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Teresa Bücker: Alle_Zeit

Eine Frage von Macht und Freiheit. Berlin: Ullstein Buchverlage (2022)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Paula Schweers
Paula Schweers ist Journalistin und Autorin. Sie studierte Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und Europäische Kulturgeschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Derzeit wird sie beim ARTE Magazin und an der FreeTech Academy of Journalism und Technology zur Redakteurin ausgebildet.


buch|essenz

Kernaussagen

Teresa Bücker benennt in ihrem Buch den Umgang mit der Ressource Zeit als zentrales Problem moderner Gesellschaften. Für sie ist es eine Frage der Gerechtigkeit, wie diese Ressource verteilt ist, wie ihr Wert bemessen wird und wie sie genutzt und erlebt werden kann. Somit muss eine Vision für eine neue Zeitkultur die Machtstrukturen, die hinter dieser ungleichen Verteilung stecken, mitdenken und verändern. Vor diesem Hintergrund fordert Bücker eine Umverteilung von Sorgearbeit sowie eine Abkehr von einer reinen Ausrichtung auf Erwerbsarbeit. Zentral sind folgende Positionen:

  • Zeit ist eine zentrale Ressource unserer Gesellschaft. Doch sie steht nicht allen gleichermaßen zur Verfügung. Die Organisation von Lebenszeit ist somit eine Frage von Macht und Gerechtigkeit.
  • Effizient genutzte Zeit ist zu einem Statussymbol und einer kulturellen Norm geworden.
  • Erwerbsarbeit und das Gefühl der eigenen Identität sind eng miteinander verbunden. Dies führt dazu, dass sehr viel Zeit für berufliche Tätigkeiten aufgewandt und Arbeitslosigkeit gesellschaftlich stigmatisiert wird.
  • Zeitarmut hindert Menschen daran, sich politisch einzubringen. Die Ungleichverteilung von Zeit ist somit ein demokratisches Problem.
  • In der professionellen Care-Arbeit sollte die Würde der umsorgten Menschen sowie eine angemessene Erfüllung ihrer Bedürfnisse im Zentrum stehen.
  • Es braucht eine intersektionale Analyse, um die Verteilung der Ressource Zeit zu untersuchen und sichtbar zu machen.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

In gesellschaftlichen Debatten um soziale Ungleichheit spielen die Kontrolle über die eigene Lebenszeit und dahinter liegende Machtstrukturen bisher höchstens als Randaspekt eine Rolle. Teresa Bücker bringt diesen interessanten Aspekt in die Diskussion ein. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es durch ungerechte Verteilung von Zeit einigen Personengruppen erschwert wird, sich am demokratischen Diskurs zu beteiligen. Diese bisher eher wenig beleuchtete Perspektive kann die Debatten der Sozialen Demokratie bereichern.

Verlag: Ullstein Buchverlage
Erschienen: 19.10.2022
Seiten: 400
ISBN: 9783550201721


buch|autorin

Teresa Bücker arbeitet als Journalistin und Autorin zu gesellschaftspolitischen und feministischen Fragestellungen.

Sie schreibt für das Süddeutsche Zeitung Magazin die Kolumne „Freie Radikale“ und moderiert das RBB-Format „Jetzt mal konkret“. Von 2014 bis 2019 war sie Chefredakteurin des Onlinemagazins EDITION F. 2017 wurde sie als Journalistin des Jahres ausgezeichnet.


Teresa Bücker: buch|essenz anhören


buch|inhalt

Im ersten Teil des Buches stellt Bücker die strukturellen Hintergründe dar, die zu einer ungleichen Verteilung der Ressource Zeit in der Gesellschaft führen, und zeigt auf, welche Probleme daraus entstehen. Darauf aufbauend nimmt sie in den weiteren Kapiteln die Bereiche der Erwerbsarbeit, der Sorgearbeit, der Freizeit und des politischen Engagements in den Blick. Abschließend entwickelt sie ihre Vision für eine neue Zeitkultur.

Teil 1: Strukturelle Hintergründe

In Industrieländern besteht ein Paradoxon zwischen steigender Lebenserwartung und sinkender Erwerbsarbeitszeit einerseits sowie einem Gefühl von Zeitknappheit andererseits. Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftler_innen, die sich mit Zeitbudget-Forschung auseinandersetzen. Die statistische Durchschnittsbürger_in hat zwar mehr Freizeit zur Verfügung als jemals zuvor. Dennoch zeigte eine Studie des Statista Research Department von 2020, dass hochgerechnet 26 Millionen Menschen in Deutschland ihr Leben als von Zeitnot geprägt empfinden.

Zeitforscher wie Jürgen Rinderspacher begründen dieses Paradoxon damit, dass empfundener Zeitwohlstand weit über den Umfang von Zeit hinausgeht, die erwerbsarbeitsfrei ist. Stattdessen wird Zeitwohlstand nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ definiert. Menschen empfinden Zeit als lebenswert, in der sie eigenen Bedürfnissen nachgehen und über die sie selbstbestimmt entscheiden können. Auf dieses Privileg können jedoch nur wenige Menschen zurückgreifen, wodurch ein kulturelles Machtgefälle entsteht.

Das Gefühl von Zeitnot hängt zudem damit zusammen, dass möglichst effizient genutzte Zeit in einer von Optimierungsdruck geprägten Gesellschaft zum Statussymbol geworden ist. Dieses Phänomen wird durch die vielfachen Bilder eines vermeintlich idealen Tagesablaufs in den sozialen Medien verstärkt, in dem der Alltag zugleich effizient und besonders aufregend erscheint. Die Freizeitgestaltung und das Arbeitsleben sollen somit nicht nur Zufriedenheit und Geld bringen, sondern auch kulturelle Normen erfüllen.

Besonders in kapitalistischen Gesellschaften führt eine Verdichtung der eigenen Zeit durch vielfältige Erlebnisse und ein hohes Arbeitspensum somit zu einem größeren kulturellen Kapital, das den sozialen Status festigt. Erwerbsarbeit und das Gefühl der eigenen Identität sind zudem eng miteinander verbunden. Dies führt dazu, dass sehr viel Zeit für berufliche Tätigkeiten aufgewandt und Arbeitslosigkeit gesellschaftlich stigmatisiert wird.

Ungleich verteilte Sorgearbeit und ungerechte Bezahlung tun ihr Übriges, um ein gesellschaftliches Machtgefälle in Sachen Zeit zu erzeugen. Diese Ungleichheit sollte durch eine intersektionale Analyse sichtbar gemacht werden. Nicht zuletzt hat Zeitarmut auch eine politische Dimension, hindert sie doch Menschen daran, sich gesellschaftlich einzubringen.

Teil 2: Lösungsansätze

Zeitgerechtigkeit ist eine Gesellschaftsaufgabe. Bisher orientiert sich die gegenwärtige Zeitkultur vor allem an den Anforderungen der kapitalistischen Gesellschaft.

Politische Regelungen, die eine größere Souveränität im Umgang mit Zeit ermöglichen würden, wären beispielsweise der Verzicht auf Altersgrenzen beim BAföG, Weiterbildungszeiten und Freiwilligendienste, die angemessen bezahlt werden, oder ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Das Optionszeitenmodell, das von Wissenschaftler_innen des Deutschen Jugendinstituts und der Universität Bremen entwickelt wurde, könnte zudem dafür sorgen, dass Care-Arbeit geschlechtergerecht aufgeteilt werden könnte. Das Modell sieht vor, dass allen Menschen in ihrem Erwerbsverlauf ein Zeitbudget von etwa neun Jahren zur Verfügung steht, das ermöglichen soll, ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der Sorgearbeit für Kinder, Alte und Kranke zu unterbrechen bzw. zu reduzieren und gleichzeitig während dieser Zeit finanziell abgesichert zu sein. 

Der Zentrierung auf Erwerbsarbeit lassen sich Modelle wie das der Soziologin und kritischen Psychologin Frigga Haug entgegenstellen. Ihre 4-in-1-Perspektive schlägt vor, dass jedem Menschen am Tag vier Stunden Zeit für Erwerbsarbeit, Sorgearbeit, Selbstfürsorge und gesellschaftspolitisches Engagement zur Verfügung stehen sollten.

Es regt die Diskussion darüber an, wie ein gelungenes Leben aussehen kann, und zeigt, dass bezahlte Arbeit nicht automatisch höherwertig ist als Sorgearbeit oder Freizeit. Allein die Bewusstwerdung dieser bisherigen Ordnung ist bereits ein erster Schritt, um sie zu überwinden.


buch|votum

Teresa Bückers gesellschaftspolitische Streitschrift macht die Bedeutung von Zeit als einer politischen und kulturellen Größe deutlich und zeigt ihre Bedeutung für die Teilhabe am demokratischen Leben auf. Diese Grundidee und die dahinter liegende strukturelle Problematik darzustellen, ist die große Stärke des Buches. Die Lösungsvorschläge hingegen werden eher angerissen und könnten noch stärker ausdifferenziert werden.

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