Stattdessen bedarf es der Wiederentdeckung der Klasse. Menschen sollten sich unabhängig von ihrer Herkunft oder politischen Einstellung als Schicksalsgemeinschaft verstehen, die ein ähnliches Leid teilt. Nicht alles an der Identitätspolitik ist falsch. Doch ist es für die Link wichtig, dass sie ein Gebot wieder wichtiger nimmt, weil es die allermeisten Menschen eint: die Zugehörigkeit zu einer Klasse, die nichts besitzt außer der eigenen Arbeitskraft, die sie gegen Lohn eintauscht.

Glück

In den individualistischen Vorstellungen vom guten Leben spielt das Glück eine zentrale Rolle. Dabei wird Glück als etwas verstanden, das unabhängig von sozioökonomischen und politischen Faktoren selbst erarbeitet werden kann, solange die Regeln der richtigen Geisteshaltung im Sinne der positiven Psychologie befolgt werden. Indes sollte Glück keine Ware, kein Ausweis eigener Produktivität, kein Tool für den Einzelnen sein, um sozial aufzusteigen – schon allein deshalb, weil Glück ein subjektiver, inkonsistenter Begriff ist, auch wenn immer häufiger behauptet wird, man könne Glück wissenschaftlich messen. Immer nur von Glück zu reden, aber nie von Armut, das passt nicht zusammen. Auch unter dieser Perspektive ist Identitätspolitik keine hinreichende Antwort auf die Probleme.

Klimakrise

Die konkreten Auswirkungen der Klimaveränderung deuten auf ein Qualitätsproblem der Demokratie hin: Die ältere Bevölkerungsgruppe der über Fünfzigjährigen mandatiert eine Politik, deren Folgen nicht sie selbst treffen wird, sondern die sich in der Minderheit befindlichen jungen Menschen. Vor diesem Hintergrund hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz unterstrichen: Wenn die Politik klimaschädigende Lebensweisen weiterhin uneingeschränkt zulässt, dann wird eine Klimapolitik, welche die Klimaziele ernsthaft verfolgt, ab 2030 zwangsläufig bedeutend autoritärer und freiheitseinschränkender sein müssen. Die neoliberale Formel von Freiheit statt Verboten entpuppt sich damit als infantile Form von Freiheit. Im Namen der Konsumentensouveränität wird ein Kulturkampf inszeniert – wie Markus Söder sagt: „Bei uns darf man essen, was man will, sagen und singen, was einem gefällt“ –, der bei vielen Wähler_innen verfängt.

Statt sich wie in missionarischen klimaaktivistischen Kreisen mit Kritik an SUVs aufzuhalten – keine Frage: Niemand braucht sie –, müssen wir den Fokus auf klimaschädigende Großkonzerne legen. Diese haben ein enormes Interesse daran, dass die Klimakrise als etwas imaginiert wird, was Privatpersonen zu lösen haben. Damit wird die Lösung des Problems in die Hände des Einzelnen gelegt und damit effektiv entpolitisiert.

Auch hinter der Idee der Höherbepreisung von CO2 steckt der Irrglaube, man könne ebenjene Probleme mithilfe von cleveren Marktmechanismen technokratisch lösen. Klimaverträglichkeit und die wachstumsorientierte kapitalistische Produktionsweise sind aber nicht kompatibel. Es ist zwar gut, sich auch privat mit den planetarischen Grenzen zu beschäftigen und die eigene Beteiligung an der Krise zu reflektieren. Der Glaube, man könne die Klimakrise privat lösen, ist allerdings eine gefährliche Form ihrer Entpolitisierung.

Demokratie

Kapitalismus plus alle paar Jahre eine Landtags- oder Bundestagswahl ergibt noch keine funktionierende Demokratie. Zwischen den Versprechen der liberalen Demokratie und den SANIFAIR-Gutscheinen auf Autobahnraststätten gibt es eine große Gemeinsamkeit: Beide basieren im Kern darauf, nicht eingelöst zu werden. Die Wahlbeteiligung liegt in Wahlkreisen mit sozial prekären Verhältnissen deutlich unter der in besser gestellten Regionen. Daraus folgt, dass Menschen nur aus einer gewissen Gleichheit heraus wirklich gleichwertig an politischen Prozessen teilnehmen können.

Linkssein

Linke Politik muss dringend politischer werden. Die meisten der innerlinken Diskurse drehen sich um Fragen der Identität. Im Zentrum steht eine Politik, die die gesellschaftliche Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen ermöglicht. Sie krankt indes daran, dass sie Klassenverhältnisse nicht in ausreichendem Maße mitreflektiert. Es geht um ein vehementes Eintreten für die immanente Verbesserung der Lage ökonomisch benachteiligter Menschen, also um die Überwindung unwürdiger Lebensverhältnisse. Identitätspolitik allein bleibt nur eine – wenn auch berechtigte – Form der Symptombekämpfung.

Die Diskursstrategie der Linken muss in sozialer Hinsicht inklusiver werden und darf nicht nur theorieaffine In-Groups ansprechen: „Die deutsche Linke, damit ist die Partei, vor allem aber diejenigen gemeint, die sich dem Kampf für eine gerechtere Welt glaubhaft verpflichtet haben, muss endlich einsehen, dass linke Politik erfolgreich wird, wenn man sie mehrheitsfähig unter die Bevölkerung bringt. Es ist Ausdruck einer unsäglichen Arroganz, dass mittlerweile die Auffassung herrscht, die deutsche Boomer-Bevölkerung habe erst mal alle sprachlichen Codes zu lernen, bevor man sie in die eigenen Kämpfe mit einbezieht.“ Gelingt dieser Brückenschlag nicht, bleibt die Linke eine Hipster-Linke mit sozialdemokratischem Anstrich.

Das gute Leben

Das Thema Liebe im Kapitalismus zeigt indes, dass es in der Verbindung mit Menschen gerade die sich darin spiegelnde Solidarität ist, die das Leben lebenswert macht. Die politische Schlussfolgerung lautet: Eine Politik des guten Lebens orientiert sich nicht am individualistischen Streben nach Glück, sondern bemüht sich um kollektive Geborgenheit. Es braucht also den Mut, die Frage nach dem guten Leben zu repolitisieren und von der individuellen auf die kollektive Ebene zu hieven: “Das gute Leben ist etwas, was es aus der Masse heraus zu erkämpfen gilt.“


buch|votum

Jean-Philippe Kindler ist auf der Suche nach neuen gesellschaftlichen Konzepten. Er geht mit sich selbst, seiner Generation und den Linken genauso hart ins Gericht wie mit den Konservativen und dem Kapitalismus. Kindler beschreibt, wo die Debatten innerhalb der linken Bewegung in die falsche Richtung gehen und listet ihre größten Widersprüche auf. Dabei lehnt er die ideologisch aufgeladene Identitätspolitik nicht rundheraus ab, vielmehr will er sie auf eine neue, kapitalismuskritische Basis stellen.

Kindler hat ein wütendes, in Teilen nachdenkliches Buch verfasst, das in seinem Grundtenor gegen identitätspolitische Ideologien und jüngere, ichbezogene Generationen stark an Sahra Wagenknechts Die Selbstgerechten von 2021 erinnert. Es ist ein scharfes Plädoyer gegen woke washing und für mehr Klassenbewusstsein und die Repolitisierung zentraler Lebens- und Politikbereiche, das viel nachvollziehbaren Stoff zur linksaktivistischen Selbstreflexion bietet. Zwar folgt man Kindlers Kritik mit viel Sympathie. Am Ende verharrt das Buch jedoch in dieser Kritik. Der Autor folgert aus ihr nichts Wegweisendes. Konzeptionelle, strategische oder taktische Überlegungen für den Weg in eine Gesellschaft kollektiven Glücks sucht man vergebens. Die Umsetzung in konkrete Politik bleibt also dem Leser überlassen. Doch es kommt nicht auf das Gutgemeinte, sondern auf das gut Gemachte an. Sorry, aber da bleibe ich strategisch doch bei meinem Bernstein: Das Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles. Lieber kleine reformistische Schritte vorwärts als das Warten auf Godot mit dem klassenkämpferischen Buchautor.

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Verlag: Rowohlt
Erschienen: 17.10.2023
Seiten: 160
ISBN: 978-3-644-01798-6

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