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„Kurz vor Abschluss der GEAS-Reform muss sich die Aufmerksamkeit nun auf Umsetzung und Alternativen richten“, sagt Catherine Woollard von ECRE.
Die letzten und noch ausstehenden Entscheidungen sind reine Formsache. Es ist vollbracht. Und wir haben verloren. Die Reformen sind das Ergebnis einer Reihe von Entscheidungen, die sich über acht Jahre zurückverfolgen lassen und die allesamt angefochten wurden - letztlich ohne Erfolg. Sämtliche Entscheidungen sind Ausdruck einer Strategie, die darauf abzielt, den Zugang zum Flüchtlingsschutz in Europa zu beschränken. Im Folgenden einige Inhalte:
Infolge der Reformen werden Grenzverfahren und beschleunigte Verfahren in größerem Umfang zugelassen und unter bestimmten Umständen zwingend vorgeschrieben. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Schutzbedarf von Menschen in diesen Verfahren anerkannt wird, ist geringer. Zudem wird das Grenzverfahren häufig in Gewahrsam durchgeführt, ebenso wie das neue „Pre-Entry“-Screening-Verfahren. Für beide gilt die Fiktion der Nichteinreise, auch wenn sie nicht direkt an der Grenze, sondern an einem anderen Ort im Hoheitsgebiet stattfinden, was zulässig ist. Für die Screening- und Grenzverfahren sind jeweils Überwachungsmechanismen vorgesehen. Ihr Umfang ist zwar begrenzt, doch bei entsprechender Ausgestaltung könnten sie dennoch nützlich sein.
Das Grenzverfahren ist das zentrale Element des Pakts. Wenn er in Kraft tritt, müssen sich jedes Jahr mindestens 30.000 Personen in einem Grenzverfahren befinden. Diese Mindestzahl spiegelt sich in dem Konzept der „angemessenen Kapazität“ wider. Die anfänglichen 30.000 Personen sollen auf die Mitgliedstaaten aufgeteilt werden, so dass sich beispielsweise für Italien etwa 7.000 und für Spanien etwa 3.500 Personen in Grenzverfahren ergeben.
Bei der Mindestzahl von 30.000 handelt es sich nicht um die Gesamtzahl pro Jahr, sondern um die Zahl der Personen, die sich zu jedem Zeitpunkt in einem Grenzverfahren befinden müssen. Wenn also Personen das Verfahren verlassen, z. B. nach einem positiven Bescheid oder nach einer Abschiebung, müssen weitere Personen in das Grenzverfahren aufgenommen werden, damit die Mindestzahl beibehalten wird.
Liegt die Mindestzahl für einen Mitgliedstaat bei 7000 Personen, so könnte sich die jährliche Gesamtzahl der im Grenzverfahren geprüften Personen dadurch auf 20.000 oder 30.000 aufsummieren, EU-weit somit bis zu einer Höchstzahl von 120.000. Die tatsächliche Gesamtzahl hängt von vielen unwägbaren Faktoren ab, z. B. davon, wie schnell die Fälle bearbeitet werden und wie schnell die Menschen in andere Länder überstellt werden. Sie wird auch davon abhängen, wie schnell Personen abgeschoben werden, da Fälle von Grenzrückführungen ebenfalls auf die “angemessene Kapazität“ angerechnet werden.
Mehr Menschen werden erst gar keinen Zugang zu einem Asylverfahren haben, da das Screening-Verfahren es den Staaten ermöglicht, den Zugang zum Hoheitsgebiet durch Ausstellung eines „Briefing-Formulars“ zu verweigern. Dieser Prozess stellt keine Entscheidung dar und kann daher nicht angefochten werden. Daneben werden Staaten in der Lage sein, Fälle unter erweiterten Umständen für unzulässig zu erklären und damit den Zugang zu einer Asylanhörung zu verweigern.
Diese Entwicklung ist vor dem Hintergrund zu beurteilen, dass die meisten Menschen, die in Europa Asyl beantragen, schutzbedürftig sind, auch wenn immer wieder behauptet wird, sie seien es nicht.
Die Vorschläge beschneiden das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, indem sie die Fristen für die Berufung verkürzen, Asyl- und Rückführungsentscheidungen zusammenfassen und die automatische aufschiebende Wirkung einer Berufung für viele Kategorien von Personen und Entscheidungen aufheben. Letzteres bedeutet, dass Menschen abgeschoben werden, bevor über ihren Rechtsbehelf entschieden worden ist. Dies ist besonders besorgniserregend, da mehr als ein Drittel der Einspruchsverfahren in der Regel mit der Zuerkennung eines Schutzstatus enden. Die Betroffenen können einen Antrag auf Aussetzung der Abschiebung stellen, bis die Entscheidung im Berufungsverfahren getroffen wurde. Allerdings ist die Frist hierfür sehr kurz und es muss ein gesonderter Rechtsweg beschritten werden.
Es gibt zahlreiche Maßnahmen, die darauf abzielen, die Weiterwanderung innerhalb der EU einzuschränken. Dazu gehören der Wegfall adäquater Aufnahmebedingungen für Antragsteller:innen, eine Verlängerung des Zeitraums, in dem Ersteinreiseländer für Antragsteller:innen zuständig sind, und der Entzug von Solidaritätsansprüchen für Länder, die sich einer Rücküberstellung von Antragsteller:innen verweigern. Für einige Mitgliedstaaten war und ist die Verhinderung von „Sekundärmigration“ Priorität.
Es gibt rechtliche Neuerungen, die es Staaten erlauben, Menschen in sogenannte sichere Drittstaaten und in vermeintlich sichere Teile unsicherer Länder zu schicken oder zumindest auf dieser Grundlage Schutz zu verweigern. Das Konzept der sicheren Drittstaaten - ein Konzept, das sich nicht aus dem internationalen Flüchtlingsrecht herleiten lässt - wird weiter aufgeweicht, wobei die Schwelle, ab der ein Land als sicher eingestuft wird, auf zweierlei Weise herabgesetzt wird. Erstens wird das Schutzniveau, das in dem betreffenden Land vorhanden sein muss, damit es als sicher eingestuft werden kann, erheblich reduziert, und zweitens wird die erforderliche Verbindung zwischen der Person, die dorthin geschickt werden soll, und dem betreffenden Land verwässert und kann von den einzelnen Mitgliedstaaten selbst definiert werden (obwohl das Kriterium der Verbindung bestehen bleibt).
Die oben genannten Punkte beziehen sich auf die regulären Asylvorschriften, deren Einzelheiten weitgehend in der Asylverfahrensverordnung (APR) und der Verordnung über die Verwaltung von Asyl und Migration (RAMM) geregelt sind. Darüber hinaus gibt es drei Sonderregelungen, die in Krisensituationen, bei „höherer Gewalt“ und bei „Instrumentalisierung“ Anwendung finden können. In jeder dieser Situationen können die Mitgliedstaaten aus einer Reihe von Ausnahmeregelungen wählen (d. h. sie können wählen, welche Bestimmungen des Gesetzes sie nicht mehr einhalten wollen). Die Definitionen der drei Situationen sind so weit gefasst, dass die meisten Mitgliedstaaten in der Lage sein werden, sich zu jedem Zeitpunkt auf mindestens eine der drei Situationen zu berufen.
Die Staaten wollen sich natürlich in Krisenzeiten (oder jederzeit) den EU-Asylverpflichtungen entziehen, aber nicht alle haben bedacht, welche Auswirkungen es bspw. für Sekundärmigration haben kann, wenn einige Staaten von den regulären Asylbestimmungen abweichen. Dennoch hat die Kommission diese Ideen weiterverfolgt, obwohl sie das EU-Recht als Ganzes erheblich untergraben und die Aufgabe der Kommission, die Einhaltung der Verträge zu überwachen und zu verteidigen, erheblich erschweren.
Die RAMM Verordnung wird die Staaten dazu verpflichten, Solidarität zu leisten und legt dafür die Methoden zur Berechnung von Solidaritätsverpflichtungen und -ansprüchen fest. Solidarität kann in verschiedenen Formen geleistet werden, z. B. durch Umsiedlung, materielle Unterstützung und Geld, wobei eine Mindestzahl von 30.000 Umsiedlungen pro Jahr festgelegt ist. Zwar sind alle Umsiedlungsmaßnahmen wichtig, doch wird dies den Bedürfnissen der Länder an den Grenzen nicht gerecht, zumal die RAMM Verordnung die alten Dublin-Regeln über die Zuständigkeit von Ersteinreisestaaten weiterführt und stärkt.
Mit der Einigung auf die Reformen ergeben sich veränderte Prioritäten. Die Debatte hat sich auf die Umsetzung verlagert. Ab dem Zeitpunkt der endgültigen Verabschiedung der Gesetze, die für April erwartet wird, haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, um die notwendigen Maßnahmen zur vollständigen Umsetzung der neuen Gesetze zu ergreifen. Die Kommission hat einen Umsetzungsplan erstellt. Einige Mitgliedstaaten haben ebenfalls Durchführungspläne für die EU als Ganzes vorgeschlagen, andere entwickeln nationale Maßnahmen. Gelder aus dem EU-Haushalt wurden für die Umsetzung des Paktes umgewidmet. Die konkrete Umsetzung der Reform erfolgt auf nationaler Ebene durch sekundäres Recht, politische Maßnahmen, operationelle Änderungen, Ressourcenzuteilung, Umstrukturierung der Asylsysteme und so weiter.
Bei der Umsetzung ergeben sich ganz erhebliche Herausforderungen. Erstens müssen alle Verpflichtungen des EU-Asylrechts erfüllt werden, einschließlich der Beseitigung langjähriger Implementierungslücken, die während des Reformprozesses vernachlässigt worden sind. Für einige Staaten und vielleicht auch für die Kommission wird die Umsetzung des Grenzverfahrens und der Ingewahrsamnahme Priorität haben. Stattdessen müssen Probleme wie beispielsweise entsetzliche Aufnahmebedingungen, die illegale Verweigerung des Zugangs zu Asylverfahren und zum Staatsgebiet, die Asyl-Lotterie, die mangelnde Einhaltung von Verfahrensgarantien usw. dringend angegangen werden.
Zweitens muss die Umsetzung der Reformen unter uneingeschränkter Beachtung des EU-Primärrechts, einschließlich der Charta der Grundrechte und des einschlägigen Völkerrechts, erfolgen. Die bestehende Rechtsprechung der europäischen und höchsten nationalen Gerichte muss respektiert werden. Neue rechtliche Herausforderungen werden Rechtsgutachten notwendig machen, um die Auslegung der Gesetze und deren Grenzen festzulegen. Dies gilt beispielsweise für die Begrenzung der Inhaftierung, die Aushöhlung des Rechts auf Berufung oder die Verwendung von Konzepten wie Instrumentalisierung oder sichere Drittstaaten (was bereits vom Gerichtshof der Europäischen Union geprüft wird).
Drittens wird sich die herausfordernde Umsetzung mit der Bewältigung der Auswirkungen der Reform überlagern, zu denen eine Zunahme von Inhaftierung, Armut und Abschiebung gehören. Eine weitere Folge wird die Ungewissheit für eine zunehmende Zahl von Menschen sein, die im Rahmen von RAMM (dem Äquivalent zu den Dublin-Transfers) in einen anderen Mitgliedstaat überstellt, in ihr Heimatland abgeschoben oder in ein vermeintlich sicheres Drittland geschickt werden sollten, bei denen eine solche Überstellung oder Abschiebung jedoch nicht durchgeführt werden kann. Während RAMM-Überstellungen höchstwahrscheinlich genauso blockiert werden wie es bisher bei der großen Mehrheit der Dublin-Überstellungen der Fall war, ist auch zu beachten, dass Europa keine Kontrolle über die Rückführungspolitik in Drittländer hat - diese hängt von der Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern ab.
Innerhalb Europas werden die Reformen zu einem erheblichen Verwaltungsaufwand führen, insbesondere für die Länder an den Außengrenzen, deren Verantwortlichkeiten bei geringem Ausgleich zunehmen. Angesichts dieser Situation und unter Berufung auf die Sonderregelungen ist es wahrscheinlich, dass diese Staaten push-backs an den Außengrenzen verstärken werden. Daher bleibt das Handeln an den Grenzen unerlässlich.
Wie sich dies alles entwickeln wird, hängt von den anstehenden politischen Veränderungen auf EU- und nationaler Ebene ab. Im Juni wird ein neues Europäisches Parlament gewählt. An der Spitze der Kommission wird es Veränderungen geben, die sich auf ihre Arbeit zur Einhaltung der EU Rechtsvorschriften auswirken werden. Gleichzeitig wird sich eine Reihe von ungünstigen Ratspräsidentschaften mit der Implementierung des Paktes überschneiden, wobei Ungarn, Polen und Dänemark als nächste an der Reihe sind.
Trotz aller Beschönigungen ist der Pakt nicht „die Lösung“. Die Reformen werden eines der impliziten Ziele, nämlich die Begrenzung des Zustroms von Flüchtlingen nach Europa, nicht erreichen. Es gibt zu viele Zwangsvertreibungen, weltweit und in und um Europa. Andere Staaten, darunter viele, die viel ärmer sind als Europa, leisten bereits mehr als ihren Anteil. Die Menschen werden also weiterhin kommen. Das bedeutet, dass eine möglichst verträgliche Implementierung nach wie vor wichtig ist, ebenso wie eine Fokussierung auf die Einhaltung geltender Gesetze, Integrationsförderung, die Ausweitung sicherer Zugangswege und eine Außenpolitik, die Fluchtursachen angeht (oder zumindest nicht verursacht).
Dieser Artikel erschien zuerst am 16. Februar 2024 in einer längeren englischen Fassung auf der Website des European Council on Refugees and Exiles.
Catherine Woollard ist seit 2016 Direktorin des European Council on Refugees and Exiles (ECRE). ECRE ist ein paneuropäisches Bündnis von 122 Nichtregierungsorganisationen aus 40 europäischen Ländern, das sich für den Schutz und die Förderung der Rechte von Flüchtlingen, Asylsuchenden und anderen Vertriebenen in Europa und in der europäischen Außenpolitik einsetzt. Die Arbeit von ECRE umfasst rechtliche Unterstützung, Rechtsstreitigkeiten, Lobbyarbeit und Kommunikation.
Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautorin spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.
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