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Andreas Reckwitz: Verlust

Ein Grundproblem der Moderne. Berlin: Suhrkamp (2024)

Von der Friedrich-Ebert-Stiftung 2025 ausgezeichnet mit dem Preis "Das Politische Buch.“ Hier geht es zur Preisbuchseite.

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Kurzgefasst und eingeordnet von Hans Peter Schunk.
Hans Peter Schunk ist Doktorand am Seminar für Neueste Geschichte der Philipps-Universität Marburg.


buch|essenz

Kernaussagen

Die Moderne hat aufgrund ihres inhärenten Fortschrittsversprechens zwangsläufig ein Verlustproblem. Insbesondere seit dem Ende des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine „Verlusteskalation“ zu beobachten. Diese manifestiert sich in zahlreichen Krisenphänomenen, die den Verlust einer besseren Zukunft und die Grenzen der expansiven Moderne markieren. Mit den verschiedenen Verlusterfahrungen und -ängsten geht auch ein Vertrauensverlust in die Politik einher, den sich Rechtspopulisten in einer Art „Verlustunternehmertum“ zunutze machen und gezielt ausnutzen. Dabei nutzen sie Narrative, die mit Blick auf die Verluste konkrete Schuldzuweisungen beinhalten und eine vermeintlich goldene Vergangenheit glorifizieren. Eine mögliche Gegenstrategie könnte in einer Neuausrichtung des Fortschrittsnarrativs liegen, die es modernen Gesellschaften ermöglicht, resilienter mit Verlusten umzugehen.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die Soziale Demokratie positioniert sich als moderne und zukunftsorientierte politische Kraft. Reckwitz‘ präzise Analysen zum Umgang der heutigen Gesellschaft mit Verlusten und deren Instrumentalisierung durch Rechtspopulisten könnten der Sozialen Demokratie als Grundlage dienen, innovative Konzepte für eine fortschrittliche und resiliente Politik zu entwickeln.


buch|autor

Andreas Reckwitz, geboren 1970, ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Autor zahlreicher soziologischer Schriften.

2019 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Viele seiner Bücher sind Bestseller, die zum Teil in über 20 Sprachen übersetzt wurden.


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buch|inhalt

Verlust als Grundproblem der Moderne

Nach dem Historiker Reinhart Koselleck ist das zentrale Movens der Moderne der Drang nach vorne. Dieser Fortschrittsimperativ zielt darauf ab, die Zukunft stets besser zu gestalten als die Gegenwart. Dadurch entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Erfahrungswert und Erwartungshorizont: Von der Zukunft erwartet man mehr und etwas grundlegend Anderes als das, was bisher dagewesen ist. Geschichte wird in diesem Sinne durch die Zukunft positiv überholt. Vor diesem Hintergrund werden Verluste zu einem grundsätzlichen Problem. Es hat sie zwar immer gegeben. In der Moderne erscheinen sie jedoch besonders dramatisch, da sie als Verschlechterung wahrgenommen werden und im Widerspruch stehen mit der Erwartung eines stetigen Fortschritts.

Die Menschen mussten also Strategien entwickeln, um mit Verlusten umzugehen. In den ersten beiden Phasen der Moderne, der bürgerlichen und der industriellen Moderne, bestanden diese Strategien darin, Verluste durch Überwindung und Überlagerung durch neue Fortschritte verschwinden zu lassen und Verlierer zu stigmatisieren bzw. ins Abseits zu drängen. Verluste wurden auf menschlicher und sachlicher Ebene also unsichtbar gemacht. In der Spätmoderne lassen sich Verlusterfahrungen jedoch nicht mehr so leicht überdecken wie in den beiden ersten Phasen der Moderne. Dadurch kommt es zu einer Verlusteskalation.

Was sind und wie wirken Verluste?

Verluste hat es in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten gegeben. In modernen Gesellschaften hat sich der Umgang mit ihnen jedoch verändert. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Todes. Die moderne Gesellschaft neigt dazu, den Tod zu verdrängen, weil er Endlichkeit widerspiegelt, also unausweichlich vor Augen führt, dass es entgegen dem charakteristischen Versprechen der Moderne keinen unendlichen Fortschritt gibt.

Ähnlich verhält es sich mit anderen Verlusten. Um diese Erfahrungen zu verarbeiten, entwickelten die Menschen in der Moderne neben den bereits genannten Strategien weitere Formen des Umgangs mit Verlust. Beispiele sind die Nostalgie der Romantik, das Risikomanagement im Versicherungswesen oder die Methoden der Psychotherapie. Die zentrale Form des Umgangs mit Verlusten war jedoch der ungebrochene Fortschrittsglaube, der als integrativer Mechanismus Verluste überbrücken konnte. Dies zeigte sich besonders eindrucksvoll in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die beispiellosen Verlusterfahrungen durch das Wirtschaftswunder und die etwa dreißig Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs kompensiert wurden. Wohlstandssteigerung, sozialer Aufstieg und Bildungsexpansion überdeckten die Narben der Vergangenheit und schufen ein Gefühl von Stabilität und Aufbruch.

Eine Zäsur stellte die Erste Ölkrise 1973 dar, begleitet vom Bericht „The Limits to Growth“ des Club of Rome aus dem Jahr 1972, der die planetaren Grenzen des Wachstums aufzeigte. Diese Entwicklungen dämpften den Optimismus des Fortschrittsglaubens nachhaltig und markierten den Übergang zur Spätmoderne, eine Phase, in der der Glaube an stetigen Fortschritt zunehmend hinterfragt wird.

Die Verlustparadoxie der Moderne

Das Fortschrittsnarrativ der Moderne erzeugt ein Spannungsfeld, in dem unvermeidliche Verluste als besonders dramatisch wahrgenommen werden. Verluste stehen im Widerspruch zum Fortschrittsimperativ und können zu Legitimations-, Motivations- und Systemkrisen führen.

Die spätmoderne Gesellschaft begegnet Verlusten häufig mit Strategien der Kompensation und Austauschbarkeit, sei es durch Konsum, Märkte oder Entschädigungen. Dieses Denken reduziert jedoch die emotionale Bedeutung von Verlusten, die zunehmend privatisiert und entpolitisiert werden. Verluste werden als individuelles Versagen wahrgenommen, während die Anerkennung von Opfern durch die Stigmatisierung als „Verlierer“ verdrängt wird.

Die Moderne schafft zudem neue Verlusterfahrungen, etwa durch die Vergleichbarkeit und Ersetzbarkeit von Menschen und Dingen. Dabei wirken Verluste auch als soziale und emotionale Herausforderung. Die wichtigsten Konzepte des modernen Selbstverständnisses entstammen nicht mehr der Religion oder der Moralphilosophie, sondern der Psychologie, und zwar sowohl in Bezug auf positive Ziele als auch in Bezug auf Problemdiagnosen wie Depression, Trauma, Angst oder Aufmerksamkeitsstörung. Aus der Sicht spätmoderner Psychotherapien, die nicht nur Krankheit, sondern auch psychisches Wachstum im Blick haben, erweist sich die Fähigkeit, mit Verlusten umzugehen, schließlich als zentrale Kompetenz. Im Sinne eines posttraumatischen Wachstums sollen sich aus vermeintlichen biografischen Sackgassen Chancen für eine positive Persönlichkeitsentwicklung ergeben.

Verlusteskalation in der Spätmoderne

Die Spätmoderne ist durch ein ambivalentes Verhältnis zum Fortschritt gekennzeichnet. Während die Moderne von einem festen Fortschrittsglauben getragen wurde, zeigt sich in der Spätmoderne ein „Rückbau der Zukunft“ zugunsten der Gegenwart. Dieser Rückbau spiegelt sich in zwei Formen des Präsentismus wider: einem positiven Präsentismus, der das Interesse an der Intensität des gegenwärtigen Moments betont, und einem negativen Präsentismus, der die Gegenwart als belastend und ohne Aussicht auf Verbesserung wahrnimmt.

Mit wachsender Skepsis gegenüber Technologien und Formen der Ökonomie, die Krisen befeuern können, geraten Fortschrittsnarrative zunehmend unter Druck. Wirtschaftliches Wachstum wird kritisch hinterfragt und auch seine ökologischen und sozialen Nebenfolgen rücken verstärkt ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung. Dies führt zu einer normativen Kritik an der Wachstumsorientierung und zu Zweifeln an der realen Möglichkeit, Wachstum langfristig aufrechtzuerhalten.

Gleichzeitig schwindet das Vertrauen in die Steuerungsfähigkeit staatlicher Institutionen. Diese Entwicklung wird durch populistische Bewegungen, die Fragmentierung politischer Parteienlandschaften, eine polarisierte Öffentlichkeit und durch globale Herausforderungen wie Klimawandel und Migration verstärkt. Die wachsenden Verlusterfahrungen in der Spätmoderne tragen somit zu einer demokratischen Regression bei. Die Polarisierung zwischen populistischen und linksliberalen Akteuren sowie der zunehmende Einfluss nicht demokratisch legitimierter Institutionen wie der Europäischen Kommission, den Zentralbanken, den Verfassungsgerichten oder Expertengremien intensivieren das Gefühl gesellschaftlicher Ohnmacht. Diese Dynamiken untergraben den gesellschaftlichen Konsens und führen zu einem tiefgreifenden Vertrauensverlust in die Demokratie.

Der Verlust an Vertrauen betrifft jedoch nicht nur politische Institutionen, sondern auch die Wahrnehmung von Fortschritt und Verlusten. Während Fortschritt zunehmend als reversibel erscheint, werden Verluste – vergangene, gegenwärtige und potenzielle – als irreversibel empfunden. Die Spätmoderne individualisiert den Fortschrittsgedanken, indem kollektive Zukunftsvisionen an Bedeutung verlieren und Selbstentfaltung sowie Selbstoptimierung in den Vordergrund treten. Dieses „Unternehmer-Ich“ strebt individuelle Wachstumsziele an, bietet jedoch nur bedingt eine Alternative zu den rückläufigen kollektiven Zukunftsversprechen. Gleichzeitig erhöht diese radikale Selbstverwirklichungskultur die Sensibilität für Verlusterfahrungen, beispielsweise durch den Verlust nichtgelebter Möglichkeiten. Zur spätmodernen Verlustsensibilität tragen weiterhin die hohe Wertschätzung der wahrgenommenen Einzigartigkeit von Menschen, Dingen oder Orten sowie eine generell größere emotionale Offenheit und Differenziertheit des Subjekts bei. Diese aus der Romantik stammenden Werte der Einzigartigkeit und Authentizität spielen in der spätmodernen Subjektkultur eine wichtige Rolle. Die Identität des spätmodernen Subjekts hängt in hohem Maße davon ab. Dementsprechend wird der Verlust von Menschen, Dingen und Orten, die als singulär wahrgenommen werden, als besonders schmerzhaft empfunden. Eine singularistische Kultur ist entsprechend prädestiniert für Verlustschmerz.

In der Spätmoderne reagieren verschiedene Gruppen daher in zunehmendem Maße auf ihre Verlusterfahrungen, indem sie diese sichtbarer machen. Zu diesen Strategien zählen bewusste asketische Lebensweisen wie ein Rückzug aufs Land, eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das kulturelle Erbe und die Rückgabe von kolonialem Raubgut sowie ein neues Selbstbewusstsein, mit dem sich Opfergruppen zu Wort melden.

Der Populismus nutzt die intensivierten Verlustwahrnehmungen der Spätmoderne strategisch, indem er ein Narrativ von Opfer- und Täterschaft etabliert. Die eigene Gruppe wird als Opfer gezielter Benachteiligung inszeniert, während vermeintliche Täter – etwa Eliten, Migrant_innen, Feminist_innen oder liberale Großstädter_innen – für die Verluste verantwortlich gemacht werden. In diesem Narrativ wird die Gegenwart einer idealisierten, vermeintlich harmonischen Vergangenheit entgegengestellt. Im Zentrum der populistischen Erzählung steht dabei das Versprechen einer Rückkehr zu diesen Idealen und die Legitimation von Rache: Den vermeintlichen Gewinner_innen der Spätmoderne und den für die Misere der eigenen Gruppe angeblich Verantwortlichen sollen gezielt Verluste zugefügt werden. Dieses „Verlustunternehmertum“ verstärkt Polarisierung und gesellschaftliche Spannungen, indem es bestehende Verlusterfahrungen emotionalisiert und politisch instrumentalisiert.

Ein Ausweg ist die Resilienz. Institutionen und Gesellschaften werden umso resilienter, je größer die Redundanz der sie konstituierenden sozialen Praktiken ist. Resilienz erweist sich damit als Gegenbegriff zum fortschrittsorientierten Effizienzbegriff. Während im Namen der Effizienz Redundanzen als überflüssige Doppelungen erscheinen und abgebaut werden, gelten sie im Geiste der Resilienz als hilfreiche Vielfalt, die im Falle von Störungen und Ausfällen einzelner Einheiten Ersatz bietet. Konkret reicht dies von der Benennung eines Ersatzarbeiters im Krankenhaus bis zur Diversifizierung von Lieferketten. Soziale Komplexe werden zudem resilienter, wenn sie nicht auf hoher Komplexität und enger Kopplung basieren, sondern modular aufgebaut und lose gekoppelt sind. Der Ausfall einer Einheit zieht dann nicht alle anderen mit sich.

Die Moderne „reparieren“?

Um die Moderne zu „reparieren“, bedarf es einer grundlegenden Reform des Fortschrittsbegriffs. Der Fortschrittsimperativ muss dabei zwar nicht vollständig verschwinden, aber neu definiert und an die Herausforderungen unserer Zeit angepasst werden. Eine Revitalisierung des Fortschrittsgedankens ist insbesondere dann möglich, wenn technologische Durchbrüche, beispielsweise im Umgang mit der Klimakrise, gelingen, die deren effektive Bewältigung ermöglichen. Allerdings sollte der neue Fortschrittsbegriff auch eine klügere und aktivere Auseinandersetzung mit Verlusterfahrungen einschließen.

Anstatt Verluste ausschließlich zu überwinden oder sie verschwinden lassen zu wollen, sollte der Fokus darauf liegen, einen offensiven und konstruktiven Umgang mit ihnen zu fördern. Hierbei nimmt der Begriff der Resilienz eine zentrale Rolle ein. Resilienz bezieht sich gleichermaßen auf Individuen, Institutionen und Gesellschaften und bedeutet, sich auf Verluste vorzubereiten, mit ihnen zu rechnen und Strategien zu entwickeln, um angemessen darauf reagieren zu können. Ein resilientes System kann Verluste nicht nur bewältigen, sondern aus ihnen lernen und gestärkt daraus hervorgehen. Diese Haltung stellt eine Weiterentwicklung des Fortschrittsgedankens dar: Gesellschaften, die resilienter werden, werden gleichzeitig besser und zukunftsfähiger.

Trotzdem werden Verluste unvermeidbar bleiben, weshalb es essenziell ist, geeignete Wege im Umgang mit ihnen zu finden. Aus der Psychologie können Techniken wie die Verlustintegration als Vorbild dienen. Diese Ansätze ermutigen dazu, Verluste nicht zu verdrängen, sondern sie aktiv in die eigene Biografie oder in kollektive Erzählungen zu integrieren. Ein bewusster und konstruktiver Abschied – sei es von Menschen, Idealen oder Ressourcen – schafft Raum für neue Perspektiven und fördert die Fähigkeit, auch in schwierigen Situationen handlungsfähig zu bleiben.

Ein reformierter Fortschrittsbegriff, der Resilienz und Verlustintegration einschließt, könnte eine Moderne schaffen, die besser auf die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft vorbereitet ist.


buch|votum

Reckwitz bietet mit seinen soziologischen Kategorisierungen wertvolle Werkzeuge zur Analyse moderner Gesellschaften, auch wenn deren komplexe Darstellung gelegentlich den Lesefluss bremst. Besonders präzise und anschaulich gelingen ihm die Entschlüsselung rechtspopulistischer Strategien sowie die Analyse der individuellen Verlusterfahrungen im Spannungsfeld des gesellschaftlichen Fortschrittsversprechens.

Reckwitz‘ Argumentation für die Notwendigkeit von Resilienz überzeugt durch eine fundierte Herleitung, die den Begriff klar von modischen Verkürzungen abhebt. Sein Ansatz, komplexe Phänomene aus einer Langzeitperspektive zu betrachten, liefert wichtige Impulse für die individuelle und gesellschaftliche Selbstverständigung. Eine Fortsetzung dieser Überlegungen und weitere Lösungsvorschläge wären daher sehr wünschenswert.

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Verlag: Suhrkamp
Erschienen: 13.10.2024
Seiten: 463
ISBN: 978-3-518-58822-2

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