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Heute vor 150 Jahren erstritten die Buchdrucker nach harter Gegenwehr der Arbeitgeber den ersten Flächentarifvertrag in der deutschen Geschichte.
Bild: Druckmaschine; Correspondent für Deutschlands Buchdrucker und Schriftgießer, Beilage am 31.01.1874; Quelle: AdsD
Bild: Richard Härtel; Bildrechte: Yannick Heller
Bild: Eduard Brockhaus; Bildrechte: Yannick Heller
Bild: Correspondent für Deutschlands Buchdrucker und Schriftgießer, 17.05.1873; Quelle: AdsD.
Das Tarifvertragswesen prägt die Arbeitsbeziehungen in Deutschland. Auf der einen Seite stehen die Gewerkschaften, die stets die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingun-gen aller Beschäftigten anstreben. Auf der anderen Seite befinden sich die Arbeitgeber und ihre Vereinigungen, die die Kosten möglichst niedrig halten respektive die Ertragsseite optimieren wollen. Dieses Austarieren der Interessen geschah anfangs auf betrieblicher oder lokaler Ebene zwischen Arbeitgebern und Streikkomitees. Vor 150 Jahren, im Jahr 1873, gelang es dem Buchdruckerverband als erster Gewerkschaft, nach langem Arbeitskampf von den Arbeitgebern als Tarifpartner anerkannt zu werden und einen ab 9. Mai gültigen Reichs-tarif abzuschließen.
Die Revolution von 1848 war noch jung, da formulierten die Delegierten der ersten deut-schen Buchdruckerversammlung in Mainz ihren „Aufruf an die Herren Buchdruckereibesitzer Deutschlands: „Vereinigen auch Sie sich mit Ihren Collegen, wie unsere sämtlichen Collegen in Deutschland sich geeinigt haben; gründen auch Sie einen Nationalverein.“ Die Buchdru-cker hatten Statuten für eine „Deutsche National-Buchdrucker-Vereinigung“ verabschiedet ebenso wie Forderungen nach einem nationalen Tarif, einem Reichstarif. Doch zu einem Tarifvertrag gehören mindestens zwei und damals gab es noch keinen nationalen Verband der Buchdruckereibesitzer. Die Buchdrucker wollten aber auch nicht bis zu dessen Gründung warten. Sie wandten sich mit einer Petition an die deutsche Nationalversammlung inFrankfurt mit der Bitte um „gesetzliche Genehmigung“ der tariflichen Vorschläge als „Reichstarif“. Man war zuversichtlich, den Druckern sollten keine Zweifel kommen: „…brechen kann Euch kein Sturm“. Doch mit dem Scheitern der Revolution scheiterten auch die Buchdrucker – nur, um es 25 Jahre später erneut zu versuchen.
Nach ersten regionalen Neuanfängen zu Beginn der 1860er-Jahre schlossen sich die Buchdrucker 1866 im Deutschen Buchdruckerverband zusammen. Weibliche Buchdrucker gab es damals noch nicht. Die Arbeitgeber machten es ihnen diesmal nach und gründeten 1869 den Deutschen Buchdrucker-Verein. Beide hatten ihren Sitz in Leipzig. Vorsitzender des Verbandes war seit 1867 Richard Härtel, den Vorsitz im Arbeitgeberverein hatte seit 1872 Eduard Brockhaus inne.
Nach der deutschen Reichsgründung 1871 waren die Preise angestiegen. Vom Buchdru-ckerverband waren in vielen Druckereistädten lokale Lohnbewegungen ausgegangen, auf die die Buchdruckereibesitzer im Sommer 1872 mit dem Vorschlag reagierten, „durch Delegirte der Gehilfen [Gesellen] und der Principale [Arbeitgeber] die Tarifangelegenheit gemeinschaftlich zu berathen“. Die Ergebnisse der Beratungen sollten abschließend dem Arbeitgeberverein zur Zustimmung vorgelegt werden. So sollten lokale Bewegungen künftig verhindert und mit dem Delegiertenprinzip der Buchdruckerverband als Tarifpartner ausgeschlossen werden. Dieser Vorstoß lief ins Leere. Die Prinzipale lamentierten daraufhin, „einzig und allein nur der Verband trägt die Schuld“, dass es keinen allgemeinen Reichstarif gäbe.
Der Buchdruckerverband wollte zwar einen Reichstarif, allerdings auf Grundlage seiner Vorstellungen und mit ihm als Tarifpartner. Dafür nahm er jetzt das Heft des Handelns in die Hand. Er lud als erstes vom 13. bis 17. Januar 1873 zu einer Delegierten-Tarifkonferenz nach Leipzig. 15 Kollegen aus 12 Städten kamen angereist, aus 24 Druckorten waren Forderungen eingegangen. Man einigte sich auf einen Vorschlag für einen allgemeinen Tarif mit Lohnerhöhungen, einem Mindestlohn, einem Zehnstundentag und Überstundenzuschlägen.
Am 22. Januar 1873 wurde dieser „Delegiertentarif“ den Leipziger Prinzipalen vorgelegt. Sie lehnten ihn erwartungsgemäß ab. Drei Tage später reichten 355 Setzer und 55 Maschinenmeister die Kündigung ein und verließen – ausgestattet mit Reisegeld vom Verband – die Stadt, um woanders Arbeit zu suchen. Als Antwort sperrten die lokalen Arbeitgeber rund 200 Gesellen aus – nur, weil sie Mitglied im Verband waren, und dass bedeutete damals, die Kündigung erhalten zu haben.
Dennoch gaben die Streikenden in Leipzig nicht nach, sie wollten weiter „thatkräftig für die gerechte Sache einstehen“. Der Verein der Arbeitgeber setzte daraufhin am 8. März 1873 eine „allgemeinen Aussperrung“ um: An diesem Tag erhielten an 66 Druckorten – von Augsburg bis Zwickau – 1.800 Beschäftigte wegen ihrer Mitgliedschaft im Verband die Kündigung. Für die Betroffenen ein herber Schlag, doch sie wurden durch Streikgelder finanziell aufgefangen, die als Spenden eingegangen waren oder aus Rücklagen des Verbandes stammten.
Im Verlauf des Streiks musste Richard Härtel Anfang April eine sechswöchige Haftstrafe antreten. Er hatte als verantwortlicher Redakteur am 8. Februar 1873 in der Gewerkschaftszeitung „Correspondent“ geschrieben: „Wir erwarten, dass kein ehrenhafter Kollege in Leipzig Kondition [Arbeit] annimmt.“ Der Rat der Stadt Leipzig verurteilte ihn daraufhin zu sechs Wochen Haft unter Bezug auf die Reichs-Gewerbeordnung „wegen Ehrverletzung und einer Art Verrufserklärung“ gegen arbeitswillige Kollegen.
Ein vermeintlicher Erfolg der Arbeitgeber – doch die Aussperrungsfront begann zu bröckeln. Bei einer außerordentlichen Generalversammlung in Weimar am 24. März sandten die Prinzipale nach einem konstruktiven Schriftwechsel zwischen Härtel und Brockhaus erste Sig-nale einer Annäherung aus. Man einigte sich in Folge auf die Einberufung einer paritätisch zusammengesetzten Tarifrunde von je 10 Vertretern mit wechselndem Vorsitz.
Die Tarifverhandlungen begannen am 1. Mai 1873. Richard Härtel war noch in Haft; dennoch erklärten die Vertreter des Verbandes, dass sie „mit allen Kräften an der Erreichung eines möglichst gedeihlichen Zustandes mitwirken“ wollten. Anfangs herrschte noch Misstrauen und es kam immer wieder zu gesonderten Beratungen. Doch schließlich erreichte die Verhandlungsrunde am 5. Mai einstimmig ein Ergebnis: Am 9. Mai gab das Verbandspräsidium dann bekannt, dass der „Delegiertentarif“ sofort in Kraft trete. Die Laufzeit betrug drei Jahre.
Wesentliche Verbesserungen für die Buchdrucker waren erreicht worden: Die Erhöhung der Akkordlöhne für Setzer, ein Mindestlohn von 19,5 Reichsmark/Woche, der Zehnstundentag, inkl. Pausen, Überstundenbezahlung (bis zu 100 Prozent an Sonntagen). Zudem wurde im Nachgang im Januar 1874 noch die Einrichtung eines Einigungsamtes und von Reichsschiedsämtern zur Klärung von Tarifstreitigkeiten vereinbart.
Damit war der Grundstein gelegt für die „erstmalige Tarifgemeinschaft“ von Arbeitgeberverband und Gewerkschaft in der Druckindustrie. Doch die wirtschaftliche Lage änderte sich rasch und dramatisch. Just an dem Tag des Inkrafttretens des Tarifs, am 9. Mai 1873, kam es zu einem massiven Kurssturz an der Wiener Börse und in Folge zu einer langanhaltenden wirtschaftlichen Rezession. In den Druckereien gingen die Aufträge zurück. Viele Prinzipale verweigerten den Tarif oder konnten ihn nicht umsetzen. Ernüchterung machte sich bei den Befürwortern der Tarifgemeinschaft breit. Ende 1873 war der Tarif erst in 96 von 342 Druckorten umgesetzt.
Dennoch bilanzierte der Verband in seiner Jubiläumsschrift 1916: „Nur sieben Jahre nach dem Bestehen der Organisation einen allgemeinen Tarif für das ganze Reich zu erlangen und das heftig umstrittene Mitbestimmungsrecht bei seinem Abschluß durchzusetzen, das war ein Erfolg.“ Man kann es genau so sehen, denn „berufene Vertreter der Arbeiterschaft“ wurden die Gewerkschaften allgemein erst im Zuge der revolutionären Unruhen nach dem Ersten Weltkrieg im November 1918 durch das sogenannte Stinnes-Legien-Abkommen.
Hartmut Simon Leiter des ver.di-Archivs
Von der Bibliothek des Archivs wird im Rahmen des Projektes „Gewerkschaftspresse in der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung“ (https://library.fes.de/gewerkschaftszeitschrift/) der „Correspondent für Deutschlands Buchdrucker und Schriftgießer“ im Volltext von 1863-1869 und von 1870-1933 angeboten.
Wir suchen Beitragsideen für den kommenden Band 66 (2026) der Zeitschrift Archiv für Sozialgeschichte. Die vorbereitende Tagung wird am 26./27. Juni…
10. Dezember, 18 Uhr c.t. | Universität Bonn und im Livestream
Auftaktveranstaltung zum 100-jährigen Jubiläum der FES | Donnerstag, 21. November 2024, 17.30 bis 19.45 Uhr | Friedrich-Ebert-Stiftung, Godesberger…