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Kurzgefasst und eingeordnet von Paula Schweers– Paula Schweers arbeitet nach Stationen in Politik und Wissenschaft für das ARTE Magazin und als freie Journalistin und Autorin. Ihr Debütroman „Lawinengespür“ erschien 2023 bei der Frankfurter Verlagsanstalt.
Susan Neiman postuliert in ihrer Streitschrift „Links ist nicht woke“, dass zeitgenössische linke, woke Stimmen ausgerechnet jene Überzeugungen aufgegeben haben, die traditionell für den linken Standpunkt kennzeichnend sind: das Bekenntnis zum Universalismus, die klare Unterscheidung zwischen Macht und Gerechtigkeit sowie den Glauben an die Möglichkeit von gesellschaftlichem Fortschritt. Ihre Thesen untermauert Neiman, indem sie die philosophischen Konzepte und Denker_innen untersucht, auf die sich die woke Bewegung bezieht. Sie kontrastiert diese mit den Konzepten und Denker_innen der Aufklärung. Folgende Thesen sind für Neiman zentral:
Identitätspolitik ist ein Reizthema: Wokeness und Cancel Culture sind Kampfbegriffe der neuen Rechten geworden, aber auch innerhalb der politischen Linken sorgen sie für Grabenkämpfe. Gegenüber der Sozialen Demokratie wird immer wieder der Vorwurf laut, sie sei in wichtigen Ländern – allen voran in den USA, Großbritannien und Deutschland – in die politische Defensive geraten. Anstatt sich ihrem Kernthema, der sozialen Gerechtigkeit, zu widmen, habe sie sich zu sehr der Identitätspolitik zugewendet. Neiman beschäftigt sich vor dem Hintergrund der erstarkenden rechten Parteien mit genau diesen Problemfeldern. Ihr Buch ist deshalb ein interessanter, wenn auch streitbarer Debattenbeitrag.
Susan Neiman wurde 1955 in Atlanta, Georgia geboren. Sie studierte Philosophie an der Harvard University und der Freien Universität Berlin und war Professorin für Philosophie an den Universitäten Yale und Tel Aviv.
Im Jahr 2000 übernahm sie die Leitung des Einstein Forums in Potsdam. In ihren Arbeiten beschäftigt sich Neiman mit Moralphilosophie, politischer Philosophie und Philosophiegeschichte.
Neiman versucht in ihrem Buch eine klare Definition dessen zu liefern, was den linken Standpunkt im Kern ausmacht. Besonders wichtig ist ihr hierbei die Abgrenzung gegenüber dem unscharfen Begriff „woke“, der in gesellschaftlichen Debatten regelmäßig mit dem Begriff „links“ gleichgesetzt wird. In drei Kapiteln analysiert Neiman die Unterschiede zwischen den philosophischen Konzepten und Denker_innen der woken Bewegung und der Aufklärung. Konkret nimmt sie dabei eine Gegenüberstellung von „Universalismus und Stammesdenken“, „Macht und Gerechtigkeit“ sowie „Fortschritt und Verhängnis“ vor.
Der Begriff „woke“ wird unscharf verwendet. Für Neiman beginnt er „bei der Sorge um ausgegrenzte Menschen und endet bei [einer] bloßen Reduktion auf das Ausgegrenztsein.“
Woke teilen Empfindungen, die traditionell bei der Linken zu finden sind. Hierzu gehören Mitgefühl mit unterdrückten Menschen und der Wunsch, historisches Unrecht wiedergutzumachen. Wachsein gegenüber Rassismus und Sexismus sowie den Verbrechen der Geschichte ist ein wichtiges Anliegen. Allerdings bleiben woke Analysen bei Machtungleichgewichten und den Rechten einzelner Gruppen stehen. Die Idee von Gerechtigkeit für alle bleibt dabei oft auf der Strecke. Auf diese Weise entsteht ein neues „Stammesdenken“, das dem linken Wert des Universalismus, also der Überzeugung, dass Rechte für alle Menschen gleichermaßen gelten, zuwiderläuft.
Diese Problematik spiegelt sich im Konzept der Intersektionalität wider. Es wäre möglich gewesen, durch diesen diskriminierungssensiblen Ansatz deutlich zu machen, wie vielfältig Identitäten ausgeprägt sind. Stattdessen führte er jedoch dazu, sich ausschließlich auf die Identitäten zu konzentrieren, die die stärkste Ausgrenzung erfahren. Das Resultat sind ein „Wald aus Traumata“ und eine Fixierung auf den Opferstatus.
Besonders problematisch ist die identitätspolitische Kritik an den Idealen der Aufklärung. Diese als rassistisch, kolonialistisch und eurozentristisch zu kritisieren, ist falsch. Denn es waren Autor_innen der Aufklärung, die als erste Kritik an Eurozentrismus und Kolonialismus formulierten.
Viele der theoretischen Annahmen der Woken wurzeln in einer intellektuellen Bewegung, die sie eigentlich zutiefst verabscheuen – nämlich im Reaktionären. Foucault als „Pate der woken Linken“ weist eine theoretische Verwandtschaft zum Nazi-Juristen Carl Schmitt auf. Foucaults Botschaft ist reaktionär, weil er den Universalismus der Aufklärung ablehnt und hierdurch entscheidend zum „Stammesdenken“ beiträgt. Für ihn gibt es keinen gesellschaftlichen Fortschritt, sondern nur Verfeinerungen von Machtstrukturen.
Dies führt heute dazu, dass Woke nicht mehr für realen Fortschritt streiten wollen. Die Fixierung auf die Demaskierung der Gegenwart und ihrer Machtstrukturen kann so einnehmend sein, dass eine bessere Zukunft nicht mehr vorstellbar, geschweige denn realisierbar zu sein scheint.
Susan Neiman ist es mit ihrer Streitschrift gelungen, die aktuellen Grabenkämpfe in der Linken zum Thema Identitätspolitik sichtbar zu machen. Die besondere Stärke des Buches ist der Versuch, die theoretischen Wurzeln dieser Problematik zu definieren. An einigen Stellen wäre es jedoch wünschenswert, die identitätspolitischen Ansätze von rechts und links nicht in einen Topf zu werfen, sondern den grundlegenden Unterschied zwischen ihnen klarer zu benennen: Während identitätspolitische Ansätze von rechts den jeweiligen Hegemon stärken, haben linke Ansätze die Stärkung gesellschaftlicher Teilhabe von benachteiligten Gruppen zum Ziel. Spannend zu erfahren wäre auch, wie diskriminierungssensible Ansätze künftig in eine universalistische Perspektive eingebunden werden könnten.
Verlag: HanserErschienen: 21.08.2023Seiten: 176ISBN: 978-3-446-27802-8