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Malte Thießen: Auf Abstand

Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie. Frankfurt/M.: Campus Verlag (2021)

Spezialausgabe zur Ringvorlesung
aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums der Verleihung des Friedensnobelpreises an Bundeskanzler Willy Brandt.

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Kurzgefasst und eingeordnet von Rainer Fattmann
Rainer Fattmann ist Historiker, wissenschaftlicher Publizist und Verfasser mehrerer Veröffentlichungen insbes. zur Geschichte der industriellen Beziehungen und zur jüngeren deutschen, europäischen und internationalen Gewerkschaftsgeschichte.


buch|essenz

Kernaussagen

Malte Thießen begibt sich in seinem im September 2021, also kurz vor dem rasanten Anstieg der nunmehr vierten Coronawelle erschienenen Buch Auf Abstand auf eine Spurensuche nach den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen, Wandlungen und Folgen der Pandemie von der Warte der Geschichtswissenschaft aus. Seine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie, so der Untertitel, stellt „die Ereignisse und Entwicklungen des Jahres 2020/21 in den Mittelpunkt, um diese anhand von Rückblicken ins 19., 20. und 21. Jahrhundert einzuordnen“.

Erst die historische Perspektive, so Thießens Überlegung, biete den Schlüssel für ein reflektiertes Verständnis dafür, was Corona auf der einen Seite besonders macht, was aber für den Umgang mit Seuchen andererseits als typisch anzusehen ist. Thießen reflektiert dabei auch die methodischen Herausforderungen, die mit dem Vorhaben, eine „Geschichte der Gegenwart“ zu schreiben, verbunden sind. Da sich die Coronapandemie in einer Vielzahl digitaler Quellen niedergeschlagen hat, von denen unzählige in den nächsten Jahren verloren gehen werden, ist eine erste Bilanz nicht nur möglich, sondern auch besonders dringlich.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Seine Publikation bietet gleich mehrere Ansatzpunkte für eine zugleich nachhaltige und in einem fortschrittlichen Sinn den Werten der Sozialen Demokratie verpflichtete Politik. Zu nennen sind unter anderem die folgenden Punkte:

  • Thießens Coronageschichte plädiert für die Einsicht, dass Pandemien keinen Ausnahmezustand darstellen, sondern – zumal in einer global vernetzten Welt – zunehmend als Normalzustand verstanden werden sollten.
  • Der Autor diskutiert die gewissermaßen im kollektiven Gedächtnis abgespeicherten historischen Erfahrungen mit vergangenen Seuchen, die eine angemessene, sprich: realistische Wahrnehmung der mit dem Coronavirus verbundenen Gefahren zunächst eher erschwerten als erleichterten.
  • Die philosophisch und ethisch herausfordernde, letztlich allein politisch zu beantwortende Frage nach dem Spannungsverhältnis von gesellschaftlichen Solidaritätsansprüchen auf der einen Seite und dem Verlangen nach persönlicher Entscheidungsfreiheit auf der anderen Seite zieht sich wie ein roter Faden durch den Band. Damit werden nicht nur Fragen der gesundheitspolitischen, sondern auch der im weiteren Sinne sozialpolitischen Herausforderungen und Konsequenzen der Pandemie zur Debatte gestellt.

buch|autor

Malte Thießen ist Leiter des Instituts für westfälische Regionalgeschichte in Münster und außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Oldenburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der Gesundheit, der Gesundheitsvorsorge und besonders der Impf- und Seuchengeschichte. Seine 2017 erschienene Habilitationsschrift über die Immunisierte Gesellschaft befasste sich mit der Geschichte des Impfens in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Ohne dass der Autor dies zu diesem Zeitpunkt hätte wissen können, rekonstruierte er so die Vorgeschichte der Impfdebatte, die sich nun seit fast zwei Jahren hinzieht.


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buch|inhalt

Thießen beschreibt zunächst einleuchtend die fast schon vergessene Tatsache, in welchem Ausmaß die sich aufbauende Coronapandemie zu Beginn des Jahres 2020 nicht nur von der Politik und den Medien zunächst massiv unterschätzt wurde, sondern auch von vielen Experten und Expertinnen und der Bevölkerung. Und dies nicht nur in Deutschland. Noch Mitte März 2020 bewertete das Robert Koch-Institut das von Covid-19 ausgehende Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung gerade einmal als mäßig. Die Ursache hierfür sieht Thießen darin begründet, dass das Bewusstsein für das Gefährdungspotenzial von Epidemien in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich abgenommen hat.

Während in den 1960er und 1970er Jahren die konkrete Gefährdung gerade der Jüngeren durch Infektionskrankheiten wie Polio vielen Menschen eine alltägliche Erfahrung war, führten in den folgenden Jahrzehnten erfolgreiche Impf- und Präventionskampagnen dazu, dass nicht nur einst verheerende Seuchen wie die Kinderlähmung, Diphtherie oder auch die Pocken weitgehend besiegt wurden, sondern auch dazu, dass sich das Bewusstsein der Gefährlichkeit von Seuchen aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit und auch der Politik mit der Zeit deutlich verringerte. Die Impfprogramme wurden so bis zu einem gewissen Grad Opfer ihres eigenen Erfolgs.

Nichtsdestotrotz verunsicherten in den zurückliegenden zwanzig Jahren Nachrichten wie über den Ausbruch des SARS-Virus in Hongkong 2002/3 oder die regelmäßig wiederkehrenden Berichte über die weltweite Verbreitung des Vogelgrippe-Virus immer wieder die Bevölkerung auch in Deutschland und Europa. 2014 sorgte die Ebola-Epidemie in Westafrika für einige Wochen noch einmal für Schlagzeilen.

Als fatal für die Bedrohungssensibilität der Coronapandemie erwiesen sich Thießen zufolge allerdings die Erfahrungen mit der Schweinegrippe, die im Herbst 2009 und zum Jahresbeginn 2010 die Öffentlichkeit in Atem gehalten hatte. Während selbst Qualitätsmedien zunächst in zahlreichen Horrorgeschichten über die Gefahren des neuen „Weltvirus“ berichteten und vor zigtausend Toten gewarnt hatten, verlief die neue Grippevariante schließlich glücklicherweise sehr mild. Die von den Bundesländern millionenfach kostspielig angeschafften Impfdosen blieben ungenutzt.

Die Verantwortlichen sahen sich nun harscher Kritik der Medien an einer grandiosen Vergeudung von Steuergeldern durch Hysterie und Panikmache ausgesetzt und blendeten dabei souverän aus, dass der nun selbstgerecht angeprangerte „Alarmismus“ von weiten Teilen der Presse nur wenige Monate zuvor selbst befeuert worden war.

Sündenböcke und Stereotype

Als weitere Erklärung für die 2020 nur zögerlich in Gang gekommene Bekämpfung von Covid-19 zieht Thießen das soziologische Konzept des Othering heran, das maßgeblich Simone de Beauvoir im Rahmen ihrer sozialwissenschaftlichen Theorie über die Geschlechterverhältnisse ausdifferenziert hat

Ähnlich wie bei früheren Seuchen wurde Corona in der Frühphase der Pandemie als „Chinavirus“ und damit auch Krankheit „der Anderen“ angesehen. Bilder von vermeintlich rückständigen Chinesen mit unhygienischen Essgewohnheiten wurden – vereinzelt – selbst von Bundestagsabgeordneten aus dem demokratischen Parteienspektrum bemüht. Die Bilder verstärkten im Frühjahr 2020 eine Woge von Alltagsdiskriminierungen gegen „asiatisch aussehende“ Menschen, die zeitweise beängstigende Ausmaße annahm.

Das Bedürfnis, die unbekannte Bedrohung einzuordnen und der Gefahr ein Gesicht zu geben, suchte sich dann jedoch recht bald andere Adressaten. Seit dem März verschob sich der Fokus der Seuchenängste schnell auf skisportbegeisterte Winterurlauber, Feiernde sogenannter Corona-Partys und die Bevölkerung des Landkreises Heinsberg, der früh und besonders stark von der Pandemie gebeutelt war. Ein Ausbruch in einem fleischverarbeitenden Betrieb der Gütersloher Firma Tönnies verwandelte dann Ende Juni 2020 auf einen Schlag „sämtliche Gütersloher:innen zu leibhaftigen Bedrohungen“ der Volksgesundheit. Selbst im beschaulich-bürgerlichen Münster wurden Autos mit Gütersloher Kennzeichen zerkratzt und Menschen aus Gütersloh beschimpft und beleidigt.

Wendepunkt Bergamo

Zu diesem Zeitpunkt hatten die Ereignisse, die im März 2020 im norditalienischen Bergamo zu beobachten waren, die Stimmung in der Bevölkerung zum Kippen gebracht. Erst nach Bergamo und den von dort gesendeten, an Endzeitfilme gemahnenden Bildern von Kranken und Gestorbenen in überfüllten Krankenhausfluren und von Militärkonvois zum Abtransport der an dem Virus Verstorbenen wurde Corona auch in Deutschland als unmittelbare Bedrohung angesehen.

Hatten sich die meisten gerade noch in trügerischer Sicherheit gewogen, schlug das Pendel nun mit Rasanz in die gegenteilige Richtung um. Folgen waren Panikkäufe haltbarer Lebensmittel, erstaunlicherweise auch von Toilettenpapier, und erstmals seit Jahrzehnten leere Supermarktregale wichtiger Güter des täglichen Bedarfs.

Als sich am 18. März 2020 Bundeskanzlerin Angela Merkel erstmals während ihrer langen Kanzlerschaft in einer Fernsehansprache direkt an die gesamte Bevölkerung in Deutschland wandte, hatte sich Corona endgültig als das politische und gesellschaftliche Zentralthema schlechthin etabliert. Die Pandemie hatte, wie die Kanzlerin erklärte, unsere „Vorstellung von öffentlichem Leben, von sozialem Miteinander [...] auf die Probe gestellt wie nie zuvor“. Ihre „Appelle an eine Verantwortungsgemeinschaft, in der jeder für jeden einstehen müsse, an Selbstverantwortlichkeit und Solidarität für die Schwachen, setzten drei Schwerpunkte der Rede und damit den Tenor für die politische Kommunikation der folgenden Wochen“.

Was aber ist das historisch Besondere an der Coronapandemie?

Die von den Bundes- und Landesregierungen ab dem März 2020 verhängten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie waren in der Geschichte der Bundesrepublik ohne Beispiel und erweckten den Eindruck eines Ausnahmezustands, der nahezu alle Bereiche des öffentlichen Lebens betraf.

Die Sorge um die Alten und Erkrankten und die Solidarität mit den vulnerablen Bevölkerungsgruppen führte dazu, dass das von Politik und Sachverständigen zunächst als medizinisch unsinnig und mit westeuropäischen Wertvorstellungen unvereinbar abgelehnte Tragen von Masken nach Einführung einer Maskenpflicht beim Einkauf und im Nahverkehr Ende April 2020 vom Großteil der Bevölkerung anstandslos akzeptiert wurde. Das galt im Grundsatz auch für die einschneidenden Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen während der wiederholten Lockdowns. Für die Proteste der sogenannten Querdenker und aus dem rechtsradikalen und -populistischen Lager gegen die Coronamaßnahmen findet Thießen in der Seuchengeschichte zahlreiche Parallelen. 

Mehr noch: Als nach Anbruch des Superwahljahres 2021 die politisch Verantwortlichen ähnlich einschneidende Maßnahmen wie im Vorjahr zur Brechung der nunmehr dritten Welle der Pandemie lange Zeit hinauszögerten, sahen sie sich nicht nur der geharnischten Kritik führender Autoritäten im Bereich der Epidemiologie und Virologie wie Melanie Brinkmann ausgesetzt, sondern auch weiten Teilen der Medien und der Öffentlichkeit. Erstmals wurde nun auch der Gedanke einer zuvor von der Politik kategorisch ausgeschlossenen Impfpflicht mit zunehmender Intensität diskutiert.

Medizinhistorisch Versierte erinnerten daran, dass die Impfpflicht gegen verschiedene Infektionskrankheiten (im Verein mit niederschwelligen Impfangeboten) in Ost- und Westdeutschland zu einer der weltweit höchsten Impfquoten geführt hatte. Das in beiden deutschen Staaten bis in die 1970er Jahre gültige, bereits 1874 verabschiedete Reichsimpfgesetz hatte die Pockenimpfung aller Kinder in ihrem ersten und zwölften Lebensjahr jahrzehntelang verbindlich vorgeschrieben.

Die Sorge um Alte und Kranke während der Coronapandemie und die damit begründeten politischen Maßnahmen unterscheiden sich dabei Thießen zufolge fundamental vom Umgang beispielsweise mit der sogenannten Hongkong-Grippe. An ihr starben 1968 bis 1970 weltweit bis zu vier Millionen Menschen. Die Verheerungen dieser Grippe aber sind aus dem kollektiven Gedächtnis erstaunlicherweise völlig verschwunden.

Auch in der alten Bundesrepublik war das Gesundheitssystem im Winter 1969/70 an die Belastungsgrenze geraten. Die Zahl der Verstorbenen wurde nach Abflauen der Pandemie im Frühjahr 1970 auf 50.000 Menschen geschätzt. Insgesamt nahmen Politik und Gesellschaft das massenhafte Sterben anders als in der aktuellen Pandemie mehr oder minder gelassen in Kauf.

Den für eine Einordnung der Gegenwart wichtigsten Grund hierfür sieht Thießen in „einem neuen Erfahrungsraum der Deutschen, die Gesundheit und Krankheit nun anders bewerten“ als noch 50 Jahre zuvor. Seit den 1970er und 1980erJahren hatten fundamentale Verbesserungen der Gesundheitsvorsorge und andere Faktoren den Deutschen nicht nur zu einer Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung verholfen; sie hatten auch Vorstellungen eines erfüllten und aktiven Lebens im „vierten Lebensalter“ nach dem Beruf und überhaupt ein gesundes Leben „als letztes Fortschrittsversprechen der Moderne“ verinnerlicht.

Es kam zu einem breiten gesellschaftlichen Konsens der Gegenwartsgesellschaft, dass auch das Leben der Älteren gegenüber äußeren Bedrohungen wie einer Epidemie zu schützen sei, selbst um den Preis wirtschaftlicher Verwerfungen und Einbußen. Das ist somit nicht nur als historisches Novum zu begreifen, sondern durchaus auch eine tröstliche Erkenntnis.

Allerdings zeigte sich im Verlauf der Pandemie auch, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen in Deutschland von den wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Coronakrise im gleichen Maß betroffen waren. Thießen beschreibt eindringlich, wie die Pandemie nicht allein die Schwächen eines zunehmend an Profitinteressen orientierten Gesundheitssystems offenlegte und verstärkte, sondern auch soziale Ungleichheiten.

Insbesondere wurden mühsam erkämpfte gleichstellungspolitische Geländegewinne wieder zur Disposition gestellt: durch Kontaktbeschränkungen, Kindergarten- und Schulschließungen, die Einschränkung besonders der Dienstleistungsberufe sowie durch die erneute Zuweisung der nun verstärkt anfallenden Carearbeit an die Frauen.

Während die Pandemie zunächst weithin als der große „Gleichmacher“ zumindest zwischen Armen und Reichen rezipiert wurde, gewann im weiteren Verlauf der Pandemie die Einsicht an Boden, dass sich soziale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und zwischen privilegierten und unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen noch verstärkt hatten.

Erst die Zukunft wird erweisen, ob die dann besonders im Frühjahr 2021 – bereits im Zeichen der anstehenden Bundestagswahl – ins Leben gerufenen Landes- und Bundesprogramme zur Abfederung der sozialen Folgen der Pandemie diesen Trend abmildern oder gar brechen konnten und ob sie vielleicht sogar den Beginn eines sozialpolitischen Paradigmenwechsels markieren.


buch|votum

Malte Thießen kontrastiert in seinem Buch die sozialen und politischen Folgen der Coronapandemie mit der Geschichte der Seuchen, die Deutschland und die Welt seit dem späten 19. Jahrhundert heimgesucht haben. Er fragt danach, was am Verlauf der gegenwärtigen Pandemie als besonders anzusehen ist, aber auch, welche aus der Seuchengeschichte bekannten typischen Muster zu erkennen sind.

Auch wenn sich die Darstellung auf Deutschland konzentriert, wird Gesundheit dabei immer als Weltgesundheit verstanden und Thießen kritisiert zu Recht die politisch wie vermutlich auch epidemiologisch höchst fragwürdigen zwischenzeitlichen Abschottungspraktiken der Bundesrepublik gegenüber dem Ausland und selbst einiger Bundesländer innerhalb Deutschlands.

Zugleich wirft das Buch erhellende Schlaglichter auf die vielen strukturellen Probleme, die in diesem Land nicht allein im Gesundheitswesen bestehen, und damit auf grundlegende Fragen des sozialen Zusammenhalts. Es ist somit allen an gesellschaftspolitischen Gegenwartsfragen Interessierten zu empfehlen, zumal es einen trockenen akademischen Jargon vermeidet und durchgehend spannend zu lesen ist.

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Verlag: Campus
Erschienen: 15.09.2021
Seiten: 222
ISBN: 9783593514239

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