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Christina Morina (2023): Tausend Aufbrüche

Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren, München: Siedler Verlag

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Kurzgefasst und eingeordnet vonGero Maaß.
Gero Maaß ist freiberuflicher Berater und und war bis 2020 für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig, u.a. als Leiter der  Internationalen Politikanalyse sowie der Büros in Frankreich, Großbritannien, Spanien sowie für die nordischen Länder.


buch|essenz

Kernaussagen

Mit ihrer politischen Kulturgeschichte von unten liefert die Autorin neue Einblicke in die Demokratiegeschichten von DDR und BRD. Ihre Recherchen beruhen auf bislang unerforschten Selbstzeugnissen wie Bürgerbriefen, Petitionen und Flugblättern. Daraus rekonstruiert sie die Demokratievorstellungen und das Selbstverständnis ganz normaler Bürger_innen in Ost und West seit den 1980er Jahren.
Die jüngste deutsche Demokratiegeschichte wird üblicherweise als rein westdeutsche, von 1949 über die Vereinigung bis in die Gegenwart reichende Teilgeschichte erzählt – zu der 1989 eine sich aus den SED Fängen befreiende ostdeutsche Gesellschaft hinzukam, die die Demokratie erst dann zu lernen begann. Doch diese Lesart wird der Demokratieanspruchgeschichte der DDR nicht gerecht. Damit soll nicht der Diktaturcharakrer des SED-Regimes relativiert werden. Die Autorin lenkt den Blick indes auf die Alltagserfahrungen vieler ostdeutscher Menschen, die um individuelle Mündigkeit wie einen besseren demokratischen Sozialismus rangen.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die Europawahlen waren für die Soziale Demokratie ein nachhaltig spürbarer Schlag in die Magengrube. Vor diesem Hintergrund gesehen leistet das Buch einen wertvollen Beitrag. In Zeiten kleinteiliger politischer Grabenkämpfe lohnt auch der darin gewährte Blick zurück auf den politischen Gestaltungsoptimismus der Jahre um 1989/90 und die damals vorgebrachten Vorschläge zur Verbesserung der Demokratie.


buch|autorin

Christina Morina, geboren 1976 in Frankfurt/Oder, studierte Geschichte und Politikwissenschaft an den Universitäten Leipzig, Ohio und Maryland und wurde 2007 mit einer Arbeit über den Russlandfeldzug in der deutsch-deutschen Erinnerungskultur promoviert.

Seit 2019 ist sie Professorin an der Universität Bielefeld.


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buch|inhalt

Eine politische Kulturgeschichte von unten

Beruhend auf einer ausgiebigen Archivrecherche liefert Morina in ihrem Buch Material für eine Demokratiegeschichte von unten, in der sie die politischen Kulturen in Ost und West beleuchtet. Unter „politischer Kultur“ versteht sie dabei die Summe der politisch relevanten Einstellungen, Meinungen und Werteorientierungen innerhalb der Bevölkerung.

Aus Quellen wie Bitten und Beschwerden, Briefen an die Bundespräsidenten oder Eingaben von Bürger_innen an die Politik werden zunächst die Demokratieanspruchsgeschichte in Ost und West, der gelebte Alltag in beiden Staaten sowie die Grenzen der sozialistischen Demokratie der DDR rekonstruiert. Es folgt eine intensive Auseinandersetzung mit den demokratischen Aufbrüchen der Jahre 1989 und 1990 sowie mit den Ambivalenzen der Merkel-Jahre.

Zweierlei Demokratieerfahrungen

Im Westen wurde Demokratie als Möglichkeitsraum wahrgenommen und angenommen. Die Analyse der Selbstzeugnisse zeigt ein lebendiges und facettenreiches Bild einer bunten Bundesrepublik. Mit Blick auf die DDR-Gesellschaft wird durch die Analyse der vielfältigen Bürgerpost eine bislang kaum so quellennah beschriebene Politisierung bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein dokumentiert – und das lange vor dem Herbst 1989. Das noch immer weit verbreitete Bild einer erstarrten, apathischen Nischengesellschaft, die sich nach Jahrzehnten des sozialistischen Experimentierens von Staat und Politik gleichermaßen verabschiedet habe, lässt sich vor diesem Hintergrund kaum aufrechterhalten.

Neben Kontrasten offenbart der Vergleich zwischen den Bürgerbriefen in Ost und West auch einige bemerkenswerte Gemeinsamkeiten. In beiden Fällen handelte es sich in den 1980er Jahren um zutiefst bewegte und höchst politisierte Gesellschaften. Für die Bundesrepublik ist dies zwar kein neuer Befund. Interessant ist aber die vielfach sichtbar werdende Bereitschaft zur aktiven Aneignung und Auseinandersetzung mit den Prinzipien des Grundgesetzes – und damit dessen alltägliche und zugleich sinnstiftende Relevanz. Dem in seiner Nachdenklichkeit und Differenziertheit immer wieder beeindruckenden verfassungspatriotischen Engagement in der Breite der Bevölkerung konnte hier anhand einer reichhaltigen Quellenlage erstmals eingehender nachgegangen werden. So debattierte man in der Bundesrepublik intensiv über demokratische Freiheiten oder darüber, wie eine politische Praxis vom Staatsoberhaupt über die Parteien und Parlamente bis in alle Lebensbereiche hinein gestaltet sein muss, um der „Würde eines demokratischen Staates“ gerecht zu werden. Ähnlich eindringlich wurde in der DDR die Demokratie – oft im Zustand einer „Dauerschizophrenie“, wie Christa Wolf es ausdrückte – als staatliches Postulat und alltägliche Utopie verhandelt und damit als Widerspruch an sich. Vorstellungen über Partizipation und Repräsentation, Teilhabe und Mitsprache, Interessenausgleich und die Teilung bzw. Verteilung der Gewalten unterschieden sich in Ost und West dabei fundamental.

Diese Unterschiede fanden ihren Ausdruck nicht nur in den jeweiligen Staatsentwürfen und den damit verbundenen politischen Ordnungssystemen, sondern auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, also in den alltäglichen, persönlichen Lebenslagen, aus denen heraus die Bürger_innen ihren jeweiligen Staat betrachteten: im Westen als eine gestaltungsbedürftige, aber auch gestaltungsoffene Daueraufgabe, im Osten als schicksalhafte, zwischen Verheißung und Verzweiflung changierende Herausforderung im tagtäglichen Vermessen der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit – nicht selten unter dauerhafter Gefahr für Leib und Leben.

Tausend Aufbrüche

Mit dem Mauerfall wurde die plötzlich grundsätzlich infrage stehende DDR zum demokratiepolitischen Abenteuerspielplatz unzähliger ostdeutscher Bürgerbewegungen und -initiativen. Indes wurde die Wende auch zur Hoffnungs- und Projektionsfläche westdeutscher Demokratiereformer, allen voran für die seit Jahren für mehr Basisdemokratie streitenden Kritiker_innen der Parteiendemokratie. In den allgegenwärtigen Forderungen nach mehr Bürgerbeteiligung und Basisdemokratie spiegelte sich die 1949 begonnene DDR-Demokratieanspruchsgeschichte ebenso wider wie die sich seit 1968 intensivierende Demokratiekritikgeschichte der Bundesrepublik.

Ankunft in der Berliner Republik

Mit den Volkskammerwahlen im März 1990 und der anhaltenden Unsicherheit bzgl. der wirtschaftlichen wie außenpolitischen Lage gerieten die meisten der tausend Aufbrüche bald in Vergessenheit. Die demokratische Aufbruchsstimmung des Revolutionsherbstes wich in Ost und West einem Gefühl der Zwangsläufigkeit, das im Beitritt der DDR nach Artikel 23 endete – ohne neue Verfassung, aber mit wohlklingenden Perspektivversprechen. Das forsche Eintreten für eine schnelle Einheit nach Bonner Prämissen rechtfertigte man vor allem mit Blick auf die politische Lage in der Sowjetunion.

Dem Dringlichkeitsdiskurs nach einer neuen Verfassung folgten bei den ersten freien Wahlen in der DDR nur die Wenigsten. Aus der Sicht der letzten DDR-Regierung sollte die Einführung von parlamentarischer Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft nunmehr auf das Engste mit der Zugänglichkeit zu Arbeit, Wohnung und Bildung verbunden sein – Lebensbereiche, die aus ostdeutscher Perspektive sämtlich den Rang eines Grundrechts verdienten. Wenn auch bei Weitem nicht alle diese Vorstellungen realisiert wurden, so konnte die DDR-Seite in sozialpolitischer Hinsicht, etwa in Bezug auf das Arbeitsrecht und Sozialversicherungsfragen, durchaus einige ihrer Interessen im Staats- und Einigungsvertrag durchsetzen.

Ambivalenzen der Demokratie in der Ära Merkel

Die Ostdeutschen haben 1990 zwar dem Beitritt zur Bundesrepublik zugestimmt und wurden somit auf dem Papier zu souveränen Mitgliedern dieser Gesellschaft. Am Zustandekommen der institutionalisierten Muster kultureller Wertsetzung in dieser Republik, also der Grund- und Werteordnung samt ihren vielfältigen gesellschaftlichen Ausprägungen und Verstetigungen, waren sie dagegen nicht beteiligt. Stattdessen hatten sie sich in den Jahrzehnten zuvor – oft als im besten Sinne ‚skeptische Demokraten‘, welche viele von ihnen in mancherlei Hinsicht bis heute geblieben sind – an einer gänzlich anderen Werteordnung abgearbeitet. Nach 1989 waren deren ideelle Prämissen und kulturelle Praktiken indes überwiegend hinfällig. De facto wurden die Ostdeutschen 1990, auch wenn sie mit der Einheit die bundesdeutsche Staatsangehörigkeit erhielten, also keineswegs zu »vollwertigen Partnern in der sozialen Interaktion«. In der Realität waren sie in der Berliner Republik zunächst keine »souveränen Mitglieder« dieser Gesellschaft und konnten nur allmählich zu solchen werden.

Die vielfältigen hieraus folgenden Verächtlichmachungen sind bis heute Gegenstand heftiger, immer wieder neu entfesselter Kritik. Die über diesen Umstand geäußerte Empörung, vor allem durch und unter Ostdeutschen, ist zwar nachvollziehbar; durch sie – so viel lässt sich nach 30 Jahren Erfahrung sagen – ändert sich aber nichts am Status der Ostdeutschen innerhalb dieser Ordnung. Dasselbe gilt für die zwar überdurchschnittliche, aber ambivalente ostdeutsche Elitenrepräsentanz im Politikbetrieb mit Angela Merkel an der Spitze.

Vielleicht wird erst mit noch mehr Abstand erkennbar werden, wie sehr die zunächst rechtspopulistische und bis heute zunehmend rechtsextreme AfD als gesamtdeutsch neu gegründete Partei an historisch gewachsene und nach dem Aufbruch quasi auf den wieder leeren östlichen Straßen liegen gebliebenen Ideen von Basisdemokratie, unmittelbarer Volksherrschaft und Bürgerbeteiligung anknüpfen konnte. Sie inszeniert sich als die einzige derzeit im Bundestag vertretene Partei, die als vermeintlich bürgerbewegte Alternative zum „System der Altparteien“ Volksabstimmungen auf Bundesebene fordert und schon allein damit überdurchschnittlich viele durch den Parteienstaat frustrierte Nichtwähler_innen in Ost und West mobilisieren konnte. Sie verbindet in der Rede vom „solidarischen Patriotismus“ offen das Nationale mit dem Sozialen, verspricht eine Politik „von unten nach oben“ und stößt damit in Ostdeutschland nicht zuletzt deswegen auf weniger Widerspruch als im Westen, weil sich ihre intellektuellen Stichwortgeber diesen Osten in einer Weise als Lebensraum zu eigen gemacht haben, die in der sonstigen bundesdeutschen Parteienlandschaft ihresgleichen sucht.

Mehr noch bleibt ein spezifisch ostdeutscher Überhang, der sich nur erklären lässt, wenn man zwei entscheidende Aspekte dieser jungen Parteigeschichte einbezieht. Da ist erstens die besondere Art und Weise, in der das Führungspersonal der AfD und ihr rechtsintellektuelles Umfeld lokale Protestbewegungen wie Pegida zu kooptieren wussten und in der man sich langfristig auf Ostdeutschland als „Experimentierküche“ eingelassen hat. Diese besondere Art und Weise des Umgangs mit dem Osten verlieh der Behauptung, man sei ‚die‘ politische Alternative, eine einzigartige Mobilisierungskraft und Folgerichtigkeit. Zweitens sind hier einige spezifisch ostdeutsche Demokratievorstellungen bedeutsam, die vor 1989 geprägt und dann im Umbruch mit besonderem Nachdruck verhandelt wurden. Sie sorgten für den nötigen gesellschaftlichen Resonanz- und Toleranzraum, in dem die völkisch-illiberalen Untertöne des von Björn Höcke beschworenen „solidarischen Patriotismus“ bzw. der Rede von der „Partei des gesunden Menschenverstandes“, wie es im AfD-Grundsatzprogramm heißt, als nicht per se anstößig wahrgenommen werden.

Politisches Fazit

„Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Sie ist keine statische Idee, sondern ein Sammelsurium veränderlicher Ideale, kein allein staatliches System, sondern eine gelebte, gestalt- und streitbare Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens.“ Vor diesem Hintergrund ist zu attestieren, dass die bisherige Politik in Bezug auf Ostdeutschland mit ihrem Fokus auf die materielle Ebene – Stichwort „Aufbau Ost“ – und die rhetorische Ebene – Stichwort „Lebensleistung anerkennen“ – unzureichend war.

Die Einordnung der tausend Aufbrüche in die politischen Kulturtraditionen vor und nach 1989 und 1990 zeigt, dass die Deutschen ‚ihre‘ Demokratie in jenen Jahrzehnten nicht im Sternstundenmodus verhandelt, sondern überwiegend als anziehende, aber eben auch anstrengende Alltäglichkeit verstanden, debattiert und mitunter auch herausgefordert haben. Diese demokratische Alltäglichkeit ist ein starkes Fundament. Es wird allerdings in dem Maße brüchig, in dem man es für eine Selbstverständlichkeit hält.


buch|votum

Zu Recht ging der Deutsche Sachbuchpreis 2024 an Christina Morinas Werk „Tausend Aufbrüche“. Die vielschichtige Betrachtung der Demokratieentwicklungen von unten liefert ein gewinnbringendes Zeitbild der politischen Kulturgeschichte Deutschlands, und durch die Verzahnung der Demokratiekritikgeschichte der Bundesrepublik und der Demokratieanspruchsgeschichte der DDR werden die maßgeblichen Unterschiede und wechselseitigen Bezüge im Staats- und Politikverständnis herausgearbeitet. Dabei entsteht ein differenziertes Bild: Viele Bürger_innen der DDR identifizierten sich mit ihrem Land und dessen volksdemokratischen Idealen, blieben dem Staat und seinen Institutionen gegenüber jedoch skeptisch. Diese Staatsferne, gepaart mit einem oft provinziell-utopischen Bürgersinn, dessen Potenziale nach der Vereinigung weitgehend ungenutzt blieben, wirkt bis heute nach. Im Zusammenspiel mit einem wiedererstarkenden Nationalismus im Westen entstand so nicht zuletzt auch der Nährboden für den Aufstieg des Rechtspopulismus.

Das Buch offenbart die Grenzen der westdeutschen Liberalisierung ebenso wie die Vielfalt der ostdeutschen Demokratieaneignungsversuche und ist damit ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der gegenwärtigen prekären Lage der Demokratie. Es spiegelt die Demokratie als politische Ordnung ebenso wider wie ihre alltägliche Praxis und ihre Versprechen und Hoffnungen im geteilten und dann vereinten Deutschland. Parteien wie die AfD oder BSW bieten außer einer großen Portion Ressentiment ja keine tragfähigen Alternativen. Aber sie schaffen es, dass sich die etablierten Parteien in all ihrer Visionslosigkeit zeigen und den populistischen Parolen so ratlos wie hektisch hinterherhecheln.

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Verlag: Siedler
Erschienen: 27.09.2023
Seiten: 400
ISBN: 978-3-8275-0132-5

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