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Der Berliner Bierboykott von 1894 war ein Arbeitskampf, der in seiner Bedeutung weit über das lokale Brauereigewerbe hinausging und die Öffentlichkeit über die acht Monate seiner Dauer in Atem hielt. Die letztendlich gütliche Einigung in dem hochgradig polarisierenden Konflikt markiert in der Geschichte von Arbeitskämpfen den Beginn einer Entwicklung, die Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf Augenhöhe ermöglichte.
Ausgangspunkt des Bierboykotts war ein lokaler Konflikt zwischen Brauereigesell:innen sowie Fassbinder:innen und ihrer Brauerei im Berliner Vorort Rixdorf, dem heutigen Neukölln, im April 1894. Die Arbeiter:innen hatten von der Rixdorfer Vereinsbrauerei einen freien Tag gefordert, um an den Feierlichkeiten zum 1. Mai teilnehmen zu können. Das war unter Hinweis auf arbeitsorganisatorische Zwänge im Brauprozess abgelehnt worden. Etwa 300 Fassbinder:innen waren dennoch der Arbeit ferngeblieben und wurden am nächsten Morgen ausgesperrt. Daraufhin riefen die Fassbinder:innen zu Streik und Boykott der Vereinsbrauerei auf, was den als „Ring“ bezeichneten Verein der Brauereien Berlins auf den Plan rief. Dieser drohte damit, bei fortgesetztem Boykott auch in anderen Berliner Brauereien Entlassungen vorzunehmen und setzte diese Drohung unverzüglich um, als die Fassbinder:innen nicht nachgaben.
Gewerkschaftskartell und SPD hatten sich in dieser Phase zunächst abwartend verhalten bzw. die Streikenden ob ihrer im Sinne einer weiter gefassten Taktik nicht abgestimmten Aktion sogar kritisiert. Allerdings hatten sich die Streikenden im Vorfeld durchaus von der Partei beraten lassen und fühlen sich daher zunächst im Stich gelassen. Am 17. Mai machte die SPD den Boykott dann offiziell zu ihrer Sache. Der Vorwärts rief auf seiner Titelseite zum Boykott von sieben großen Berliner Brauereien auf. Der Artikel begann unter der Überschrift „Arbeiter! Parteigenossen!“ mit den Worten:
„Trotzdem in keiner Weise der Rixdorfer Bierboykott zur Sache der Berliner Arbeiter gemacht wurde, hat gestern der von den Herren Happoldt und Roesicke geleitete Bierring in unerhörter Weise die Arbeiter Berlins und der Umgebung provoziert.“
Dem Brauereiverband, so der „Vorwärts“ weiter, ginge es nicht um den Rixdorfer Bierboykott, sondern um eine „von langer Hand“ geplante Zerstörung der Organisation der Berliner Brauereiarbeiter:innen.
Das Brauereigewerbe war in den 1890er Jahren einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Berlins. Bier wurde nicht nur abends in der Kneipe getrunken, sondern war Grundnahrungsmittel, was auch hygienische Gründe hatte. Die mangelnde Wasserqualität führte regelmäßig zu Ruhr- und Choleraepidemien, so dass Bier durch die keimabtötende Wirkung seines Alkoholgehalts nicht ganz zu Unrecht als das gesündere Getränk galt und teils auch Kindern verabreicht wurde. Der Boykott betraf also die gesamte Gesellschaft. Er war zunächst erfolgreich, auch weil Schankwirt:innen, die ihn mehr oder weniger freiwillig unterstützten, auf nicht boykottierte Brauereien ausweichen konnten. Die Forderungen der SPD nach Wiedereinstellung aller entlassenen Arbeiter:innen, Lohnentschädigung, Mitbestimmung der Gewerkschaften bei Entlassungen und einem arbeitsfreien 1. Mai fanden breite Unterstützung in der Bevölkerung.
Dennoch führte der Boykott auch zu gesellschaftlichen Verwerfungen. Er sollte kontrolliert werden, also patrouillierten entlassene Arbeiter:innen, die im Volksmund bald als „Bierschnüffler“ bezeichnet wurden, durch die Berliner Gastwirtschaften, um Boykottbrüche aufzudecken. Schankwirt:innen, die sich zu Unrecht beschuldigt fühlten, schalteten verzweifelte Anzeigen in der Presse. Auch ging der Brauereiverband auf keine der Forderungen ein und argumentierte in der liberalen und konservativen Presse intensiv gegen den Boykott. Er initiierte außerdem eine Art Gegenboykott: Gastwirtschaften wurden erfolgreich dazu angehalten, ihre Räumlichkeiten nicht mehr für sozialdemokratische Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen. Wer dabei nicht mitmachte, bekam kein Bier mehr geliefert.
Eine weitere Eskalationsstufe zündete, als nach gescheiterten Vorverhandlungen der Boykott auf alle im „Ring“ organisierten Brauereien ausgeweitet wurde. Das führte zunächst zu einem Abbruch der Kommunikation durch den Brauereiverband, machte es im weiteren Verlauf jedoch für alle beteiligten Organisationen immer schwieriger, ihre Positionen aufrecht zu erhalten.
Die Unterstützungskassen der Gewerkschaften leerten sich, die teils börsennotierten Brauereien bekamen die Boykottfolgen durch empfindliche Umsatzeinbußen zu spüren. Das zwischen den Konfliktparteien stehende Gaststättengewerbe geriet immer weiter in Not, organisierte sich seinerseits und versuchte erfolgreich, Einfluss auf die Boykottkommission der SPD und den Brauereiverband zu nehmen. Man verhandelte wieder. Das gestaltete sich als schwierig und langwierig. Letzter Streitpunkt war die Weigerung des Brauereiverbands, 33 Arbeiter:innen wiedereinzustellen, die sich aus Sicht des Verbands im Arbeitskampf besonders aggressiv verhalten hatten.
Letztendlich wurde der Bierboykott durch einvernehmliche Entscheidungen beider Seiten am 29. und am 31. Dezember 1894 beendet. Einen klaren Sieger der Auseinandersetzung gab es nicht. Zwar wurden die Arbeiter:innen wiedereingestellt, Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung, Lohnerhöhungen und einem freien 1. Mai wurden aber nicht erfüllt. Größter und nachhaltigster Erfolg des Berliner Bierboykotts war die Einrichtung eines durch SPD und Brauereiverband vermittelten „Arbeitsnachweises“. Diese paritätisch von Gewerkschaften und Brauereien besetzte und von einer unabhängigen Obperson geleitete Kommission zur Arbeitsvermittlung bedeutete wenige Jahre nach dem Auslaufen des „Sozialistengesetzes“ einen echten Wandel in der Streit- und Kommunikationskultur bei Arbeitskonflikten. Neun Jahre später konnte 1903 auf Basis dieser Institution der erste von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften verhandelte Tarifvertrag für das Berliner Braugewerbe abgeschlossen werden.
Die jüngste Publikation zum Thema ist die in diesem Jahr erschienene Monografie „Der Berliner Bierboykott von 1894“ von Detlef Brennecke. Die lebendig erzählende und reichhaltig bebilderte Arbeit, die eine ausführliche Chronik der Ereignisse enthält, geht teils sehr kritisch mit der Rolle der SPD, insbesondere mit der Berichterstattung im „Vorwärts“ ins Gericht. Die Arbeit, für die der Autor auch auf unsere Bibliothek und unser Archiv zurückgegriffen hat, möchten wir sehr zur Lektüre empfehlen, da sie in der Detailfülle der recherchierten Ereignisse und ihres kulturellen Hintergrunds einen differenzierten und unterhaltsamen Zugang zu den Arbeitskämpfen und der Arbeiter:innen- und Wirtschaftskultur im Berlin der 1890er Jahre ermöglicht.
Zentrale Artikel im „Vorwärts“ zur offiziellen Ankündigung und zum Ende des Berliner Bierboykotts finden sich in der „Historischen Presse der deutschen Sozialdemokratie online“ hier und hier.
Weitere Literatur zum Bierboykott im Bestand unserer Bibliothek ist hier zu finden.
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