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Kurzgefasst und eingeordnet von Gero Maaß – Gero Maaß ist freiberuflicher Berater und und war bis 2020 für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig, u.a. als Leiter der Internationalen Politikanalyse sowie der Büros in Frankreich, Großbritannien, Spanien sowie für die nordischen Länder.
Nach innen wie außen befindet sich die EU in schwerem Fahrwasser. Wie kann der weitere Weg für die Union nach Euro- und Migrationskrise, Brexit und Corona aussehen? Um diese Frage zu beantworten, räumt der niederländische Politikberater René Cuperus zunächst mit sieben zentralen Mythen rund um die Union auf. Sein Fazit: Die europäische Zusammenarbeit braucht mehr Realismus. In einem Plädoyer wirbt er für ein „vorsichtiges Europa“, für mehr Ausgewogenheit zwischen europäischer Integration und nationalstaatlicher Souveränität. Gebraucht wird ein starkes Europa nach außen, ein sanftes nach innen.
Renés politische Heimat ist die niederländische Sozialdemokratie. Er ist immer dafür gut, um mit deutlicher Sprache sozialdemokratische Träume zurück auf den Boden der Tatsachen zu zerren. Nach den Themen Migration und Integration hat er sich Europas Traum vorgenommen. Das Buch liefert eine gute Blaupause, um seine eigenen europapolitischen Positionen einem Realitätstest zu unterziehen. Zumal er als Niederländer aus einem mittleren Mitgliedsland kommt, das Gründungsmitglied der Gemeinschaft ist und mehr noch – das geschichtlich positiv auf seine nationalstaatliche Tradition blickt.
Wohl mit Vorsicht, ja Skepsis würde er die alte SPD-Vision von den Vereinigten Staaten von Europa aus dem Heidelberger Programm aus dem Jahr 1925 kommentieren sowie einige europapolitische Ziele des Koalitionsvertrages der neuen deutschen Ampelregierung.
Als langfristiges Ziel postuliert der Vertrag, die EU in einen „föderalen europäischen Bundesstaat“ zu verwandeln – ein hehres Ansinnen, das bei vielen EU-Regierungen auf Ablehnung stoßen wird und Gefahr läuft, mehr Erwartungen zu wecken als einlösen zu können.
Für Cuperus wäre es sogar Teil jener Mythen, die er mit seinem Buch entlarven möchte. Er will indes nicht das Kind mit dem Bade ausschütten: Was soll denn auch an die Stelle der EU treten? Sicherlich nicht Wolfgang Streecks illusionäres Netz aufgeklärter Nationalstaaten (siehe: www.fes.de/akademie-fuer-soziale-demokratie/buch-essenz/buch-essenz-streeck). Auf der Basis von Europa-Realismus plädiert Cuperus für ein „vorsichtiges Europa“. Viele der europapolitischen Koalitionsziele würden da sicherlich auch sein Plazet finden. Vorsicht ist gut, kann indes auch in Stillstand enden – 16 Jahre Merkel lassen grüßen! Der von Kanzler Scholz im Wahlkampf so oft betonte Respekt hätte auf jeden Fall auch in diesem Politikfeld seinen Platz.
René Cuperus, geb. 1960, Dr. Senior Associate Fellow im niederländischen Think Tank „Clingendael“, Mitarbeiter am Deutschland Institut der Universität Amsterdam. Politischer Kolumnist für den privaten Nachrichtensender RTLZ.
Eine zentrale Frage durchzieht das Buch: „Wie kann man ein Mehrvölkerreich mit 500 Millionen Einwohnern in eine wahre Demokratie verwandeln?“ Der Autor formuliert dabei vier Sorgen, identifiziert sieben Mythen und liefert ein Plädoyer für ein vorsichtiges Europa.
Seine Ausgangspunkte sind diese vier Sorgen: • die große Entfremdung zwischen der europäischen Politik und dem durchschnittlichen EU-Bürger, • die Instabilität der nationalen Gesellschaften, • die Unsicherheit, ob es der Mainstreampolitik gelingt, den Angriff der Nationalpopulisten auf Europa abzuwehren, • die geopolitische Machtverschiebung hinsichtlich des Aufstiegs Chinas und des zunehmenden Antiamerikanismus.
Cuperus’ Fazit: So wie das „Elitenprojekt“ Europa jetzt funktioniert, bringt es die Menschen gegeneinander auf und spaltet unsere Gesellschaft. Die Europäische Union ignoriert nationale Eigenheiten, verletzt Gefühle demokratischer Selbstbestimmung und beschädigt die Handlungsfähigkeit des Nationalstaats, ohne eine glaubwürdige, effiziente und faire Administration an dessen Stelle zu setzen.
Er beklagt, was er als Schwarz-Weiß-Denken im Europa-Diskurs empfindet. Er sieht hier zwei Gegenpole. Auf der einen Seite jene, die von einem in Glanz und Glorie wiederhergestellten Nationalstaat träumen, Rechtspopulisten und Nationalisten. Auf der anderen Seite enthusiastische Integrationisten, die nicht weniger als die „Vereinigten Staaten von Europa“ vor Augen haben. Beiden bescheinigt Cuperus mythisches Denken und identifiziert sieben Mythen der europäischen Integration.
Wie ein suggestiver Schleier liegt über der Gemeinschaft das Zukunftsmantra, dass nur Schritt für Schritt in eine immer engere Gemeinschaft wirklich vorwärts geht. Indes ist es unklar, wo das Ziel ist, wie es dort aussieht und wie weit es noch ist.
Nie wieder Krieg – die glorifizierende und oft kultisch verbrämte Legende der Lehren des Zweiten Weltkriegs zur Deutung historischer Erscheinungen und neuer Kooperationen; die Erblast der Deutschen prägt die „Ever Closer Union“ stark. Die Lehre der Geschichte habe deutlich gemacht, dass der Nationalstaat überwunden werde müsse. Dieses weitgehend auf deutscher Erfahrung beruhende Narrativ wird den Erfahrungen anderer Länder nur begrenzt gerecht.
Der Post-Brexit Kater soll den anderen eine Lehre sein, die Bürger sind mit einem Schlag proeuropäisch geworden.
Es gibt keine europäische Souveränität ohne amerikanische Unterstützung.
Der (doppelte) Mythos des Populismus wird böswillig gepflegt von den Nationalpopulisten selbst („Stimme des Volkes“), findet indes auch seinen Niederschlag im Irrtum, dass die populistische Wählerschaft nur einer „Bauchgefühl-Demagogie“ folgt; statt sie als Warnung der etwa von Globalisierung
Sie ist nur ein fragiles Konstrukt.
Der Euro wurde auch als politisches Projekt begonnen und hat sein Gründungsdilemma ungleicher wirtschaftlicher Entwicklungsstandards nicht überwunden. Mehr noch ist die Frage ungeklärt, ob es sich um eine Ehe mit Gütertrennung handelt oder nicht.
Ein Mythos ist die Vorstellung, in der heutigen Welt könne ein europäischer Nationalstaat noch als souveräner Akteur auftreten. Ein Mythos ist aber auch die Idee einer europäischen Souveränität durch eine „Ever Closer Union“, weil sie eine Einheitlichkeit der Willensbildung voraussetzt, die der europäische Pluralismus nicht zulässt. Die Schönheit Europas besteht gerade in seiner großen, historisch gewachsenen kulturellen Vielfalt und den unterschiedlichen Traditionen. Fast nirgendwo auf der Welt findet man auf kleinem Raum so viele unterschiedliche Sprachen, Religionen und kulturelle Traditionen. Europa ist ein Paradies der kleinen Nationalstaaten.
Cuperus sieht die engagierten Euroföderalisten unter Hochqualifizierten mit internationalen Karriereperspektiven. Euroskepsis findet sich dagegen eher in der unteren Mittelschicht, die seit Jahren die Kehrseiten von Globalisierung und Flexibilisierung hat erleben müssen. Hier wird der Nationalstaat geschätzt als Raum sozialer Sicherheit und demokratischer Mitsprache. Vor diesem Hintergrund sollten Europapolitiker sich den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien auch als ernste Warnung zu Herzen nehmen. Es kann nicht gut gehen, wenn der Kurs der etablierten Politik strukturell, langfristig und grundlegend von dem abweicht, was fast die Hälfte der Bevölkerung will. Doch das ist in den zurückliegenden Jahrzehnten mehr oder weniger geschehen.
Zu viel Uniformität sorgt für Ungleichgewichte und erzeugt nationale Widerstandsreflexe. Die größte Gefahr für die gemeinsame Währung liegt wohl in der eines entfesselten kleinteiligen Nationalismus, der über die Wohlfahrtsgewinne der europäischen Integration siegt. Diese Entwicklung hat man in Großbritannien gesehen. Das Land hat durch den Brexit scheinbar Souveränität zurückgewonnen, aber es zahlt auch einen hohen Preis dafür –- kurz: mehr Souveränität, weniger Wohlstand. Die erhoffte Lehre für die restlichen 26: die Renationalisierung Europas. Eine Rückkehr zum vollkommen souveränen Nationalstaat ist nicht nur illusorisch, sondern auch ein riskanter Vorschlag. Ahistorische Naivität. Gewappnet mit einer guten Portion Realismus setzt Cuperus sich in seinem Plädoyer für ein „vorsichtiges Europa“ ein – sanft nach innen, stark nach außen, weder europaskeptisch noch europaföderal. Gerade die kleineren Mitgliedsländer könnten in einer weiter integrierten EU gegenüber den Schwergewichten Deutschland und Frankreich ins Hintertreffen geraten, warnt der Niederländer. Im Übrigen kreisen seine Überlegungen um die Frage, wie weit die europäische Einigung gehen dürfe, ohne dass der Wesenskern Europas, die Vielfalt und Eigenständigkeit der Gesellschaften sowie die Funktionsfähigkeit der Mitgliedstaaten, Schaden nehmen. Cuperus sieht durchaus Grenzen der Diversität. Sie verlaufen für ihn dort, wo – wie derzeit in Polen und Ungarn – die Grundprinzipien von Demokratie und Rechtsstaat auf dem Spiel stehen. Mehr Kooperation sei auch im Interesse der globalen Selbstbehauptung Europas geboten. Cuperus spricht hier von „externer Souveränität“, die idealerweise gemeinsam ausgeübt werden sollte. Er kann sich sogar einen Europäischen Sicherheitsrat vorstellen, als Stützpfeiler der westlichen Allianz. Im Gegenzug muss die „interne Souveränität“ der Nationalstaaten in der Innen-, Rechts-, Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik unangetastet bleiben. Dass stattdessen die EU unter Berufung auf Erfordernisse des Binnenmarkts und der Währungsunion in immer mehr Bereiche der nationalstaatlichen Politik hineinregiert, ist ein steter Anlass für Konflikte.
Demgegenüber hat der durchschnittliche, „realistische Europäer“ in der Regel kein Problem damit, „externe Souveränität“ – Verteidigung, Außenpolitik, Welthandel – abzugeben. Bedenken hingehen hat er, wenn es gilt, „interne Souveränität“ in den Bereichen zu delegieren, in denen die EU tief in die nationale Wirtschaft und die wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen eingreift. Der durchschnittliche Europäer zieht eine EU, die als intergouvernementale Organisation operiert, einer neuen, über ihm stehenden Staatsmacht vor.
Cuperus liefert eine Einschätzung der Stärken und Schwächen der EU und fordert: Die europäische Zusammenarbeit muss neugestaltet werden! Dabei bringt er die Sicht eines der kleineren EU-Länder ein, das zu den Gründungsmitgliedern der Gemeinschaft gehört. Die EU hat sich immer weiter von der ursprünglichen Idee eines vereinten Europas entfernt. Es kommt auf die richtige Balance zwischen der EU und ihren nationalen Demokratien an.
Europa hat seine Staatenordnung durch Vertiefung und Erweiterung organisiert. Die mythische Vision einer immer engeren Union bedarf der Präzision. Da ist man ganz beim Autor. Besonders seine Kritik an glorifizierenden und oft kultisch verbrämten Legenden zur Deutung historischer Erscheinungen liest man mit wohlwollendem Kopfnicken. Das Buch bietet dem Leser die Chance, das von ihm zu Recht beklagte Schwarz-Weiß-Denken im Europa-Diskurs zu durchbrechen. Was der Autor manchmal zum Mythos stilisiert, stellt sich bei näherer Betrachtung eher als Melange von Zielen, immer wiederkehrenden Herausforderungen oder Politikkonflikten dar.
Mehr noch, nicht nur, was drinsteht, regt zum Weiterdenken an. Sondern sogar auch das, was fehlt. Beim Plädoyer für ein „vorsichtiges Europa“ hätte man sich noch ein bisschen mehr kohärente politische Wegmarken gewünscht. Kraftvoll nach außen, ja, ein globaler Mitspieler wird man nicht mit schönen Worten. Auch gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik verlangt Einschnitte bei nationalen Souveränitätsrechten und demokratischen Errungenschaften (Beispiel Parlamentsvorbehalt bei Bundeswehreinsätzen).
Die EU propagiert nach den jüngsten internationalen Erfahrungen mehr strategische Autonomie. Das 750 Mrd.umfassende Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“ soll nicht nur die krisenhaften Einbrüche der Covid-Pandemie kompensieren, sondern die EU in Klimafragen zum Vorreiter machen, einen Digitalisierungsschub einleiten und eine europäische Industriepolitik begründen. Aspekte, die die Souveränität nach innen und außen verbinden. Er verweist auf eine Union, die fortlaufend nach einer Balance und Architektur sucht. In diesem Sinne ist der Wunsch oder Versuch, eine fertige Union mit abschließender Zielfixierung zu formulieren, selbst ein Mythos. Vielleicht sind wir nicht eine „Ever Closer Union“, sondern eine „Ever Searching Union“, auch in 50 Jahren noch. Also: auf jeden Fall lesen, oft zustimmend nicken, mal den Kopf schütteln und dabei doch nicht ganz den Impuls für engagierte Wegmarken für Europa verlieren! Bei aller Diversität zeigen die europäischen Länder gemeinsame Merkmale eines Gesellschaftsmodells, das sich mit seiner Verknüpfung von Kapitalismus, Demokratie und Würde deutlich von amerikanischen oder asiatischen Gesellschaftsentwürfen unterscheidet. Dafür lohnt es sich einzustehen.
Verlag: Verlag J.H.W. Dietz Nachf.Erschienen: Dezember 2021Seiten: 200ISBN: 978-3-8012-0574-4