Diese Webseite verwendet Cookies
Diese Cookies sind notwendig
Daten zur Verbesserung der Webseite durch Tracking (Matomo).
Das sind Cookies die von externen Seiten und Diensten kommen z.B. von Youtube oder Vimeo.
Geben Sie hier Ihren Nutzernamen oder Ihre E-Mail-Adresse sowie Ihr Passwort ein, um sich auf der Website anzumelden.
Zur Verlagsseite
Kurzgefasst und eingeordnet von Paula Schweers– Paula Schweers arbeitet nach Stationen in Politik und Wissenschaft für das ARTE Magazin und als freie Journalistin und Autorin. Ihr Debütroman „Lawinengespür“ erschien 2023 bei der Frankfurter Verlagsanstalt.
Marlen Hobrack erzählt in ihrem Buch Klassenbeste entlang der Biografie ihrer Mutter die Geschichte eines Aufstiegs aus der Arbeiterklasse in die Mittelschicht, die jedoch nie ganz gelingen kann. Hobrack untersucht, wie die Herkunft aus einem bildungsfernen Haushalt sie geprägt hat und verknüpft dabei private Erfahrungen mit aktuellen gesellschaftlichen Debatten. Wichtig ist ihr, bestehende Klassenaufstiegsmythen zu dekonstruieren und die Lebensleistung von ostdeutschen Arbeiterinnen sichtbar zu machen. Dementsprechend lauten die zentralen Thesen des Buchs:
Die Diskussion um Benachteiligung und Ausgrenzung aufgrund der sozialen Herkunft – in der Wissenschaft als Klassismus bezeichnet – hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Die Erhöhung der Lebenschancen der Menschen durch Bildung und durch Strategien zur Überwindung sozialer Ungleichheit sind zentrale Anliegen der Sozialen Demokratie. Diese Debatten bereichert Marlen Hobrack um den wichtigen Aspekt einer intersektionalen Perspektive, der einen Fokus auf ostdeutsche Verhältnisse legt.
Marlen Hobrack wurde 1986 in Bautzen geboren. Sie studierte Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften und arbeitete anschließend für eine Unternehmensberatung. Seit 2016 schreibt sie als Journalistin für Zeitungen und Magazine wie taz, Zeit, der Freitag und Monopol. Im März 2023 erschien ihr erster Roman „Schrödingers Grrrl“ im Hanser Verlag.
Hobrack analysiert entlang der Biografie ihrer 67-jährigen Mutter unsere Gesellschaft, in der der Bildungserfolg der Kinder bis heute vom Status und Bildungshintergrund der Eltern abhängt. Sie hinterfragt dabei feministische Debatten und Aufstiegsmythen und arbeitet heraus, dass die Klassenperspektive und der intersektionale Blick untrennbar zusammengehören. Dabei bezieht sie den historischen Hintergrund mit ein und unterbreitet auch Vorschläge für Änderungen gesetzlicher Regelungen.
Marlen Hobracks Mutter wuchs in der DDR in einem bildungsfernen, armen Elternhaus auf, in dem Gewalt und harte Arbeit zum Leben dazugehörten. Sie selbst arbeitet seit dem Alter von zwölf Jahren. Als Kind und Jugendliche erfuhr sie viel Ausgrenzung. Alternativen dazu, ihren Vollzeitjob und die Erziehung mehrerer Kinder gleichzeitig zu schultern, gab es für sie nicht. Dennoch arbeitete sie sich bis in die Mittelschicht hoch, wurde verbeamtet, arbeitet seit ihrer Pensionierung als Putzfrau und folgt bis heute dem von ihr verinnerlichten Arbeitsethos. Das Konzept der Selbstverwirklichung, das gegenwärtig für viele Menschen so wichtig ist, könnte ihr nicht ferner liegen. Ihre Lebenssituation bleibt von dem von privilegierten Menschen geführten akademischen Richtungsstreit zwischen marxistischer Linker und neuer Identitätspolitik unberührt. Die wichtigsten Kategorien, um ihre Wirklichkeit zu beschreiben, sind Bildung, Zeit und Zweck: Bildung ist zeitintensiv und teuer und somit für Frauen der Arbeiterklasse oft unerreichbar. Sie müssen ihre Zeit zumeist für Sorgearbeit einsetzen und um Geld zu verdienen. In der Generation von Hobracks Mutter kommt das Geschlechterstereotyp der guten, fleißigen Frau hinzu, in dem die Arbeit bis zur physischen und psychischen Belastungsgrenze zum Lebensinhalt erklärt wurde.
Anhand der geschilderten Biografie zeigt sich, dass Analyseansätze, die entweder nur auf Klasse oder allein auf Identitätskategorien wie das Geschlecht fokussieren, blinde Flecken haben müssen. Um gesellschaftliche Ungleichheiten und Ausgrenzungen in allen Facetten aufzuzeigen, ist daher eine Verbindung der beiden Perspektiven nötig. Denn Klasse, Geschlecht und Herkunft überlagern sich gegenseitig; eine Grundannahme die bereits in den 1960er Jahren im Habituskonzept des Soziologen Pierre Bourdieu auftauchte und heute im intersektionalen Feminismus fortgeschrieben wird.
Die Erwerbstätigkeit von Frauen, die Verteilung von Sorgearbeit und die Bedeutung von Mutterschaft sind heute zwar zentrale feministische und familienpolitische Themen. Die Doppelbelastung durch Erwerbs- und Sorgearbeit von Frauen in der DDR sowie in Ostdeutschland nach der Wende wird dabei jedoch nur selten thematisiert. Dasselbe gilt für die Lebensleistung von Frauen, die heute in armen Verhältnissen leben. Ohne diese Verbindung der verschiedenen Analysekategorien ist es aber nicht möglich, die Lebensleistung von Frauen aus der Arbeiterklasse sichtbar zu machen.
Die meistenUngleichheitsanalysen bewegen sich allerdings im Rahmen von Mittelschichtsdiskursen, die sich vor allem mit überzogenen Erwartungen an Frauen und mit der Vereinbarkeit von Kind und Karriere beschäftigen. Die existenziellen Notwendigkeiten, vor denen Frauen aus der Arbeiterklasse stehen, kommen darin nicht vor. Es braucht daher mehr Erzählungen über die Lebenserfahrungen und die Perspektiven dieser Frauen.
Zudem ist es wichtig anzuerkennen, dass die bestehenden Aufstiegsmythen nicht für alle Menschen greifen. Der Aufstieg aus einem armen Herkunftsmilieu ist im Rahmen der derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen bei weitem nicht für alle möglich.
Dass Mutterschaft und gesellschaftliche Teilhabe Klassenfragen sind, zeigt sich indes nicht nur im wissenschaftlichen Kontext an den verwendeten und nicht verwendeten Analysekategorien, sondern auch daran, dass viele gesetzliche Regelungen bis heute eine bestimmte politische Haltung zum Ausdruck bringen. Ein Beispiel hierfür ist das im Jahr 2006 von der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen eingeführte Elterngeld. Offiziell als gleichstellungspolitischer Fortschritt gefeiert, wurden ärmere Familien dadurch de facto benachteiligt. In der zuvor gültigen Erziehungsgeldregelung erhielten erziehende Elternteile 300,00 Euro monatlich über einen Zeitraum von maximal 24 Monaten. In der neuen Elterngeldregelung bekamen geringverdienende Frauen, Arbeitslose, Auszubildende und Studierende zwar weiterhin 300,00 Euro pro Monat, aber nur noch für maximal zwölf statt 24 Monate. Hartz-IV-Empfängerinnen wird das Elterngeld zudem als Einkommen angerechnet, wodurch sich der Hartz-IV-Satz entsprechend verringert.
Beispiele wie dieses zeigen, dass gesetzliche Regelungen neben einem veränderten Blick auf Klasse und Armut wichtige Stellschrauben in Richtung größerer Gerechtigkeit sind.
Marlen Hobrack legt mit der Erzählung der Geschichte ihrer Familie eine berührende und zugleich erhellende Analyse von gesellschaftlicher Ungleichheit vor. Durch die persönliche Erzählweise verringert sich die Distanz gegenüber dem realen Erleben und den Geschichten der Menschen, die bei anderen Analysen dieses Themas oft entsteht, in denen primär mit Statistiken und Fakten gearbeitet wird. Der Verdienst des Buches besteht also vor allem darin, die Lebensrealitäten vieler ostdeutscher Frauen zu Zeiten der DDR und nach der Wende sichtbar zu machen. Für die politische Arbeit ist zudem besonders die Feststellung Hobracks wichtig, dass Reflexionen unserer komplexen Gegenwart nur dann gelingen können, wenn der Blick auf Klasse mit einer identitätspolitischen Perspektive verbunden wird.
Verlag: Hanser-VerlagErschienen: 22.08.2022Seiten: 224ISBN: 978-3-446-27477-8