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Unser Gastautor Sebastian Knoll-Jung erläutert die Etablierung der Unfallversicherung im Jahre 1884 und dessen Entwicklung bis heute.
Vor 140 Jahren, am 6. Juli 1884, mündeten jahrelange Verhandlungen und zahlreiche vorangegangene Gesetzesentwürfe in der Verkündung des Unfallversicherungsgesetzes im Reichsgesetzblatt. Nach Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags besiegelte die Unterschrift von Kaiser Wilhelm I. das Gesetz. In 111 Paragrafen entstand ein Gesetzeswerk, durch welches das Deutsche Reich sozialpolitisches Neuland betrat.
Die Unfallversicherung war der eigentliche Ausgangspunkt der sogenannten Bismarck’schen Sozialversicherungsgesetzgebung. Dazu gehörten ebenfalls das weniger umstrittene und schon im Vorjahr erlassene Krankenversicherungsgesetz von 1883 sowie das 1889 beschlossene Gesetz zur Alters- und Invaliditätsversicherung, der Grundlage unserer Rentenversicherung. Wichtig war zudem die Kaiserliche Botschaft von 1881. Sie gilt als Grundsteinlegung der deutschen Sozialversicherungsgesetzgebung oder Arbeiterversicherung, wie sie zeitgenössisch auch in Hinblick auf den männlichen Arbeiter als Hauptadressaten bezeichnet wurde. In ihr spielte die Unfallversicherung eine zentrale Rolle, die von nun an Arbeitsunfallopfer entschädigte und präventive Ansätze zur Unfallvermeidung entwickelte.
Die Konstruktion der Sozialversicherung war also von der Unfallversicherung aus gedacht und bildete ihr Herzstück. Wegen der langwierigen Verhandlungen konnte aber das weniger umstrittene Krankenkassengesetz, das eigentlich ergänzend gedacht war zuerst erlassen werden.
Ohne nun den zähen Verhandlungsweg zur Unfallversicherung nachzuzeichnen, der sehr gut dokumentiert ist über die auch online zugängliche Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik.
Als politischer Hintergrund der Entstehung wird die Sozialversicherung häufig als positives Gegenstück zum repressiven Sozialistengesetz von 1878 bezeichnet, durch welches sozialdemokratische Organisationen und Gewerkschaften verfolgt wurden. Ausgesprochenes politisches Ziel war die Entschärfung des Konfliktpotentials. Die Arbeiterschaft sollte durch wohlfahrtsstaatliche Leistungen in die obrigkeitsstaatliche Ordnung des Kaiserreichs integriert werden. Dieses sprichwörtlich mit dem vielbemühten Bild von Zuckerbrot und Peitsche bezeichnete Nebeneinander der beiden Gesetzgebungen sollte die Arbeiter:innenbewegung eindämmen.
Neben dieser politischen Konfliktlage bildeten soziale Problematiken einen wesentlichen Ausgangspunkt der Unfallversicherung. Mit zunehmender Industrialisierung stieg die Zahl der Unfallverletzten und -invaliden rasant an: Arbeitsunfälle und gefährliche Arbeitsbedingungen, die zur Arbeitsunfähigkeit führten, stellten eine große Herausforderung dar. Das Reichshaftpflichtgesetz von1871 stellte sich als unzureichende Antwort dar, denn nach diesem mussten Geschädigte dem Unternehmen ein schuldhaftes Verhalten nachweisen, um Entschädigungen für Unfälle zu erhalten. Für Arbeiter:innen war es zum einen häufig sehr schwierig die genauen Unfallursachen herauszufinden, zum anderen fehlte es ihnen oft an Kenntnis, Möglichkeiten und Mitteln entsprechende rechtliche Auseinandersetzungen auszutragen. So wurde ein Großteil der Unfallopfer der Armenfürsorge überlassen, mit all den dazugehörigen sozialen Stigmatisierungen.
Das neue Unfallversicherungsgesetz regelte nun die Entschädigung von Arbeitsunfällen, unabhängig vom Verursacher. Dabei konnte die Höhe der Unfallrente je nach Schwere der Schädigung bis zu zwei Dritteln des Jahreseinkommens betragen. Für die Finanzierung waren mittels eines Umlageverfahrens allein die Unternehmen zuständig, die sich dazu in selbstverwalteten Berufsgenossenschaften als Unfallversicherungsträger zusammenschließen mussten. Berücksichtigen muss man allerdings, dass die Unfallversicherung erst nach der 13. Woche, der sogenannten Karenzzeit, zu Leistungen verpflichtet war. Davor hatten Krankenkassen die Heilkosten zu tragen, an denen die versicherten Arbeitenden zu zwei Dritteln beteiligt waren. Diese Aufteilung entlastete die Unternehmen deutlich. Als Streitpunkt war diese Regelung in den Verhandlungen zum Gesetz wenig verwunderlich auf Ablehnung durch die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten gestoßen.
Dennoch bedeutete die Unfallversicherung eine Entschärfung des sozialen Konfliktpotentials, verpflichtete die Unternehmen, für schwerwiegende gesundheitliche Folgen der Arbeitsbedingungen zu haften und verbesserte die materielle Lage der Arbeiter:innenschaft, auch wenn die Versicherungspraxis ihre eigenen neuen Streitpunkte mit sich brachte. Vor allem die Entschädigungsverfahren bildeten einen ständigen Streitpunkt zwischen Unfallopfern und Berufsgenossenschaften. Ein kostenfreier Klageweg erleichterte für die Betroffenen den Rechtsweg. Zahlreiche Streitfälle wurden vor den nun neu geschaffenen Schiedsgerichten der Arbeiterversicherung, später Oberversicherungsämtern, und der höchsten Instanz der Unfallversicherung, dem Reichsversicherungsamt, verhandelt.
Da die Berufsgenossenschaften gegenüber dem Unfallopfer in den Streitfällen einen strukturellen Vorteil besaßen, bildeten sich zur Unterstützung der Arbeiter:innen in den Prozessen „Arbeitersekretariate“. Dabei handelte es sich um gewerkschaftlich getragene Rechtsauskunftsstellen für Sozialversicherungsangelegenheiten, zu deren wichtigsten Aufgabengebiet Entschädigungssachen der Unfallversicherung gehörten. Die erste Einrichtung dieser Art gründete der Sozialdemokrat Karl Grillenberger 1894 in Nürnberg. Zahlreiche weitere Städte folgten. Viele später bekannte sozialdemokratische Politiker:innen engagierten sich hier als Mitarbeiter:innen und durchliefen diese sozialpolitische Schule. Dazu zählten etwa Emil Eichhorn, Gustav Bauer, Gertrud Hanna und Rudolf Wissell. Auch Friedrich Ebert war Arbeitersekretär in Bremen gewesen.
Prinzipiell war in der Rechtsprechung seit 1884 auch eine Beteiligung von Arbeiter:innenvertretern vorgesehen. Sie dienten als Beisitzer der Schiedsgerichte, wählten die Beisitzer im Reichsversicherungsamt und begutachteten die Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften. Gewählt wurden sie indirekt von den Vorständen der zuständigen Krankenkassen. Wobei allerdings die freien Hilfskassen, in denen viele sozialdemokratische Arbeiter:innen organisiert waren, ausgeschlossen blieben. Ebenso wurde Frauen eine Beteiligung grundsätzlich verwehrt.
Auf der Ebene des Reichsversicherungsamts waren schon 1889 Sozialdemokraten für die Positionen der beiden Arbeitervertreter gewählt worden. Dort verlief die Zusammenarbeit kooperativ, was vor allem an dem ersten Präsidenten des Reichsversicherungsamts Tonio Bödiker lag, der schon bei der Ausarbeitung des Gesetzes maßgeblich beteiligt war. Er hatte Vertrauen in diese Institution herstellen können, die während seiner Amtszeit als „arbeiterfreundlich“ galt. Für die Akzeptanz des neuen Sozialversicherungszweigs sprach auch, dass die sozialdemokratischen Abgeordneten 1884 zwar dem Unfallversicherungsgesetz nicht zugestimmt hatten, u.a. wegen der finanziellen Beteiligung über die Krankenkassen in der Karenzzeit, aber bereits 1886 im Reichstag dem Etat des Reichsversicherungsamts zustimmten.
Ablesen lässt sich dieses Arrangement mit der Unfallversicherung auch an der Rhetorik der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Presseorgane: Während in den 1880er Jahren noch häufig über die sozialen Missstände durch die Arbeitsunfallfolgen geklagt wurde unter Titeln wie „Vom Schlachtfeld der Arbeit“ oder dem „Kampf um die Rente“, verschwanden entsprechende Artikel rasch. Die Zeitschrift „Die Neue Zeit“ berichtete 1912 über die Kritik aus den Arbeitersekretariaten: Vor allem die Parteipresse berichte kaum noch zu Themen der Sozialversicherung. Begründet wurde das fehlende Mobilisierungspotential der Unfallversicherungsthematik auch mit einem Desinteresse der Arbeiterschaft. Hier hatte die Strategie der sozialen Reformen gewirkt und trotz Fortbestehen gewisser Konflikte, funktionierte die Einrichtung demnach weitgehend geräuschlos.
Struktur und Ausgaben der Arbeiterversicherung wurden im Kaiserreich bildlich häufig als Baum dargestellt, mit welchem in Festschriften und auf nationalen und internationalen Ausstellungen für das Modell geworben wurde. Insgesamt ist für die Geschichte der Unfallversicherung zu beachten, dass über die mit dem Namen Bismarcks verknüpfte Gründungsgeschichte hinaus im Kaiserreich ein stetiger Entwicklungsprozess stattfand. Durch Ausdehnungsgesetze 1886, 1887 und 1890 erweiterte sich der Versichertenkreis von Arbeitsplätzen in Industrie und Bergbau auf land- und forstwirtschaftliche Betriebe, Baugewerbe sowie Seeleute. Die Gesetzestexte wurden zudem stetig reformiert bis hin zur Reichsversicherungsordnung 1911, die alle Sozialversicherungszweige zusammenfasste. Ihre Gültigkeit behielt sie bis in die Bundesrepublik und wurde erst ab 1975 schrittweise durch das Sozialgesetzbuch abgelöst.
In der Weimarer Republik erfolgten Schritte hin zur Festigung des Prinzips der Selbstverwaltung sowie zur Demokratisierung der Gremien und Verfahren innerhalb der Sozialversicherung, u.a. durften Frauen endlich partizipieren.
1925 erfolgte zudem ein weiterer Ausbau der Unfallversicherung durch Ausweitung des Leistungsspektrums auf Wegeunfälle und Berufskrankheiten sowie in der Praxis durch Stärkung der Prävention in Form der „Unfallverhütungspropaganda“. Mit Mitteln der kommerziellen Reklame warben die Berufsgenossenschaften nun für den Unfallschutz. Mittel der Wahl bildete dabei das Plakat, das letztlich bis heute noch ein wichtiges präventives Medium des Arbeitsschutzes darstellt.
Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten endete auch die Mitbestimmung in der Sozialversicherung. Die Selbstverwaltung fiel dem Führerprinzip zum Opfer und jüdische Mitglieder und politisch Verfolgte wurden ausgeschlossen. Die Rolle und Funktion der Unfallversicherung im Nationalsozialismus stellt noch weitgehend eine Forschungslücke dar, etwa auch bezüglich Fragen zum Umgang mit Zwangsarbeit.
Nach 1945 erfolgte die Wiederherstellung der Selbstverwaltung mit einer nun paritätischen Besetzung aller Selbstverwaltungsorgane in der Sozialversicherung, das heißt die Organe werden je zur Hälfte von Versicherten und Arbeitgebern besetzt.
Auch die Wahlen der Versichertenvertreter:innen wurde neu geordnet und 1953 fanden die ersten Wahlen zu den Organen der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung statt. Diese neuen Sozialversicherungswahlen stellten eine wichtige demokratische Grundlage der Bundesrepublik dar.
Die Sozialwahlen ermöglichen bis heute eine demokratische Beteiligung aller Versicherten. Sie bilden außerdem ein wichtiges gewerkschaftliches Betätigungsfeld, wie etwa die Werbung des DGB für die Beteiligung an den Wahlen von 1986 zeigt. Diese sollte auch verdeutlichten, dass auch Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft wahlberechtigt sind. [Bild Sozialwahlen]
In der Bundesrepublik erfolgte zudem ein stetiger Ausbau und Reformprozess der Sozialversicherung. Dies brachte für die Unfallversicherung langfristig vor allem eine Stärkung von Prävention und Rehabilitation. Die Ausweitung des Arbeits- und Unfallschutzes stand auch weit oben auf dem umfangreichen Reformkatalog der sozial-liberalen Koalition ab 1969. Ebenso engagierten sich die Gewerkschaften verstärkt werbend für den Unfallschutz. Die Beteiligung an den Sozialwahlen und das Engagement für den Unfallschutz sind heute noch wichtige gesellschaftliche Aufgabenfelder der Gewerkschaften.
In der langfristigen Entwicklung haben stetige Reformprozesse und die Beteiligung der Versicherten sowie die paritätische Zusammenarbeit der Sozialpartner zu einem fast geräuschlosen Funktionieren der Unfallversicherung geführt. Dieses Zusammenspiel drückt sich auch dadurch aus, dass wir in öffentlichen Debatten kaum etwas zur Arbeitsunfallthematik oder Reformbedarf in diesem Zweig der Sozialversicherung vernehmen.
Während vor 140 Jahren die Arbeitsunfallproblematik eine große Herausforderung darstellte, ist die soziale Sprengkraft heute weitgehend verloren gegangen. Auch wenn seit den 1970er Jahren die Unfallzahlen stetig gesunken sind, bleibt aber die Frage offen, ob sich gefährliche Arbeitsplätze nicht einfach ins Ausland verlagert haben. Leider ist diesbezüglich das deutsche Modell der Unfallversicherung für viele Niedriglohnländer kein Exportmodell geworden.
Sebastian Knoll-Jung
Quellen und Literatur:
Bernard Braun et al.: Geschichte und Modernisierung der Sozialversicherungswahlen. Online zugänglich unter: https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/32207, abgerufen am 29.01.2024.
Sebastian Knoll-Jung: Vom Maschinenschutz zur Unfallverhütungspropaganda – Paradigmenwechsel präventiver Praktiken in der Unfallversicherung zur Zeit der Weimarer Republik, in: Hähner-Rombach, Sylvelyn (Hrsg.): Geschichte der Prävention. Akteure, Praktiken, Instrumente, Stuttgart 2015. S. 17–40.
Sebastian Knoll-Jung: Vom Schlachtfeld der Arbeit, Aspekte von Männlichkeit in Prävention. Ursachen und Folgenbewältigung von Arbeitsunfällen in Kaiserreich und Weimarer Republik, Stuttgart 2021.
Hermann Mattutat: Rentendrückerei und Unfallrechtsprechung, in: Die Neue Zeit, 31 (1912/1913), Nr. 21, S. 932–940.
Reichsministerium des Innern (Hrsg.): Reichsgesetzblatt 1884, Nr. 19, Berlin 1884, https://www.reichsgesetzblatt.de/D/RGBl-D/1884/index.htm, abgerufen am 5.7.2024.
Manfred G. Schmidt: Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 1998.
Klaus Tenfelde: Arbeitersekretäre Karrieren in der deutschen Arbeiterbewegung vor 1914, Heidelberg 1993.
Florian Tennstedt: Vom Proleten zum Industriearbeiter. Arbeiterbewegung und Sozialpolitik in Deutschland 1800 bis 1914, Köln 1983.
Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik, https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/, abgerufen am 5.7.2024.
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