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Kurzgefasst und eingeordnet von Carsten Schwäbe – Carsten Schwäbe hat Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert und arbeitet als Wissenschaftler im Bereich der Innovationsforschung an der Freien Universität Berlin.
Olaf Scholz hält die Wirkung politischer Reden und Visionen für überschätzt. Er arbeitet sich stattdessen gern in die Details der Umsetzung von Politik ein. Verhandlungen stehen im Zentrum seiner Strategie. Programmatisch setzt er auf mehr Respekt für die Menschen an der Kasse, im Pflegebetrieb oder in der Gebäudereinigung. Dafür stehen Bürgergeld statt Hartz IV, hohe Löhne und Mindestlöhne beispielhaft.
Schieritz‘ Analyse verdeutlicht, mit welchen Schwerpunkten und Ansätzen Scholz Politik macht. Der Respektsbegriff stellt für ihn eine gelungene Weiterentwicklung der sozialdemokratischen Narrative dar, weil sie nicht nur auf vermeintlichen Aufstiegserzählungen fußt, sondern alle Menschen in den Blick nehmen möchte. Dabei besteht die Gefahr, einfach nur die Meinungen der Menschen zu akzeptieren, statt sie aktiv von einem Weg zu überzeugen. Schieritz´ Buch erschien allerdings bereits wenige Tage vor dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine. Es konnte daher nicht berücksichtigen, dass Olaf Scholz mit seiner Zeitenwende-Rede die Menschen auf diese beispiellose Krisensituation einschwor.
Verlag: S. FISCHERErschienen: 16.2.2022Seiten: 176ISBN: 978-3-10-397158-3
Mark Schieritz ist wirtschaftspolitischer Korrespondent im Hauptstadtbüro der Wochenzeitung „Die ZEIT“.
Er hat Politik und Volkswirtschaft in Freiburg und London studiert und arbeitete zuvor unter anderem in der Finanzmarktredaktion der „Financial Times Deutschland“.
Mark Schieritz‘ Buch ist keine typische Politiker_innen-Biografie. Vielmehr arbeitet er die Methode Scholz heraus und ordnet sie in dessen Biografie und die aktuelle politische Lage ein. Olaf Scholz verbrachte eine bürgerlich geprägte Jugend in Hamburg: Er liebt Bücher und engagiert sich als Schülersprecher und bei den Jusos. Inhaltlich steht Scholz damals klar links in der Partei. Er engagiert sich in der Friedensbewegung und gegen den NATO-Doppelbeschluss.
Nach Jurastudium und Zivildienst gründet er eine Kanzlei für Arbeitsrecht. Er vertritt Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Betriebsräte und Betriebsrätinnen. Insbesondere arbeitete er an Sozialplänen und Beschäftigungsgesellschaften für die Menschen, die in Ostdeutschland von Privatisierungen und Unternehmensinsolvenzen betroffenen sind. Zu dieser Zeit heiratet er Britta Ernst, die als Bildungsministerin der SPD in Schleswig-Holstein und derzeit in Brandenburg arbeitet.
„Für Scholz ist seine Anwaltstätigkeit ein intellektueller Wendepunkt. Die Erfahrung mit der Wirklichkeit gerade im Osten der Republik habe ihn ‚geerdet‘, wie er das einmal in einem Interview beschrieben hat. Sie macht aus dem linken Idealisten einen Mann der Mitte.“
Seine politische Karriere bekommt 1998 neuen Schwung. Er zieht in den Bundestag ein. Im Jahr 2001 wird er für ein paar Monate, bis zur für die SPD verloren gegangenen Wahl, Innensenator in Hamburg. Von 2002 bis 2004 wird er Generalsekretär der SPD und setzt gemeinsam mit Gerhard Schröder die Reformen der Agenda 2010 in der Partei durch. Er tritt mit Schröders Rücktritt vom Parteivorsitz auch selbst als Generalsekretär zurück. Von 2007 bis 2009 folgt er Franz Müntefering im Amt des Bundesarbeitsministers. Mit dem Kurzarbeitergeld zur Beschäftigungssicherung nach der Finanzkrise macht er sich einen Namen. Als die SPD im Bund im Jahr 2009 aus der Regierung ausscheidet, geht Scholz zurück nach Hamburg und wird von 2011 bis 2018 Erster Bürgermeister Hamburgs. Er verhandelt 2018 die erneute Großen Koalition und wird Finanzminister.
Programmatisch wird Scholz oft konservativ gedeutet. Selten fehlt der Hinweis, dass er als SPD-Generalsekretär die Agenda 2010 verteidigte.
„Die Agendajahre sind für das Verständnis des politischen Denkens von Olaf Scholz zentral. Denn was damals in Deutschland passierte, war kein nationaler Alleingang, sondern Teil einer weltweiten Neujustierung der Grenzen zwischen Markt und Staat.“
Früh jedoch entwickelte Scholz seine Position zur Agenda weiter. Er setzte sich schon für Mindestlöhne ein, als SPD und Gewerkschaften sie mit Verweis auf die Tarifautonomie noch ablehnten. Nach der Finanzkrise 2018 führt er das Kurzarbeitergeld ein.
Scholz setzte im Wahlkampf 2021 auf den Begriff des Respekts. Mit Verweis auf den Philosophen Michael Sandel richtet er die Sozialdemokratie nicht mehr am Aufstiegsversprechen aus, sondern korrigiert dessen Schattenseite. Denn der Aufstiegsgedanke machte die SPD zu einer Partei der Leistung.
„Wenn sich die Aufgabe des Staates darin erschöpft, allen die gleichen Bildungschancen einzuräumen, dann bedeutet das im Umkehrschluss: Wer es nicht nach oben schafft, der hat sich eben nicht richtig angestrengt. Dagegen können sich die Gewinner der Illusion hingeben, sie hätten ihren Erfolg selbst verdient, obwohl es häufig andere Gründe gibt. Sandel macht das Leistungsprinzip dafür verantwortlich, dass die gesellschaftlichen Spannungen in vielen westlichen Demokratien zugenommen haben.“
Zumal das Aufstiegsversprechen mehr denn je nicht eingelöst wird. Aber selbst perfekte Chancengerechtigkeit ist problematisch, weil die Verlierer_innen des fairen Wettbewerbs mit ihren Sorgen allein bleiben. Insbesondere die Hinwendung zum Akademischen neigt dazu, anderen Berufe abzuwerten. Menschen sollten jedoch nicht aufgrund irgendeiner Leistung, sondern aufgrund ihres Menschseins und ihrer individuellen Beiträge für die Gemeinschaft an sich akzeptiert werden.
„Scholz sieht das ähnlich. So wichtig gute Bildung sei: Der Aufstiegsimperativ drohe zu einer Herabwürdigung all derer zu führen, die ‚keine akademischen Abschlüsse oder Kreativberufe in Metropolen‘ anstreben […]. Die Lebensweise vieler ‚hart arbeitender Bürgerinnen und Bürger‘ stoße in den kulturellen und ökonomischen Eliten oft auf eine ‚verhöhnende Verachtung‘.“
Dieses Argument des Respekts entwickelt Scholz auch ökonomisch weiter. Ein Akademikerehepaar mit Kindern zum Beispiel braucht die Dienstleistungswirtschaft, um Vollzeit arbeiten zu können. Daher können Menschen in Reinigungs-, Lieferungs- oder Pflegeberufen etwas einfordern. Nicht Sozialtransfers, sondern die Entlohnung selbst muss diese berechtigten Ansprüche widerspiegeln. Deswegen setzt Scholz sich auch für höhere Löhne ein, vor allem den Mindestlohn von 12 Euro, der einen Lebensunterhalt ohne öffentliche Hilfe ermöglichen soll.
Für Scholz ist Politik in erster Linie der Ausgleich von Interessen. Mit Frankreich konnte er etwa vereinbaren, dass beide Länder gemeinsam zunächst eine globale Mindeststeuer anstreben. Erst falls diese scheitern sollte, würde Deutschland Frankreich bei der Einführung nationaler Digitalsteuern in Europa unterstützen. Als dann in den USA Joe Biden Präsident wurde, gab es Bewegung. So konnte Scholz einen echten Durchbruch in der globalen Besteuerung erreichen.
Auch beim Klimaschutz verfolgt er eine Verhandlungsstrategie. Er war skeptisch, wenn gefordert wurde Energie mit höhere Emissionspreisen zu verteuern. Für ihn steht nicht Verzicht, sondern Innovation und die weltweite Durchsetzung grüner Technologien im Vordergrund. In der Welt möchte er einen internationalen Klimaclub zur Kooperation zwischen den Nationalstaaten gründen.
„Ein solcher Klimaclub wäre auch ein Bruch mit der bisherigen Klimadiplomatie. Die zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die Staaten auf internationalen Konferenzen so lange verhandeln, bis sich alle einig sind. Das funktioniert aber immer weniger, weil die Vereinbarungen entweder […] nicht ambitioniert genug sind oder weil sich niemand an die Vorgaben hält.“
Scholz hält gesellschaftlichen Zusammenhalt für eine notwendige Voraussetzung für Transformationen. Ohne ein hohes Maß an gesellschaftlicher Übereinstimmung funktioniere die Demokratie nicht, weil die demokratisch unterlegene Seite dann das System infrage stelle.
„Scholz ist der Meinung, dass es in den meisten Themengebieten eigentlich nur einen echten Experten gibt: Scholz. In der Rentendebatte hat er nur halb im Scherz einmal gesagt, es gebe in Deutschland nur eine Handvoll Leute, die das Rentensystem wirklich verstünden. Er sei einer davon. Tatsächlich gibt es nur wenige Spitzenpolitiker, die sich so methodisch und strukturiert in Sachverhalte einarbeiten wie Olaf Scholz.“
Scholz‘ Interesse an den Detailfragen hängt auch damit zusammen, dass er glaubt, erst die Umsetzung sei entscheidend für den Erfolg einer politischen Maßnahme. Die Bedeutung von Visionen oder großen Reden hält er für überschätzt. Das kann die Herausforderung mit sich bringen, neue Mehrheiten für zunächst unpopuläre Maßnahmen zu gewinnen, wenn die Ergebnisse des politischen Handels noch ausstehen.
Scholz‘ Verständnis von Respekt und der Fokus auf den breit verhandelten Kompromiss bergen aus Sicht von Schieritz eine Gefahr, wenn es um grundsätzliche Richtungsentscheidungen geht, bei denen Menschen nicht nur mitgenommen, sondern auch überzeugt werden müssen.
„Die Demokratie wäre in dieser Sichtweise letztlich eine Schönwetterveranstaltung, die mit existenziellen Meinungsverschiedenheiten nicht richtig umgehen kann. Das wird aber zum Problem, […] wenn es um existenzielle Dinge geht und trotzdem gehandelt werden muss.“
Schieritz schlägt einen Theoriewechsel vor. Die Gesellschaft sollte nicht nur als Einheit gesehen werden, sondern auch als Ort sehr unterschiedlicher politischer Einstellungen. Demokratische Debatten können sie jedoch beeinflussen. Dementsprechend hat Politik das Recht, wenn nicht sogar die Pflicht, der Gesellschaft mit neuen Ideen entgegenzutreten, auch mit zunächst unpopulären, aber notwendigen politischen Positionen. Das gilt zum Beispiel für die Widerstände beim Ausbau erneuerbarer Energien oder notwendigen Verzicht zur Erreichung der ambitionierten Klimaziele. Helmut Kohl habe aus Sicht von Schieritz den Euro auch gegen Widerstände in Deutschland durchgesetzt. Heute findet der Euro eine breite Zustimmung. Es bleibt abzuwarten, wie Scholz sich verhalten wird, wenn seine Methode auf Situationen trifft, die ihm nicht Zeit und Mittel für konsensorientierte Verhandlungen zulassen.
Schieritz Buch macht deutlich, wie wichtig der Fokus auf Respekt für Neuorientierung der SPD und Scholz war. Er zeigt die Hintergründe, die Stärken der Methode Scholz und sieht die Herausforderung trotz Verhandlungsorientierung Mehrheiten zu überzeugen. Scholz setzt darauf, mit Ergebnissen zu überzeugen. Seine Kritik am Verhandlungsansatz von Scholz stammt noch aus der Zeit vor dem russischen Krieg in der Ukraine, weswegen Schieritz nicht die Zeitenwende-Rede oder andere richtungsweisende Maßnahmen wie den Doppel-Wumms von Olaf Scholz in seiner Analyse mitberücksichtigen konnte. Dass er aber durchaus auch dafür ist, mit Maßnahmen voranzugehen und Menschen davon überzeugen zu wollen, hat Olaf Scholz im ersten Jahr seiner Kanzlerschaft aufgezeigt, auch unter den schwierigen Verhandlungsbedingungen in der Ampelkoalition. Es bleibt abzuwarten, mit welchen politischen Ansätzen Olaf Scholz bei den künftigen Transformationsherausforderungen agieren wird, ob mit Verhandlungen im Konsens oder durch eigene Initiativen, von denen er die Menschen überzeugen möchte.