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Bernie Sanders (2023): Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein

Tropen Sachbuch (Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel „It`s Okay To Be Angry About Capitalism“ im Verlag Crown, New York)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Gero Maaß.
Gero Maaß ist freiberuflicher Berater und und war bis 2020 für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig, u.a. als Leiter der  Internationalen Politikanalyse sowie der Büros in Frankreich, Großbritannien, Spanien sowie für die nordischen Länder.


buch|essenz

Kernaussagen

Der ungezügelte Kapitalismus treibt die globale Ungleichheit unaufhaltsam voran. Er untergräbt unsere Demokratie und zerstört unseren Planeten. Es bleibt nur ein Ausweg: Wir müssen dem unmoralischen Prinzip der hemmungslosen Gier endlich ein Ende setzen und die Würde des Menschen ins Zentrum aller gesellschaftlichen Überlegungen rücken. Es gilt anzuerkennen, dass zu den Menschenrechten auch wirtschaftliche Rechte zählen, und eine Gesellschaft zu schaffen, die einen angemessenen Lebensstandard für alle bietet. Wie schon Franklin D. Roosevelt sagte: Echte individuelle Freiheit kann es ohne wirtschaftliche Absicherung und Unabhängigkeit nicht geben.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Durch die Lektüre dieses Buches kann man viel über die USA lernen und darüber, wie ein Kapitalismus ohne Phasen sozialdemokratischer Reformpolitik aussieht. Das Buch gibt ein bewegendes Zeugnis davon ab, dass sich Ehrlichkeit in der Politik auszahlt. Es ist eine Abrechnung mit den Superreichen und ein Wegweiser für die nächste Generation – eine Anleitung, welche Schritte es jetzt braucht, damit alle Menschen in Würde leben können. Das Buch ist schließlich auch eine Ermutigung, immer wieder über die Bedeutsamkeit einer engagierten politischen Erzählung vor allem in Zeiten vielschichtiger Krisen nachzudenken. Sanders selbst lehnt sich dabei an Nelson Mandela an: „Es erscheint immer unmöglich, bis es jemand tut.“


buch|autor

Bernie Sanders ist US-amerikanischer Politiker und vertritt den Bundesstaat Vermont im Senat. Als Kandidat bei den Vorwahlen der Demokraten bewarb er sich zweimal um das höchste politische Amt der USA.


Bernie Sanders: buch|essenz anhören


buch|inhalt

Das 400 Seiten lange Buch ist eine Mischung aus Gegenwartsanalyse, persönlichen Rückblicken und Zukunftsskizze. Zentral ist die Kritik an den „Oligarchen Amerikas“.

Zunächst rekapituliert Sanders den US-Wahlkampf von 2020. Er beschreibt den unerwartet großen Zulauf und die Erfolge, die er mit seinem Engagement für soziale Gerechtigkeit, ein funktionierendes Gesundheitssystem und die Entmachtung des Kapitals vor allem bei jungen Menschen erzielte. Die Grundlage seiner anfänglichen Popularität waren seine erfolgreichen Versuche, die Wähler_innen in ihrer eigenen Sprache anzusprechen. Ihnen zuzuhören und dorthin zu gehen, wo Nichtwähler_innen lange nicht besucht worden waren. Sein Rezept: Dem Status quo die Stirn bieten, ein angemessener Lebensstandard für alle muss das Ziel sein.

Und tatsächlich machte Sanders sich auf den Weg, die Demokratische Partei von einer von Großspender_innen und Konzerninteressen dominierten Wahlmaschinerie in eine multiethnische und gleichermaßen städtische wie ländliche Bewegung zu verwandeln. Was ein Hoffnungsschimmer für die Demokraten hätte werden können, wurde von ihnen indes als Alarmsignal missverstanden und Sanders wurde ausgebremst.

Dennoch schaffte er es mit Verweis auf seine Erfolge im Vorwahlkampf, Teile seiner Ideen aus der Graswurzelbewegung in die Verhandlungen mit dem Wahlkampfteam von Joe Biden einzubringen. So trug er in erheblichem Maße zu einer progressiven Agenda bei. Als es nach der Wahl an das Wiederaufbauprogramm ging, fiel es den Demokraten allerdings schwer, die Versprechen eines grundlegenden Wandels einzulösen. Weder gelang es, bedürftigen Familien ein Kindergeld von monatlich 300 Dollar bereitzustellen, noch konnten die Vergünstigungen für fossile Brennstoffe gestrichen werden. Stattdessen gab es Steuergeschenke für Wall-Street-Unternehmen – ein Scheitern, an dem es nichts schönzureden gibt: „In einer Zeit von gewaltiger Not, Kummer und Unzufriedenheit, in der allzu viele Amerikaner_innen die Demokratie abschrieben, klebte der Senat ein kleines Pflaster auf eine klaffende Wunde. Die meisten Menschen sollten es gar nicht merken, geschweige denn sich daran erinnern, was wir da getan hatten.“

Was dagegen helfen würde, wären ein moralischer Kompass, der sich an Werten wie Gemeinwohl, Solidarität und Menschenrechten orientiert, eine gewerkschaftliche Organisation der Arbeitnehmerschaft und, last but not least, die wachsende Wut auf ein ausbeuterisches System, die jedoch in die richtigen Bahnen gelenkt werden muss: „Milliardär_innen sollte es nicht geben“. Es gilt, sich auf die Seite der Arbeiterklasse zu stellen.

Im Detail lässt Sanders dabei zunächst das Versagen des Gesundheitswesens Revue passieren. Im Gegensatz zu den meisten anderen Industrieländern haben die USA kein echtes Gesundheitssystem, sondern ein extrem teures und enorm komplexes, überbürokratisiertes und zersplittertes Nicht-System, in dem Millionen Menschen der Zugang zur benötigten Versorgung schlicht versperrt bleibt. Gesundheitsfürsorge ist aber ein Menschenrecht und darf kein vom Einkommen abhängiges Privileg sein.

Eine Veränderung ist in Zeiten tödlicher Ungleichheit nur möglich, wenn Beschäftigte und nicht die CEOs einer Handvoll von Tech-Giganten die Zukunft der Arbeit in Amerika bestimmen. Es genügt indes nicht, wenn die Beschäftigten am Arbeitsplatz mitbestimmen können. Vielmehr gilt es, über entsprechende Mitarbeiter-Beteiligungsfonds ein Aktienstimmrecht zu verankern und mitarbeitergeführte Unternehmen aufzubauen. Zudem müssen Roboter besteuert und die Wochenarbeitszeit verkürzt werden.

Eine weitere zentrale Veränderung betrifft die Reform des Bildungswesens. Auch hier gilt der Grundsatz, zuzuhören, was Lernende und Lehrende zu sagen haben, denn sie müssen bei der Bildungsreform an erster Stelle stehen. Der Aufgabenkatalog reicht dabei von einer gerechten Finanzierung öffentlicher Schulen inklusive gerechter Gehälter für das Lehrpersonal über Schulessen für alle bis hin zu Maßnahmen, die aus Schulen einen sicheren und inklusiven Ort machen.

Auch das Mediensystem muss radikal reformiert werden; insbesondere muss die Macht der Medienkonzerne beschnitten werden. In seiner jetzigen Form banalisiert das Mediensystem den öffentlichen Diskurs und führt zu einer Schwächung des Journalismus, die direkt in eine Krise der Demokratie münden wird


buch|votum

Dieses Buch ist nicht nur ein Pamphlet im besten Sinne des Wortes, sondern das politische Vermächtnis des zweiundachtzigjährigen Bernie Sanders, dessen politisches Lebensmotto lautet: „Je älter man wird, heißt es immer, desto konservativer wird man. Bei mir ist es umgekehrt: Je älter ich werde, desto wütender werde ich auf das hyperkapitalistische System, in dem wir leben, und desto mehr sehne ich mich nach tiefgreifenden Veränderungen in diesem Land.“

Das Buch lebt von der Glaubwürdigkeit des Autors, eines ungewöhnlichen Politikers, der sich seit 50 Jahren auflehnt und gleichzeitig Teil der politischen Institutionen seines Landes ist. Glaubwürdig ist Sanders auch deshalb, weil er nicht nur die derweil rechtspopulistischen Republikaner angreift, sondern auch offenlegt, wo die Demokratische Partei Mitverantwortung für die gegenwärtigen Verhältnisse trägt. Als Sohn einer Arbeiterfamilie weiß Sanders nur zu gut um die Notwendigkeit ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit. Vor allem im dritten Kapitel beschreibt er eindrücklich und nachvollziehbar die Funktionsweise des Senats, legt die beharrenden Kräfte offen und scheut sich auch nicht, die Widerstände in den eigenen demokratischen Reihen zu benennen.

Leider verhandelt Sanders in dem Buch sehr viele Themen, die sich nicht alle ohne Weiteres verarbeiten lassen. Doch es tut gut, zu lesen, wie ein über achtzigjähriger Politiker sich treu bleibt und weiterkämpft. Das Buch vermittelt viele interessante Einblicke in die USA und die Hintergründe der dortigen Politiker_innen, Wahlen, der praktizierten Demokratie und der Gesetzgebung. Dabei gibt Sanders sich recht unbescheiden! Sprachlich wird locker vom Hocker erzählt. Es bleibt indes vor allem ein Buch für Bernie-Sanders-Fans. Wo Sanders manchmal zu viel Pathos an den Tag legen mag, würde man sich mit Blick auf andere im hiesigen Politikbetrieb gerne ein bisschen mehr davon wünschen

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Verlag: Tropen
Erschienen: 14.10.2023
Seiten: 432
ISBN: 978-3-608-50220-6

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