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Kurzgefasst und eingeordnet von Hanna Fath. Hanna Fath hat Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn studiert. Sie ist Stipendiatin des Instituts zur Förderung publizistischen Nachwuchses in München und arbeitet derzeit als freie Journalistin.
Die Erwartung einer Angleichung des Ostens an den Westen erweist sich angesichts jüngerer Entwicklungen als Illusion. Vielmehr gibt es eine Verfestigung grundlegender kultureller und sozialer Unterschiede. Geprägt durch die Erfahrungen in der DDR und die historischen Weichenstellungen in den Wendejahren wird der Osten anders bleiben – ökonomisch und politisch sowie mit Blick auf Mentalität und Identität. Zwar werden sich die Unterschiede in manchen Bereichen normalisieren. In anderen Bereichen hingegen, beispielsweise hinsichtlich ungleicher Vermögen oder Elitenrepräsentanz, ist es dringend geboten, das Gleichheitsziel vehementer zu verfolgen als bisher. Denn aus den uneingelösten Versprechen der Angleichung ergeben sich viele Enttäuschungen, die von Populisten politisiert werden.
Eine Erkenntnis von Maus Analyse der unterschiedlichen Partizipationsgesellschaften in Ost und West ist, dass klassische Parteien in Ostdeutschland schwach verwurzelt sind. Die politische Kultur ist von einer Parteienpolitikverdrossenheit, kommunal erfolgreichen Kleinstparteien und schwach ausgeprägten Loyalitäten für die etablierten Parteien geprägt. Das erschwert es auch der Sozialen Demokratie, die Menschen in Ostdeutschland zu erreichen und einzubinden. Mau diskutiert vor diesem Hintergrund verschiedene Strategien, mit den Wahlerfolgen der AfD umzugehen, und stellt innovative Partizipationsformen vor.
Steffen Mau, geboren 1968 in Rostock, ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Zuletzt erschien die vielbeachtete, gemeinsam mit Thomas Lux und Linus Westheuser verfasste Studie Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft (2023).
Eine politische Kulturgeschichte von unten
Mau widerspricht der wirkmächtigen Modernisierungsthese, dass es mittelfristig zu einer Angleichung Ostdeutschlands an Westdeutschland kommen wird. Viele heute feststellbaren Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland werden bleiben. Hierzu zählen sowohl objektive Unterschiede hinsichtlich der Demografie und der Sozialstruktur als auch subjektive Unterschiede in den Mentalitäten und Identitäten der Menschen sowie im Bereich der politischen Kultur.
Anstelle einer Angleichung ist eine Verstetigung ostdeutscher Eigenheiten zu erwarten. Im Hinblick auf die Unterschiede zwischen Ost und West lohnt sich die Analyse, welche davon politisch zu bearbeiten sind – z. B. die ungleichen Lebenschancen –, welche sich im Sinne einer Regionalisierung normalisieren könnten – z. B. Soziokulturen und Identitäten – und welche Anlass zur Sorge geben – z. B. Entwicklungen der politischen Kultur und des Wahlverhaltens.
Wie sich in Retrospektivbewertungen der DDR, bei Fragen zur Sicht auf die Transformation oder bei Einschätzungen zu konkreten gesellschaftspolitischen Themen zeigt, haben sich in der politischen Kultur erkennbare und bedeutsame Differenzen zwischen West- und Ostdeutschland festgesetzt. So ist in Ostdeutschland der Eindruck des Zu-kurz-Kommens weit verbreitet, der nicht selten in Ressentiment und eine skeptische Haltung gegenüber staatlichen Institutionen, Politik und Medien umschlägt. Erfahrungen struktureller und biografischer Brüche machen nicht notwendigerweise veränderungskompetenter; sie können auch dazu führen, dass Menschen ihre soziale Energie darauf richten, erneute Einbußen zu vermeiden.
Der Übergang von der friedlichen Revolution zur deutschen Einheit ist eine Form der ausgebremsten Demokratisierung: Im Zeitraum zwischen dem Mauerfall im November 1989 und der Wiedervereinigung im Oktober 1990 hatte sich die DDR-Gesellschaft im Inneren bereits demokratisiert. Ostdeutsche Impulse zu einer gesamtdeutschen Weiterentwicklung der Demokratie blieben jedoch äußerst begrenzt. Ostdeutschland fehlte ein über den Herbst 1989 hinausweisendes emanzipatorisches Projekt mit eigenen Begriffen, Bewusstseinsformen und politischen Zielen. De facto kam es also nicht wirklich zu einer Vereinigung. Vielmehr weitete sich die Bundesrepublik in der Fläche aus und inkorporierte die DDR, ohne größere Berücksichtigung der dort gewachsenen Strukturen und Mentalitäten. Die Ostdeutschen mussten sich im Zuge dessen an von außen kommende Anforderungen anpassen. Viele hatten den Eindruck, überrollt und übernommen zu werden und an Handlungsmacht einzubüßen. Man geriet kollektiv unter Stress und fürchtete, dass die eigenen Leistungen, Traditionen und Gewohnheiten unter die Räder kommen würden – mit verheerenden Folgen für das Selbstwertgefühl und die Erfahrungen politischer Selbstwirksamkeit der Ostdeutschen.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass es im Osten in Bezug auf die DDR-Diktatur kein erinnerungspolitisches Äquivalent zu 1968 im Westen gab. Die Gleichzeitigkeit von westdeutscher Dominanz und ostdeutschen Unterlegenheitsgefühlen führt dazu, dass viele versuchen, das alltägliche Leben in der DDR gegen ein allzu pauschales Diktatururteil zu verteidigen. Für eine kritische Selbstbefragung der Ostdeutschen ist da nur wenig Platz. Auch deshalb blieben ein hartnäckiges Ringen um einen Zugang zur eigenen Geschichte und eine reflektierte Urteilsbildung jedenfalls bei der ostdeutschen Mehrheitsbevölkerung weitgehend aus. Die Aufarbeitung und Beschäftigung mit Verantwortung, Schuld und Mitläufertum kam weniger von unten – als generationale, politische oder kulturelle Bewegung – als vielmehr von oben und erzielte deshalb keine Breitenwirkung im Sinne eines Generationenaufbruchs. Hinzu kommt in diesem Zusammenhang die Nachsicht der Jüngeren mit den Älteren, die in der Nachwendezeit unter dem Transformationsschock litten.
Die ostdeutsche Identitätsbildung lässt sich teilweise auf ein empfundenes Kollektivschicksal zurückführen: die Herkunft aus der DDR, die Transformation und die Position in der sozialen, politischen und diskursiven Landschaft Gesamtdeutschlands. Die ostdeutsche Identität ist das Produkt aus der Entwertung von Biografien, der beruflichen Deklassierung und einem Anerkennungsdefizit. Dieses Gefühl der gesellschaftlichen Zweitklassigkeit ist zwar nicht allein in der vereinigten Bundesrepublik entstanden, sondern schon in der DDR-Erfahrung angelegt. Dennoch kann eine Ostidentität ohne den Westen nicht existieren; sie entsteht vielmehr unter Bezugnahme auf eine westdeutsche Referenzgesellschaft, in deren Normalität die eigene Andersheit gespiegelt und die Gemeinsamkeit mit anderen Ostdeutschen erst erkannt wird. „Die“ Westdeutschen sind für viele Ostdeutsche in diesem Sinne eine relevante Zuschreibungsgröße; die Geschichte von Wiedervereinigung und Transformation bleibt eine grundlegende Referenz bei der Bestimmung der eigenen Position. Dabei müssen Menschen, um das Ost-West-Thema für relevant zu halten, nicht selbst in der DDR gelebt oder die Transformationsphase bewusst erfahren haben.
Die AfD versucht, dieses spezifisch ostdeutsche Zurücksetzungsgefühl für sich zu instrumentalisieren. Ein besserer Umgang hiermit läge jedoch darin, dass Ostdeutsche in Sprecherpositionen gelangen und Identitäten und Betroffenheiten zur Politisierung und Selbstthematisierung nutzen können. Sie müssen erwarten dürfen, dass die Mehrheitsgesellschaft ihrerseits ihren Blick hinterfragt und erweitert.
Die AfD hat das Ost-West-Thema gekapert und inszeniert sich als Ostpartei. Das verfängt in Zeiten von Krisen und Umbrüchen besonders gut, wenn die Sehnsucht nach Stabilität und Zugehörigkeit wächst. Mau erklärt die Dynamik im rechten Spektrum so: In Ostdeutschland waren lange eher apolitische, abwartende, teils apathische Haltungen vorherrschend. Unter Bedingungen gesellschaftlichen Stresses kam es jedoch zu einem Politisierungsschub, und Menschen mit schwachen Loyalitäten für die etablierten Parteien und das politische System insgesamt wanderten in ein rechtsextremes Gesinnungslager ab. Eine wichtige Rolle hierbei spielen weit verbreitete Oben-Unten-Deutungsmuster – das Volk gegen die Elite: Folge die Politik nicht den Meinungen auf der Straße, regiere sie am Volk vorbei oder sogar gegen es. Mau spricht von einer Einforderungsdemokratie statt einer Mitwirkungsdemokratie.
Weitere Faktoren für die Erfolge rechter Akteure in Ostdeutschland sind ein Gefühl der Nichteinbezogenheit in die Politik und ein Grundgefühl des „Hinnehmen-Müssens“. Die Wiedervereinigung wurde als Erfahrung der Entmächtigung abgespeichert; es fehlen Kanäle der Beteiligung und eine Veränderungsmüdigkeit bricht sich Bahn: Der Turbowandel der 1990er Jahre, der neben Freiheiten auch ökonomische Deklassierungen und Unsicherheiten mit sich brachte, hat die Bereitschaft zu weiteren Veränderungen unterhöhlt. Große Teile der Bevölkerung stemmen sich gegen wachsende Diversität oder die sozialökologische Transformation. Hier fällt die Botschaft der Populisten „Alles soll so bleiben, wie es ist“ auf fruchtbaren Boden.
In Ostdeutschland ist eine Verbreitung illiberaler Haltungen, eine Normalisierung eines radikalen Vokabulars und ein sukzessives Abwenden vom demokratischen Grundkonsens zu beobachten. Aus strukturellen und historischen Gründen gibt es im Osten nur ein recht schwaches Band zwischen den Regierenden und den Regierten. Dass die Demokratie in Ostdeutschland auf der Kippe steht, ist auch daran zu erkennen, dass die Konfliktaustragung verroht: Die Grenzen dessen, was als legitimes Mittel des Protests gelten kann, verschieben sich zunehmend und die Konfrontativität steigt. Die breite gesellschaftliche Mitte wird sich nach und nach vom Spielfeld des Politischen verabschieden und radikalen Kräften das Feld überlassen. Die gesellschaftliche Konstitution im Osten ist weniger resilient gegen die strategische Vorwärtsbewegung des Rechtspopulismus und die Verlockungen des rechtsextremen Gedankenguts. Auch deshalb hat die AfD durch ihre Erfolge beim Kampf um Landrats- und Bürgermeisterposten inzwischen ein bemerkenswertes Gewicht erhalten, das ihr Möglichkeiten verschafft, die politische Kultur zu verändern und die Grundfesten der demokratischen Institutionen zu beschädigen.
Das Verständnis demokratischer Verfahren, politischer Partizipation und der Rolle der Parteien ist in Ostdeutschland ein anderes als in Westdeutschland. Dementsprechend muss der politische Raum dort anders gedacht und gestaltet werden. Der Niedergang der demokratischen Parteien, die Stärke der AfD, der Zwang zu ungeliebten Bündnissen und der Aufstieg von Wählerinitiativen und Partikularparteien machen ein „Weiter so“ riskant. Denn eine Revitalisierung der Parteiendemokratie alter Form erscheint in Ostdeutschland unwahrscheinlich; jedenfalls gibt es keine Anzeichen dafür. Stattdessen braucht es eine Wiederbelebung der Demokratie. Hierbei stellen sich zwei Schlüsselfragen: Wie lässt sich die Übermittlung von Interessen organisieren und wie lassen sich Erfahrungen politischer Selbstwirksamkeit herstellen?
Maus Antwort lautet wie folgt: Für Ostdeutschland muss es darum gehen, die Gesellschaft enger mit der Politik zu verbinden und Entscheidungs- und Partizipationsmöglichkeiten jenseits der klassischen Parteien zu vergrößern. Als Reaktion auf die sich vielerorts verschärfende Repräsentations- und Vertrauenskrise sollten Bürgerräte eingeführt werden. Der basisdemokratische und partizipative Impuls, der in Ostdeutschland nach wie vor vorhanden ist, könnte hier ein geeignetes Format finden. In Bürgerräten können Menschen Selbstwirksamkeitserfahrungen machen, die ihnen sonst oft verwehrt bleiben. Auf diese Weise ließe sich eine Politik des Gehörtwerdens realisieren. Verstünde man Ostdeutschland in diesem Licht nicht als Nachzügler, sondern als Vorreiter einer Entwicklung, die so oder ähnlich auch anderswo eintreten könnte, ließe sich die Region zu einem Labor für Experimente mit neuen demokratischen Partizipationsformen machen. Diese Partizipationsformen sind dabei immer als Ergänzung des bestehenden Systems und nicht als Ersatz zu verstehen. Es geht um eine experimentelle Öffnung und Weiterentwicklung von Partizipationsmöglichkeiten, mit dem Ziel, die Zugangsschwellen zur Politik zu senken, dabei aber auf regelbasierte Verfahren zurückzugreifen, damit sich macht- und organisationsstarke Gruppen und Polarisierungsunternehmer mit ihrer Affektpolitik nicht immer stärker durchsetzen.
In der aktuellen Debatte um die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland liefert Steffen Mau mit „Ungleich vereint“ einen differenzierten Beitrag. Ausführlich und nachvollziehbar belegt Mau, wie nachhaltig die DDR, die Wende- und Nachwendezeit in Strukturen und Identitäten nachwirken. Mau geht auch auf die Wahlen in Ostdeutschland im September 2024 ein und diskutiert mögliche Strategien, mit den Erfolgen der AfD umzugehen. Der Text endet konstruktiv, mit konkreten Handlungsoptionen, um die Demokratie in Ostdeutschland wieder zu stärken.
Verlag: SuhrkampErschienen: 17.06.2024Seiten: 168ISBN:978-3-518-02989-3