Die FES wird 100! Mehr erfahren

Mariana Mazzucato: Mission. Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft

Frankfurt: Campus Verlag (2021)

Zur Verlagsseite

Kurzgefasst und eingeordnet von Thilo Scholle
Thilo Scholle ist Jurist und arbeitet als Referent in der Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft des Bundesministerium für Arbeit und Soziales.


buch|essenz

Kernaussagen

Große technologische und ökonomische Innovationen entstehen durch gesamtgesellschaftliches Handeln, nicht durch einzelne, vermeintlich geniale Erfinder. Mit Blick auf die großen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg entspricht es nicht den tatsächlichen Erkenntnissen, sich eine starre Aufgabenteilung zwischen einem Staat vorzustellen, der maximal durch direkte oder indirekte finanzielle Förderung aktiv wird, und einem ansonsten von weiterer Steuerung unberührt bleibenden Privatsektor.

Mariana Mazzucato erläutert, insbesondere am Beispiel des auf das Ziel einer bemannten Reise zum Mond ausgerichteten amerikanischen Apollo-Projekts der 1960er-Jahre, wie staatliches Handeln durch die Orientierung auf „Zukunftsmissionen“ technologische Innovation antreiben und öffentliche und private Akteure für gesellschaftlich definierte Ziele mobilisieren kann.

Die historische Erörterung dieses „Moonshots“ dient als Ausgangspunkt für die Ableitung allgemeinerer Faktoren für die Entwicklung aktueller „Zukunftsmissionen“, für deren inhaltliche Zielrichtung sie eine Orientierung an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen vorschlägt.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Staatliches Handeln wurde in der deutschen sowie europäischen Öffentlichkeit und über viele Jahre auch in den internen Debatten der Sozialen Demokratie kaum als Treiber technologischer und gesamtwirtschaftlicher Innovation wahrgenommen. Breiten Raum nahm stattdessen die Vorstellung ein, staatliches Handeln fessele die Innovationspotenziale der privaten Wirtschaft und müsse daher möglichst aus der Wirtschaft herausgehalten werden. Mariana Mazzucato bricht mit dieser Vorstellung und zeigt an aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen wie der Bekämpfung des Klimawandels und von sozialer Ungleichheit, wie ein Zusammenspiel staatlicher und privater Akteure in der Bearbeitung großer gesellschaftlicher „Zukunftsmissionen“ funktionieren kann. Damit bietet der Band fruchtbare Anknüpfungspunkte für eine Diskussion über Innovation und Fortschritt, die das Potenzial besitzt, überholte Dichotomien zwischen Staat und Wirtschaft hinter sich zu lassen.

Verlag: Campus Verlag
Erschienen: 19.05.2021
Seiten: 301
EAN: 9783593512747

buch|autorin

Die im Jahr 1968 in Rom geborene Ökonomin Mariana Mazzucato verbrachte einen Großteil ihrer Jugend sowie ihre Studienzeit in den USA. Seit 2017 ist sie Professorin für „Economics of Innovation and Public Value“ am University College London und Gründerin des dortigen „Institute for Innovation and Public Purpose“. Mit dem im Jahr 2014 auch auf Deutsch erschienenen Buch „Das Kapital des Staates: Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum“ sowie dem im Jahr 2019 folgenden Band „Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern“ erlangte sie einen weit über ein wirtschaftswissenschaftliches Fachpublikum hinausgehenden Platz in den öffentlichen Debatten. Zentral für Mazzucatos Arbeiten sind die Fragen, wie ökonomische und gesellschaftliche Innovation und eine auch gesellschaftliche Werthaltigkeit von ökonomischem Handeln entsteht und welche steuernde Rolle staatliches Handeln dabei spielen kann.


Mariana Mazzucato: buch|essenz anhören


buch|inhalt

Geschrieben wurde das Buch während der Corona-Pandemie im Jahr 2020. Eine der in dieser Zeit bestätigten Lektionen ist, dass in Krisensituationen ein staatlicher Eingriff in die wirtschaftliche Entwicklung nur dann wirksam ist, wenn der Staat über die entsprechende Handlungsfähigkeit verfügt. Nötig dazu ist ein Selbstverständnis sowohl des Staates bzw. seiner Institutionen wie auch der individuellen handelnden Personen in diesen Institutionen, sich nicht auf eine Rolle als Retter im Falle von Marktversagen zu beschränken, sondern aktiv technologische und ökonomische Entwicklungen gestalten zu wollen. Weder die Lösung der Corona-Pandemie noch die Sicherstellung beispielsweise des Rechts auf Nahrung, auf Obdach oder auf Bildung werden sonst realisierbar sein.

„Die Antworten auf all diese Fragen hängen von der Organisation unserer Wirtschaft ab – nicht nur von den Summen, mit denen sich ein Problem aus der Welt schaffen lässt. Sie hängen ab von der Struktur, der Leistungsfähigkeit und der Art der Partnerschaften zwischen öffentlichem und privatem Sektor. Außerdem erfordern sie die Vision einer anderen Welt, eine Vision der Art von Wachstum, das wir wollen, sowie der entsprechenden Werkzeuge, die uns diese Art von Wachstum ermöglichen. Nur eine solche Vision wird der Wirtschaft die Richtung geben, die jetzt nötig ist.“

Auf ein Schlagwort gebracht ist das Ziel von Mazzucatos theoretisch-praktischen Überlegungen die Entwicklung einer „lösungsorientierten Wirtschaft“.

Gegliedert ist der Band in vier Teile. Teil I durchmisst vor allem einige grundlegende Irrtümer im Verhältnis von staatlichem Handeln und vermeintlich überlegener privatwirtschaftlicher Handlungsfähigkeit. Teil II zeichnet die Entwicklung des für die Studie beispielgebenden amerikanischen Apollo-Projekts der 1960er-Jahre nach und leitet einige allgemeine Erkenntnisse aus diesem Beispiel ab. Teil III macht sich an die Ausbuchstabierung und Anwendung von missionsorientierter Politik, die sich an den siebzehn Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen orientieren könnte. Konkret vorgestellt werden die Missionen „Green New Deal“, „Innovation für eine erschwingliche Gesundheitsfürsorge“ sowie „Verringerung der digitalen Kluft“. Der abschließende Teil IV beschreibt generelle Eckpunkte einer „neuen politischen Ökonomie“, die theoretische Eckpunkte für eine missionsorientierte Politik bilden soll.

Mission mit Startverbot. Was dem nächsten Mondflug im Wege steht

Politisches Handeln im Sinne des „Moonshot“-Prinzips bedeutet die Setzung von Zielen, „die ehrgeizig und inspirierend genug sind, um auf zahlreiche Sektoren und Akteure der Wirtschaft als Katalysatoren für innovatives Denken wirken zu können“. Es geht darum, sich eine bessere Zukunft vorzustellen und öffentliche wie private Investitionen unter der Maßgabe eben dieser Zukunft zu organisieren. Landläufiger Meinung zufolge ist der Staat eine schwer bewegliche Maschine, die zu Innovation schlicht nicht fähig ist. Die Rolle des Staates besteht demnach allenfalls im Reparieren, Regulieren oder Umverteilen. Schlüsselprobleme unseres Wirtschaftens werden wir allerdings erst lösen können, wenn wir uns von dieser eingeschränkten Auffassung lösen. Der öffentliche Zweck muss im Mittelpunkt einer als kollektives Unterfangen verstandenen Wertschöpfung stehen. Unbrauchbar ist daher der Begriff von „Partnerschaft“ zwischen Wirtschaft und Staat. Wesentlich passender ist die Vorstellung eines symbiotischen und mutualistischen Ökosystems aus und um Staat und Wirtschaft, das Risiken und Früchte gleichmäßiger verteilt als bisher.

„Leider ist in unserer heutigen Zeit diese Beziehung allzu oft parasitärer Art; so ist etwa die Finanzierung des öffentlichen Gesundheitswesens so strukturiert, dass vom Steuerzahler finanzierte Medikamente für eben diesen Steuerzahler zu teuer sind und Bails-outs in Krisensituationen die Risiken, aber nicht die Gewinne sozialisieren.“

Der Kapitalismus in seiner aktuellen Ausprägung hat zur Lösung der Menschheitsprobleme wenig beizutragen. Im Gegenteil: Statt einen Weg nachhaltigen Wachstums zu gehen, hat dieser Kapitalismus „zur Entstehung von Ökonomien geführt, die für Spekulationsblasen sorgen, das ohnehin schon immens wohlhabende ‚1 Prozent‘ weiter bereichern und dabei obendrein den Planeten zerstören“. Hintergrund sind das kurzfristige Denken auf dem Finanzsektor, die Finanzialisierung der Wirtschaft, die Klimakrise sowie ein „träger oder überhaupt fehlender Staat“.

Fünf ökonomisch-theoretische Mythen stehen dem gesellschaftlich-ökonomischen Fortschritt im Weg:

· „Nr. 1: Risikobereite Unternehmen schöpfen Wert; der Staat ist nur Mittler, der Risiken reduziert.“

· „Nr. 2: Sinn und Zweck des Staats bestehen im Reparieren von Marktversagen.“

·  „Nr. 3: Der Staat ist wie ein Geschäft zu führen.“

· „Nr. 4: Outsourcing spart dem Steuerzahler Geld und senkt Risiken.“

· „Nr. 5: Der Staat sollte nicht ‚auf Sieger setzen‘.“

Öffentliche und private Investitionen kannibalisieren sich gerade nicht gegenseitig – im Gegenteil, öffentliche Investition kann auch private Investition anziehen.

Mission Possible. Was es zur Realisierung unserer kühnsten Ambitionen braucht

Sechs Aspekte waren für das Apollo-Programm wesentlich: eine von einem starken Zweckbewusstsein erfüllte Vision; Risikofreudigkeit und Innovationsbereitschaft der handelnden Akteure; organisatorische Dynamik, Zusammenarbeit und das Realisieren von „Spill-over“-Effekten über mehrere wirtschaftliche Sektoren hinweg; die Beachtung langfristiger Horizonte; eine auf Resultate und nicht auf einzelne Handlungsschritte fixierte Budgetierung und eine dynamische Partnerschaft zwischen öffentlichem und privatem Sektor.

Wichtig ist, Risiken einzugehen und sich ständig auf neue Informationen und Umstände einzustellen. „Organisationen können Risikobereitschaft fördern oder im Keim ersticken.“ Die Frage ist nicht, ob es eine Bürokratie geben sollte, sondern wie sich diese „in eine dynamische, von Kreativität und Experimentierfreudigkeit beseelte Organisation verwandeln lässt“. Zu beachten ist zudem, dass den Reiz der Apollo-Mission nicht der absolute Endzweck ausmachte, „einen Mann auf dem Mond zu platzieren“. Entscheidend sind die auf dem Weg dorthin geschaffenen gesellschaftlichen Werte samt den technologischen und sonstigen Grundlagen für weitere Entwicklungen und Innovationen, die als „Spill-over“-Effekte gewissermaßen nebenbei entstehen. Die Beispiele von in Folge der Raumfahrtprogramme gelungenen Entwicklungen reichen von der LED-Leuchte über Wasseraufbereitungssysteme, die Computermaus und die Computertomografie bis hin zur Entwicklung des Handstaubsaugers. In diesem Sinne ist das Entscheidende an der Mission Mondlandung nicht die Landung an sich, sondern die gesellschaftliche Mobilisierung mit ihren vielfältigen Entdeckungen und die daran anschließenden weiteren Prozesse und Entwicklungen.

Missionen in Aktion. Welche großen Herausforderungen wir heute angehen sollten

Ein Mangel an aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen für einen missionsorientierten Ansatz besteht nicht. Die im Jahr 2015 von den Vereinten Nationen beschlossenen siebzehn Nachhaltigkeitsziele bieten reichlich Auswahl an möglichen Handlungsfeldern. Darüber hinaus sind sie bereits in einzelne Unterpunkte und Ziele gegliedert, die sich im Wege des missionsorientierten Ansatzes aufgreifen und operationalisieren lassen. Dies gilt etwa beispielhaft für das Ziel Nr. 14 „Leben unter Wasser“, für das im Band eine mögliche Missionsskizze gezeichnet wird. Einzelne Aspekte hier sind etwa die Wiederverwertung von Verpackungsmaterial, die Entwicklung von autonomen Anlagen auf den Weltmeeren zur Entfernung von Plastikmüll sowie die Entwicklung von Mechanismen zur Digestion von Plastik und Mikroplastik, die u.a. durch Aktivitäten in den Bereichen chemische Industrie, Biotechnik, KI-Technologie und Abfallwirtschaft entwickelt werden könnten.

Entscheidend bei der Auswahl einer Mission ist auch, dass sie die Suche nach mehreren Lösungen anstoßen muss und sich nicht auf einen einzigen Entwicklungsweg oder eine Technologie konzentrieren darf. Wichtig ist zudem die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in die Prozesse. Gerade diese Beteiligung bei der Auswahl und Ausgestaltung von Missionen ist ein gesellschaftlich sehr sensibler Aspekt. So lässt sich am Beispiel des Apollo-Projekts zeigen, wie wenig sich beispielsweise die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1960er-Jahre durch die gesellschaftliche Mobilisierung für die Raumfahrt betroffen sah. Dies galt vor allem deshalb, weil ein direkter Nutzen für die Bekämpfung von Armut und Diskriminierung schwarzer Amerikanerinnen und Amerikaner durch diese Mission nicht ersichtlich war.

Ausführlicher spielt Mazzucato die Missionsidee an den drei bereits benannten aktuellen Vorschlägen „Green New Deal“; „Gesundheitsfürsorge“ und „Verringerung der digitalen Kluft“ durch. Auch hier sucht sie immer wieder nach Hinweisen, ob der Nutzen dieser Missionen die Interessen von möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen umfasst.

Die nächste Mission. Ein Neuentwurf der Wirtschaft und unsere Zukunft

Erforderlich ist die Entwicklung einer neuen politischen Ökonomie. Diese sollte sich um sieben Säulen gruppieren. Es braucht einen neuen Ansatz bezüglich des Werts und des kollektiven Prozesses, der für die Schaffung ökonomischer Werte notwendig ist. Geboten ist zudem die Analyse von Märkten und die Marktgestaltung durch staatliches Handeln. Die öffentliche Verwaltung ist so zu organisieren, dass sie Experimentierfreude mit der Fähigkeit verbinden kann, mögliche „Spill-over“-Effekte aus einer Mission auch zur Lösung weiterer gesellschaftlicher Herausforderungen zu erkennen. Wichtig für diesen Zweck ist auch, den nötigen Finanzrahmen an den angestrebten Zielen und nicht umgekehrt auszurichten. Ungleichheit sollte bereits vor und nicht erst mit der Umverteilung entgegengewirkt werden. Die Verteilungsfrage stellt sich also bereits im Produktionsprozess und nicht erst hinterher. Und zu guter Letzt geht es um die Entwicklung symbiotischer Partnerschaften zwischen Staat und Privatwirtschaft.


buch|votum

Staatliches und privatwirtschaftliches Handeln haben mehr miteinander zu tun, als manch populäres Talkshow-Statement bis in unsere Zeit hinein glauben machen will. Staatliches Handeln steht technologischer und ökonomischer Innovation gerade nicht entgegen, sondern ist vielfach der entscheidende Impulsgeber für solche Entwicklungen gewesen. Dass es dabei gerade nicht um simple gesetzliche Rahmensetzung und die Verteilung von Fördergeldern gehen darf, sondern ein wesentlich aktiveres Einbringen nötig ist, zeigt der Band von Mazzucato auf überzeugende Weise.

Dabei muss man sich klarmachen, dass das Prinzip der „Missionen“ nicht trivial ist. Nötig sind eine mutige politische Vorgabe und ein möglichst breiter gesellschaftlicher Konsens hinter dieser Vorgabe. Dies schließt ein, mit der Mobilisierung für bestimmte „Missionen“ möglicherweise andere denkbare Ziele nicht mit gleicher Intensität verfolgen zu können. Größte Herausforderung dürfte die Mobilisierung und Ausbalancierung unterschiedlicher Interessen sein. Welche Missionen gesellschaftlich getragen und letztlich auch von relevanten ökonomischen Akteuren unterstützt werden, ist auch eine Frage von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, die weit über ihre jeweilige Repräsentanz im Parlament hinausgehen.

Die Organisation von verteilungspolitischen „Spill-over“-Effekten könnte zudem auf den Widerstand von Akteuren stoßen, die sich zwar technologiepolitisch und mit Blick auf eigene Profitinteressen durchaus in einer Mission wiederfinden können, dies aber vor allem zu einem sehr eng verstandenen eigenen ökonomischen Nutzen tun wollen. Richtigerweise macht Mazzucato deshalb auch die Prämisse, die Verteilungsfrage müsse sich bereits in der Produktion stellen, zu einem der Bausteine ihrer neuen politischen Ökonomie.

Mit Mazzucatos Ansatz lässt sich eine gemeinwohlorientierte politische Zielrichtung beschreiben, die es schafft, das Zusammenwirken unterschiedlicher Akteure im Sinne eines gesellschaftlichen Ziels ohne bürokratische Steuerung zu bewirken. Die Schaffung von Wert ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess. Mariana Mazzucato bietet eine Grundlage für die Ausbuchstabierung großer Vorhaben einer Politik der Sozialen Demokratie in den kommenden Jahrzehnten.

Zur Verlagsseite

nach oben