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Spezialausgabe zur Ringvorlesung aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums der Verleihung des Friedensnobelpreises an Bundeskanzler Willy Brandt.
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Kurzgefasst und eingeordnet von Stephan Schmauke – Dr. phil. Stephan Schmauke ist Philosoph, freier Wissenschaftsautor und Dozent, leitet seit 2012 interdisziplinäre Seminare der Promotionsförderung der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Quinn Slobodians Studie über die Ideen- und Institutionengeschichte des Neoliberalismus rückt die Protagonisten der „Genfer Schule“ in den Vordergrund: Ludwig von Mises (1881-1973), Wilhelm Röpke (1899-1966) und vor allem Friedrich Hayek (1899-1992). Damit schließt er eine Lücke in der historischen Forschung zum Neoliberalismus, die sich bisher stärker auf die US-amerikanischen Denkschulen um Milton Friedman und James M. Buchanan konzentriert hat.
Ein an der Sozialen Demokratie orientiertes politisches Denken kann in ganz grundsätzlicher Weise von Slobodians Studie profitieren. Es stellt sich nämlich heraus, dass es sich beim Neoliberalismus, zumindest in der hier in den Fokus gestellten europäischen Variante, um den exakten Gegenentwurf zur Sozialen Demokratie handelt. Die Theoriebildung des Neoliberalismus stellt sich dar als permanenter Abwehrkampf gegen die vermeintlichen Anmaßungen gewerkschaftlicher Interessenvertretungen, gemeinwohlorientierter Regierungsprogramme, gegen die Dekolonisierung des globalen Südens, gegen die Forderungen nach staatlichen Regulierungen der Finanzmärkte, kurz: gegen alle Formen einer auf sozialen Ausgleich bedachten Politik.
Und wegen der neoliberalen Einflüsse auf europäische und globale Institutionen erlaubt die Lektüre von Slobodians Buch auch eine differenziertere Auseinandersetzung mit pauschalen Vorwürfen etwa in Richtung EU, sie sei nichts weiter als ein supranationaler Agent des Neoliberalismus.
Quinn Slobodian, geboren 1978 in Edmonton, Kanada, ist Historiker und Associate Professor am Department of History des Wellesley College, Massachusetts.
Slobodian ist 2019 für sein Buch Globalists mit dem von der American Historical Association (AHA) verliehenen George Louis Beer Prize ausgezeichnet worden.
Die Wiener Anfänge nach dem 1. Weltkrieg
Die Initialerfahrung der europäischen Neoliberalen war der Zusammenbruch des Habsburgerreiches nach dem 1. Weltkrieg. Deswegen beginnt die Darstellung der europäischen Geschichte der Neoliberalen auch nicht 1947 am Genfer See mit der Gründungsversammlung der Mont Pèlerin Society, sondern in den 1920er-Jahren im Wiener Stubenring, in der österreichischen Handels- und Gewerbekammer. Dort war Ludwig Mises seit 1918 Sekretär und Regierungsberater. Sein Anliegen war es, der österreichischen Wirtschaft, die nach der Auflösung des Reiches nicht mehr autark war, Anschluss an den internationalen Wettbewerb zu verschaffen.
Mises, der immer schon gute Kontakte zu Industrie und Wirtschaft hatte, sprach eine politische Empfehlung aus, die sich auf Lohnsenkungen und Steuererleichterungen für die Industrie belief. Sein Argument: Österreichs Zukunft hänge vom Freihandel ab, die Löhne müssten deutlich unter Vorkriegsniveau sinken.
Die Antwort auf die tatsächliche Umsetzung dieser politischen Empfehlung ließ nicht lange auf sich warten: Im Juli 1927 marschierten Wiener Arbeiter auf die Ringstraße und setzten den Justizpalast in Brand. Der Polizeichef ließ feuern – 89 Tote und mehr als 1000 Verletzte.
Das „rote Wien“, das Aufflackern eines sozialistischen bzw. kommunistischen Widerstands gegen die vermeintliche „wirtschaftliche Vernunft“ hat das Welt- und Menschenbild der Wiener Ökonomen, die sich später selbst als Neoliberale bezeichnen würden, stärker geprägt als das tatsächliche Elend der Bevölkerung nach dem Weltkrieg oder das Leid der getöteten und verletzten Arbeiter.
Diese Blindheit gegenüber realer Not, gegenüber den Bedürfnissen existierender Menschen wird sich wie ein Leitmotiv in den Theorieentwürfen des Neoliberalismus durchhalten. Weshalb man an dieser Stelle schon die Frage stellen darf, ob die politische Theorie des Neoliberalismus überhaupt einen Begriff des Politischen hat, der über die Manipulation von Menschen zur Durchsetzung bestimmter Interessen hinausgeht.
Hayek gründete mit Mises Hilfe das „Österreichische Institut für Konjunkturforschung“, dessen Personal nur aus ihm selbst und einer Sekretärin bestand. Er verwendete das „Konjunkturbarometer“, das vom Harvard Economic Service entwickelt worden war, stellte aber schnell fest, dass es nur für große Binnenwirtschaften oder Kolonialreiche aussagekräftig war und keinesfalls für mitteleuropäische postimperiale Nachfolgestaaten wie Österreich.
Die begrenzte Reichweite der Konjunkturforschung erforderte somit den gedanklichen Ausgriff auf transnationale Konstellationen. Die „ganze Welt“ rückte damit in den Fokus der ökonomischen Theoriebildung, und tatsächlich häuften sich Begriffe wie „Weltmarkt“ und „Weltwirtschaft“ in den 1920er-Jahren, bevor es mit dem New Yorker Börsencrash von 1929 zum Zusammenbruch derselben kam.
Die 1930er-Jahre waren dementsprechend von Versuchen geprägt, die Krise zu analysieren bzw. überhaupt erst einmal zu definieren, was die „Weltwirtschaft“ sei. Dazu wurde ein „internationales Institut für Konjunkturforschung“ aus der Taufe gehoben, als dessen Leiter der ehemalige Marburger Professor Wilhelm Röpke nominiert wurde. Er war bei den inzwischen an die Macht gekommenen Nationalsozialisten in Ungnade gefallen und hatte in Istanbul Unterschlupf gefunden, er sehnte sich aber nach einem europäischen Betätigungsfeld zurück. Ort der Handlung: das „Hochschulinstitut für internationale Studien“ der Universität Genf.
Durch Vermittlung von Hayek stieß Röpke auf ein Buch des amerikanischen Publizisten Walter Lippmann: The Good Society. Es handelte sich um eine Abrechnung mit dem klassischen Laissez-faire-Liberalismus des 19. Jahrhunderts, der nur dazu geführt habe, den desolaten Zustand der internationalen wirtschaftlichen Beziehungen nach dem Crash von 1929 aufrechtzuerhalten. Es bedürfe einer Erneuerung liberalen Denkens, eines neuen rechtlichen Rahmens für die Weltwirtschaft.
Man berief eine Konferenz ein, um die Thesen zu diskutieren: Das Pariser „Colloque Walter Lippmann“ (1938). Der frische Wind, der von einem Nicht-Ökonomen ausging, führte zur Namensgebung „Neoliberalismus“ und war mit einer Abwendung von der Konjunkturbeobachtung und einer Hinwendung zum Problem der rechtlichen Rahmung verbunden, die die Weltwirtschaft einhegen sollte. Seit dieser Zeit begann Hayek, über die Grenzen des ökonomischen Wissens zu schreiben, erklärte die Weltwirtschaft prinzipiell für unerkennbar und verspottete die Kategorie des „homo oeconomicus“ als „Zombiekategorie“.
Hier wird deutlich, dass der Neoliberalismus, der seine Gründungsversammlung kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs in Paris und seine erste konstituierende Sitzung auf dem Mont Pèlerin kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs hatte, etwas ganz anderes ist, als es die heutige populäre Vorstellung suggeriert. Er vertritt überhaupt nicht die Position der „Selbstgenügsamkeit des Marktes“. Er ist keinesfalls so etwas wie die akademische Variante des Libertarianismus.
Der Neoliberalismus sieht vielmehr das Funktionieren des Marktes jederzeit als bedroht an. Der Markt darf gar nicht sich selbst überlassen werden, er muss vielmehr geschützt werden. „Das liberale Projekt und die Verteidigung des Primats der Weltwirtschaft waren zu wichtig, um sie der Disziplin der Ökonomie zu überlassen.“
Die These von der Schutzbedürftigkeit des Marktes, die Forderung nach einer „Ummantelung“ des weltweiten freien Geldflusses durch internationale Gesetze geht allerdings mit einer kruden politischen Indifferenz einher.
Die Neoliberalen lehnten den Nationalsozialismus ab. Aber nicht, weil sie von den Nazis persönlich bedroht waren – Mises war Jude, Röpke hatte die NSDAP eine „besitzfeindliche, gewalttätige, revolutionäre Organisation“ genannt, weshalb Genf zu ihrem Zufluchtsort wurde. Der Hauptgrund für die Ablehnung des Nationalsozialismus war auch nicht dessen intrinsische Menschenfeindlichkeit, sondern der Umstand, dass es sich in wirtschaftspolitischer Hinsicht um eine Planwirtschaft handelte.
Die Neoliberalen werteten es als Fehler, „dass der Staat der Illusion der Kontrolle unterlag und dem Irrglauben folgte, die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse könne die Volkswirtschaft für eine ‚intelligente Autorität‘ durchschaubar machen“. Diesen Fehler teilte in ihren Augen Hitlers „Neue Ordnung“ mit Stalins Fünfjahresplan und Roosevelts „New Deal“. Ihre Aversion gegen jegliche Wirtschaftsplanung machte die Neoliberalen blind gegenüber dem Unterschied zwischen Demokratien und totalitären Regimen.
Nach dem 2. Weltkrieg gründete sich die Mont Pèlerin Society und verfolgte konsequent eine Doppelstrategie: den Kampf um die Diskurshoheit sowie die Infiltration supranationaler Institutionen. Das verdeutlichen zwei Beispiele: die Kaperung des Menschenrechtsdiskurses und die Gestaltung der Römischen Verträge.
Zu den Menschenrechten: „Die Neoliberalen setzten Roosevelts vier Freiheitsrechten – Redefreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit von Furcht und Freiheit von Not – die vier Rechte auf Freizügigkeit von Kapital, Gütern, Dienstleistungen und Arbeitskräften entgegen.“ Durch Verweis auf die angebliche materielle Grundbedingung des Rechts auf Migration, die in den Augen der Neoliberalen per se eine Migration aus wirtschaftlichen Gründen ist, wird den Menschenrechten ein „Recht auf freie Kapitalbewegung“ untergeschoben. Slobodian spricht sehr deutlich von einem „Menschenrecht auf Kapitalflucht“: „Die Neoliberalen kämpften nicht für das Recht, zu besitzen und zu bleiben, sondern für das Recht, zu verkaufen und zu gehen.“
Zu den Römischen Verträgen: Ludwig Erhard, der „Vater des Wirtschaftswunders“, war ein Mitglied der Mont Pèlerin Society.
Zusammen mit Alfred Müller-Armack versuchte er in den Verhandlungen über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft das Argument des „unverfälschten Wettbewerbs“ stark zu machen – vor allem gegen die französische Position, die Schutzmechanismen für Agrarprodukte der afrikanischen Kolonien einforderte.
Bekanntlich sind die römischen Verträge kompromissbehaftet – was der EWG heftige Kritik seitens der neoliberalen „Puristen“ eintrug: Sie sei nicht das beispielhafte politische Gebilde einer supranationalen Rechtsordnung, die den freien Kapitalfluss garantiere, sondern eine euroafrikanische Protektionszone.
Man sieht: Die ersten Anläufe der Neoliberalen, die Diskurse und Institutionen zur Kontrolle einer geordneten Wirtschaftswelt zu bestimmen, sind gescheitert oder allenfalls halb gelungen. Wie reagierten sie darauf?
Auch hier kann man wieder von einer Doppelstrategie sprechen. Auf dem Gebiet der Theorie ist vor allem bei Hayek eine Hinwendung zu einem neuen Paradigma zu verzeichnen: weg vom Mystizismus einer unerkennbaren, doch alles irgendwie fundierenden, transzendenten „Weltwirtschaft“ – hin zum systemtheoretischen Modell einer Ordnung der „Preissignale“.
Auf dem politisch-institutionellen Sektor zeichnete sich mit einer jüngeren Generation Neoliberaler eine zunehmende Konzentration auf das internationale Wirtschaftsrecht ab. Der neoliberale Diskurs wanderte von den Ökonomen zu den Juristen.
Das Sekretariat des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) zog 1977 nach Genf um – in das Gebäude, das früher der Sitz der International Labour Organization (ILO) gewesen war. Die GATT-Leute – Jan Tumlir, Frieder Roessler und Ernst-Ulrich Petersmann – waren allesamt Schüler oder Anhänger Hayeks und ihre erste Amtshandlung bestand darin, Gemälde und Wandschmuck mit der Ikonologie der Arbeiterklasse abzuhängen. Sie waren alle Juristen und dementsprechend ging mit ihnen der Versuch, den aufmüpfigen globalen Süden zu rekolonialisieren, in die nächste Runde:
Man versuchte, die Entwicklungsländer nicht mehr davon abzuhalten, sich zu industrialisieren, indem man ihnen weismachte, als Agrarstaaten seien sie auf dem Weltmarkt viel konkurrenzfähiger. Nun konstruierte man ein „allgemeines Wirtschaftsvölkerrecht“ oder auch „Weltwirtschaftsrecht“, gegen dessen Regeln zu verstoßen nicht nur zum wirtschaftlichen Nachteil des globalen Südens sei, sondern geradezu systemgefährdend.
„Weit davon entfernt, sich für persönliche Freiheit auszusprechen, stützte sich Tumlir bei seinen Warnungen auf das von Hayek inspirierte […] Konzept der für das Funktionieren des gesamten Systems erforderlichen Beschränkungen der Freiheit, die er als ‚Kosten der Interdependenz‘ bezeichnete“.
Slobodian zeichnet die Verhandlungen, die vom GATT zur WTO führten, nicht im Detail nach. Worauf es ihm ankommt, ist weniger die Einschätzung der WTO als machtpolitisches Werkzeug der USA, sondern vielmehr der intellektuelle Input aus Genf – die neoliberale (und nicht so sehr machtpolitische) Begründung dafür, dass das internationale Handelsrecht so ist, wie es ist, und dass die WTO die institutionelle Krönung der neoliberalen Bemühungen darstellt, die Freiheit des Kapitals vor dem Elend der Welt zu schützen.
Wir lernen von Slobodian, dass der Neoliberalismus mehr ist als das Schlagwort vom „Primat der Ökonomie“. Er ist der Versuch, den Primat sowohl theoretisch zu begründen als auch ihn institutionell durchzusetzen. Wer sich substanziell mit neoliberalen Argumenten auseinandersetzen möchte, findet in Slobodians Buch, das die zu Unrecht vernachlässigte Genfer Schule des Neoliberalismus in den Mittelpunkt rückt, eine reiche Quelle.
Verlag: SuhrkampErschienen: 11.11.2019Seiten: 522ISBN:978-3-518-42903-7