Michael Sandel: Das Unbehagen in der Demokratie
Was die ungezügelten Märkte aus unserer Gesellschaft gemacht haben. Frankfurt a.M., S. Fischer Verlage (2023)
Kurzgefasst und eingeordnet von Gero Maaß–
Gero Maaß ist freiberuflicher Berater und und war bis 2020 für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig, u.a. als Leiter der Internationalen Politikanalyse sowie der Büros in Frankreich, Großbritannien, Spanien sowie für die nordischen Länder.
buch|essenz
Kernaussagen
Sandel tastet den in der Gegenwart schwächer werdenden Puls der Demokratie ab. Wir stehen vor der grundlegenden Frage, ob Kapitalismus und Demokratie zusammengehen. Zwei Faktoren spielen hierbei eine entscheidende Rolle: Zum einen sind unsere Gesellschaften so gespalten wie nie zuvor. Befeuert durch die sozialen Medien treiben uns rassistische Ausschreitungen, Populismus, soziale Ungleichheit und die Auswirkungen der Corona-Pandemie in die Vereinzelung. Zum anderen hat eine global ausgerichtete, national nicht mehr zu regulierende Wirtschaft der Politik den Rang abgelaufen. Seit 40 Jahren macht der Neoliberalismus aus Bürger_innen Gewinner bzw. Verlierer des globalen Kapitalismus – mit verheerenden Folgen für unsere Demokratie. Der Verlust der Selbstbestimmung und die Erosion der Gemeinschaft sind die definierenden Ängste unseres Zeitalters. Diese werden von der aktuell vorherrschenden Agenda – zumindest bisher – nicht beantwortet
Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie
Sandel genießt in seiner US-amerikanischen Heimat im liberalen, links-demokratischen Lager hohe Anerkennung als Vordenker. Mit seinen Vorlesungen in Harvard, die über das Internet teilweise öffentlich zugänglich sind, avancierte er zum „Popstar“ der Philosophie. Auch bei uns werden die Gedanken des politischen Philosophen sehr geschätzt, nicht nur vom Bundeskanzler. Im Zentrum von Sandels Überlegungen steht das Thema Gerechtigkeit, mit allen seinen Facetten und Rückwirkungen. In seinen Büchern geht es entsprechend um die Reformbedürftigkeit des Kapitalismus, um die problematischen Folgen von Reichtum und um die wachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Sandels Kritik gilt der Selbstherrlichkeit der gesellschaftlichen Eliten. Vielerorts verfängt der Gerechtigkeitsbegriff dieser sich selbst als progressiv verstehenden Parteien nicht mehr. Zudem steht den Eliten eine Gruppe entgegen, die das Gefühl hat, nicht mehr beachtet zu werden – ein Gefühl, das zu unterschwelligem Groll und so zur Entstehung von populistischen Bewegungen führt, etwa mit Trump in den USA, mit Le Pen in Frankreich oder mit der AfD in Deutschland. Diese Entwicklung läuft seit Jahrzehnten und kann sich, wenn nichts dagegen unternommen wird, weiter hochschaukeln
buch|autor
Michael J. Sandel wurde am 5. März 1953 im amerikanischen Minneapolis geboren. Nach einem Philosophiestudium wurde er in Oxford bei Charles Taylor promoviert. Seit 1980 lehrt er an der Harvard University. Sandel wird gemeinhin der kommunitaristischen Strömung der Philosophie zugeordnet und veröffentlicht auch für die breitere Öffentlichkeit bestimmte moralphilosophische Werke, die auch Eingang in politisch-programmatische Debatten im sozialliberalen politischen Spektrum finden. So etwa das im Jahr 2012 auf Deutsch erschienene Buch „Was man für Geld nicht kaufen kann: Die moralischen Grenzen des Marktes“ oder 2020 „Vom Ende des Gemeinwohls“.
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buch|inhalt
Die englische Originalausgabe aus dem Jahr 1996 umfasste zwei Teile. Einer behandelte die US-amerikanische Verfassungstradition, der andere den dortigen öffentlichen Diskurs über die Wirtschaft. Für die aktualisierte, überarbeitete und nun erstmals auch auf Deutsch vorliegende Ausgabe hat Sandel die verfassungsrechtliche Nachzeichnung weggelassen und konzentriert sich stattdessen auf die aktuellen Debatten um die globalisierte Ökonomie. Neben einem Blick zurück auf Wirtschaft und Tugend in der frühen US-amerikanischen Republik wird dabei in Beantwortung der Frage ‘Wozu ist die Wirtschaft da?‘ eine politische Ökonomie der Bürgergesellschaft und deren Demokratie entwickelt.
Im historischen Rückblick
Im historischen Rückblick geht es zentral um die Frage, ob abhängige Lohnarbeit mit den Anforderungen an die demokratische Teilhabe eines freien, mündigen Bürgers vereinbar ist. Während in der frühen Republik noch erhebliche Zweifel daran bestanden, dass eine Person, die für Lohn arbeitet, wirklich frei ist, setzte sich im Zuge der erfolgreichen Industrialisierung im republikanischen Denken die Vorstellung durch, dass abhängige Lohnarbeit mit Freiheit vereinbar sei, weil sie auf einer Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer beruhe und somit freiwillig erfolge. Durch den Streit über Sklaverei wurde die Debatte über Lohnarbeit und freier Bürgerschaft verschärft und verkompliziert.
Der neue Typ von Kapitalismus
Der neue Typ von Kapitalismus, der sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, ist von drei sich wechselseitig verstärkenden Entwicklungen und ideologischen Überzeugungen geprägt: Globalisierung, Finanzmarkt-Kapitalismus und Leistungsgesellschaft. Dieser neue Typus von Kapitalismus brachte das ohnehin bereits schwierige Verhältnis zwischen Bürgergesellschaft, Demokratie und Kapitalismus weiter in Schieflage, indem er die ohnehin schwächer werdende Rolle des Staates in der Ökonomie, die nun immer mehr finanzkapitalgetriebene Struktur des Wachstums und die Verteilung des Reichtums neu definierte. Es ist keine Überraschung, dass dieser neue Kapitalismus seine größten Belohnungen denjenigen zuteilwerden ließ, die bereits Aktien, Anleihen und andere Formen von Vermögen besaßen.
Lange Zeit erlaubte der boomende, kreditfinanzierte Immobilienmarkt auch Menschen aus der Mittel- und Unterschicht ein Leben in der schuldenbasierten Vermögensillusion – bis 2007 die Immobilienblase platzte und eine große Depression nur durch die Rettung der Wall Street mit Steuergeld zu vermeiden war. Die globalen Verknüpfungen der Finanzmärkte zogen nach den USA auch alle anderen Regionen in diese Finanzkrise hinein.
Obama reklamierte in seiner optimistischen Siegesansprache, der Wandel sei nach Amerika gekommen. Tatsächlich folgten aber Jahre, die im Zeichen der Rettung der vom Finanzwesen beherrschten Version des Kapitalismus standen und mit enormen Kosten für Bürger_innen, Immobilienbesitzer_innen, Steuerzahler_innen und Realwirtschaft verbunden waren. Obama behandelte die Finanzkrise dabei nicht als eine zivilgesellschaftliche Frage über die Rolle des Finanzwesens im demokratischen Leben, sondern als ein technisches Problem, das Expert_innen zu lösen hatten. Die Chance, Politik und Wirtschaft aus dem Griff der Hochfinanz zu befreien und die Chance, die Macht der Wall Street zu zügeln, wurde nicht genutzt. Diese Entscheidung befeuerte die Unzufriedenheit mit den beiden großen Parteien und bereitete die Bühne für die populistische Gegenbewegung: „Der Erfolg des rechtslastigen, nationalistischen Populismus ist ganz allgemein ein Symptom für das Scheitern fortschrittlicher Politik.“
Der Rechtspopulismus
Der Rechtspopulismus umfasst dabei zwei Stränge: eine Mobilisierung der Bevölkerung gegen die Eliten und die zügellose ökonomische Macht sowie eine Politik, die in Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus macht. Trump bediente beide Aspekte. Er unternahm jedoch nichts, um die Wall Street in ihre Schranken zu weisen und der Arbeiterklasse zu helfen. Allein seine Handelspolitik – Sichtworte hier wären Rückzug von TPP und China-Zölle – wichen vom republikanischen Mainstream ab. Zuvor ins Werk gesetzte Regelungen vom Umweltschutz bis zur Krankenversicherung baute er gänzlich ab oder höhlte sie bis zur Substanzlosigkeit aus. Über die Steuerpolitik bediente Trump mit seinem plutokratischen Populismus republikanische Wähler_innen mit gehobenen Einkommen; den anderen bot er eine aufgeblasene, aggressive, indes verfängliche America-First-Ideologie.
Geld
Geld spielt in der US-amerikanischen Politik seit Langem eine herausragende Rolle und sichert die Tendenz zur oligarchischen Kaperung der repräsentativen Regierung. Mehr als die Hälfte der Kongressmitglieder sind Millionäre und 95 Prozent der Abgeordneten und Senatoren haben eine vierjährige Universitätsausbildung genossen. Neben dem Finanzkapitalismus und der Globalisierung kommt hier mit der Leistungsgesellschaft die dritte Säule des neuen Typus von Kapitalismus ins Spiel. In den letzten Jahrzehnten sind diejenigen, die ganz oben gelandet sind, zu der Überzeugung gelangt, ihr Erfolg sei auf ihr eigenes Handeln zurückzuführen und das Maß ihrer Verdienste. Vermeintlich gleiche Chancen auf eine möglichst umfassende und weitgehende Bildung spielen hier eine Schlüsselrolle. Die Leistungsgesellschaft als politisches Projekt findet seinen Ausdruck in der beschwörenden Formel, jeder könne so weit aufsteigen, wie seine Anstrengungen und Begabungen ihn tragen.
Chancengleichheit in der Bildung
Einen weiteren Dreh- und Angelpunkt bildete die vermeintliche Chancengleichheit in der Bildung. Unabhängig von ihrem familiären Hintergrund, ihrer Klasse, Rasse, Religion und Ethnie sowie ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung sollten alle imstande sein, so weit aufzusteigen, wie ihre eigenen Anstrengungen und Begabungen es ermöglichen. Selbstverständlich ist dieses Ideal praktisch aber nicht zu verwirklichen. Chancen sind nicht wirklich gleichverteilt. Das Streben nach der perfekten Meritokratie, in der jedes Mitglied der Gesellschaft gemäß seinem Können seine verdiente Position einnimmt, erwies sich als Illusion. Die Beschwörung der Chancengleichheit konnte die Ungleichheit also nicht aufheben. Im Gegenteil: Sie hat die Kluft zwischen Verlierern und Gewinnern eher noch vertieft und sogar legitimiert. Denn wenn die Chancen gleich sind, so das Argument, hätten die Gewinner ihren Sieg verdient.
Die Verlierer fühlten sich abgewertet und wurden oftmals in die Demütigung getrieben – was nicht ohne politische Folgen blieb, verfingen rechtspopulistische Argumentationsmuster bei ihnen doch umso besser und anhaltender. Während früher diejenigen mit geringerer Bildung meist Parteien der Linken attraktiv fanden und die Rechte diejenigen mit mehr Bildung lockte, hat sich dieses Muster in der Ära der Leistungsgesellschaft umgekehrt.
Politik
Politik erweist sich als fortwährender Aushandlungsprozess zwischen dem Notwendigen und dem Möglichen. Die Corona-Pandemie hat mit ihren von Trump auf den Weg gebrachten und später von der Biden-Administration intensivierten Hilfspaketen in Milliardenhöhe gezeigt, dass neue krisenhafte Entwicklungen die Grenze zwischen dem Notwendigen und dem Möglichen verschieben können. Die bereits 1942 im Zeichen des 2. Weltkrieges von Keynes formulierte Einsicht gilt weiterhin: Die eigentliche Herausforderung, die wahrhaft politische Frage, besteht darin, herauszufinden, was wir tun wollen, und sich darüber zu einigen, wie das am besten zu bewerkstelligen ist.
Dieser befreienden Seite des Primats der Politik steht jedoch auch eine ernüchternde Einsicht gegenüber. Zur Steuerung der Wirtschaft ist zukünftig mehr erforderlich als die Beantwortung der Frage nach Wachstum und Verteilung. Die zukünftigen Herausforderungen liegen nicht im fiskalischen, sondern im philosophischen Bereich. Zur Debatte steht die Art und Weise, in der wir miteinander und mit der von uns bewohnten Natur zusammenleben wollen. Dies muss zentraler Teil des öffentlichen Diskurses sein und darf nicht dem Markt und damit letztlich den Reichen und Mächtigen, die ihn kontrollieren, überlassen werden.
Kapitalismus und Demokratie
Kapitalismus und Demokratie stehen also in einem Spannungsverhältnis zueinander. Während der Kapitalismus danach strebt, produktive Tätigkeiten zum Zwecke privater Gewinne zu organisieren, will die Demokratie die Bürger_innen zu gemeinschaftlicher Selbstverwaltung ermächtigen. Die politische Ökonomie der Demokratie versuchte zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlichen Instrumenten und Institutionen das Kapital davon abzuhalten, politische Herrschaft auszuüben, Arbeitskräfte auszubeuten und deren Fähigkeiten als Bürger_innen auszuhöhlen.
Zwei Fragen müssen beantwortet werden, damit unsere Demokratien wieder aufleben können: Wie können wir die Wirtschaft so gestalten, dass sie demokratischer Kontrolle zugänglich ist? Und wie müssen wir unser gesellschaftliches Leben gestalten, damit die zuletzt immer stärker zunehmende Polarisierung wieder abgeschwächt wird und wir befähigt werden, zu effektiven demokratischen Bürger_innen zu werden?
buch|votum
Michael Sandels Buch „Das Unbehagen in der Demokratie“ ist die aktualisierte, vollständig überarbeitete und erstmals auf Deutsch vorliegende Ausgabe seines Klassikers „Democracy‘s Discontent“ – ein Buch, das die Debatten um Neoliberalismus und Kapitalismus entscheidend mitgeprägt hat. In der vorliegenden Neuausgabe führt Sandel seine Analysen mit den Jahren der Präsidentschaften von Bill Clinton, George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump weiter und liefert auch eine Einschätzung der ersten Regierungszeit von Joe Biden sowie der gesellschaftlichen Effekte der COVID-19-Pandemie. Dabei legt Sandel den Finger tief in die Wunden der US-amerikanischen Gesellschaft und Demokratie. Seine Kritik trifft ins Herz der Washingtoner Probleme. Seine Pulsmessung der amerikanischen Demokratie spiegelt indes nicht immer die Situation anderer Demokratien wider. Wem die USA als zentrales Fallbeispiel nicht genügen, dem sei daher der sehr lesenswerte Essay „Geschichte des Kapitalismus“ des Sozialhistorikers Jürgen Kocka ans Herz gelegt.
In den Jahren seit der Veröffentlichung der Erstausgabe hat sich die Unzufriedenheit mit der Demokratie vertieft und so zugespitzt, dass generelle Zweifel an der Zukunftsfähigkeit der amerikanischen Demokratie aufgekommen sind. Die zentrale Frage bleibt aber: Wie stellen wir sicher, dass wieder mehr Bürger_innen aktiv ihre Gesellschaft gestalten? Ein passendes Zitat hierzu lautet: „Turbulente Zeiten veranlassen uns, die Ideale aufzurufen, nach denen wir leben“ – sicherlich unterkomplex, aber auf jeden Fall ein Plädoyer dafür, den Platz des zuschauenden Konsumentens auf dem Sofa mit dem des sich einmischenden Bürgers zu wechseln.
Verlag: S. FISCHER
Erschienen: 24.05.2023
Seiten: 512
EAN: 978-3-10-397498-0