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Ein Interview über die Situation von Migrant_innen und Geflüchtete vor Ort.
Noch nie wurden in der Geschichte so viele Menschen von dem Ort, den sie ihre Heimat nennen, vertrieben. Heutzutage befinden sich weltweit schätzungsweise 71 Millionen Menschen auf der Flucht vor Konflikten, Verfolgung und Mehrfachkrisen. Davon leben etwa 30 Millionen als Geflüchtete.
Mit etwa 70.000 Menschen ist Ecuador das Land in Lateinamerika, das die größte Anzahl an Geflüchteten als solche anerkannt hat. 95% dieser Menschen sind vor dem aktiven und anhaltenden bewaffneten Konflikt in Kolumbien geflohen. Darüber hinaus haben sich schätzungsweise 400.000 Venezolaner_innen aufgrund der Krise im eigenen Land in Ecuador niedergelassen.
In der ecuadorianischen Verfassung steht, dass es ein Recht auf eine „universelle Staatsbürger-schaft“ gibt und dass sich das Land grundsätzlich nicht vor Migrant_innen verschließt. Die Realität ist jedoch weit davon entfernt und viele dieser Menschen werden neben Gewalt, Gleichgültigkeit, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auch mit einer wachsenden Unsicherheit aufgrund der COVID-19-Krise konfrontiert.
Über diese widersprüchliche Situation haben wir mit Cristina Burneo, Isabel González und Josep Vecino vom Kollektiv Corredores Migratorios gesprochen. Sie begleiteten Menschen auf den schwierigen Fluchtrouten und bei der Suche nach Zuflucht in Ecuador. Die Ergebnisse ihrer Recherchen sind über die vom lokalen Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung unterstützten Portale „Migrar, ¿la vida dónde?" [1] und „Memoria caminante de Venezuela - Archivos del retorno" [2] multimedial zugänglich.
FES: Sie kennen den schwierigen Weg von Migrant_innen in Ecuador. Ecuador ist ein von Migration geprägtes Land, dessen Bevölkerung im Ausland etwa eineinhalb Millionen Menschen zählt. Das Land hat sogar eine universelle Staatsbürgerschaft. Wie steht es um dieses Recht?
Cristina Burneo (CB): Erstens glaube ich, dass die „universelle Staatsbürgerschaft“ nie existiert hat. Es handelt sich um ein formales Recht, für das es bis heute keine klaren Richtlinien in Bezug auf Budgets, Integration u.a. gibt. In diesem Sinne erkennt die Politik die Kämpfe, Forderungen und Realitäten von Migrant_innen nicht vollständig an. Wir leben in einer Zeit massiver, er-zwungener und globaler Vertreibung aus verschiedensten Gründen, welche viele Migrant_innen in Situationen bringen, in denen sie verletzlich sind. Dies geschieht nicht nur in Ecuador.
Was sind die Hauptgründe für Migrant_innen nach Ecuador zu kommen, bzw. auch das Land zu verlassen?
CB:Die Gründe, warum seit 1998 Millionen von Menschen aus Ecuador abgewandert sind, sind hauptsächlich wirtschaftlicher Natur, da sie im Land keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr gesehen haben. Das ist paradox, da Menschen, die sich für eine Einwanderung nach Ecuador entscheiden, dies deshalb tun, da sie in der dollarisierten Wirtschaft des Landes Stabilität sehen und, weil Ecuador als Land mit einer niedrigen sozialen Gewalt im Vergleich zu seinen Nachbarn im Norden gilt. Dies ist jedoch nicht der Fall, da sich transnationale Gewalt auf verschiedene Weisen ausdrückt und auch Ecuador hiervon nicht ausgenommen ist. Die meisten Migrationsbewegungen nach und aus Ecuador heraus haben mit einer Art Hilflosigkeit der Staaten zu tun. Dies führt dazu, dass unterschiedlichste Formen von Gewalt, so zum Beispiel rassistische, sexuelle oder wirtschaftliche, zugelassen werden.
Was erzählen die Geflüchteten über ihre Heimat?
Isabel González (IG):Unsere Forschungsergebnisse zeigen, wie die Flucht aus einem Land - mitten in einem Konflikt und ohne Lösung in Sicht - Erwartungen weckt, die sich wiederum nicht erfüllen. Die Menschen fliehen vor Gewalt, die sie leider auch am Zielort wiederfinden: physische Gewalt, Rassismus, Klassismus, wirtschaftliche Gewalt, mangelnder Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen und Bildung. Die Erfahrungen der Familien, mit denen wir gearbeitet haben, berichten über eine Vernachlässigung genau dieser Bereiche - sowohl durch den kolumbianischen als auch durch den ecuadorianischen Staat. Einige Menschen sind seit fast zwei Jahrzehnten in Ecuador. In dieser Zeit waren die verschiedenen Regierungen nicht in der Lage eine Politik zu formulieren, die die Probleme der Geflüchteten angemessen angeht.
Wie gehen Frauen mit der Situation um? Wie ist ihr Leben als Geflüchtete in Ecuador?
CB: Frauen tragen die die Hauptlast. Sie müssen Gewalt er- und überleben. Die meisten reisen mit Kindern und stellen die wirtschaftliche und emotionale Stütze der Migrant_innenhaushalte dar. Sie sind sexueller oder körperlicher Gewalt ausgesetzt und müssen unwürdige Bedingungen ertragen, um eine Arbeit oder Wohnung zu erhalten. So erleben die Frauen eine Endlosschleife extremer Gewalt, welche in ihrem Heimatort begann und sich bis hin zum Zielort fortsetzt. Dort besteht die Gewalt nicht nur fort, sondern wird zusätzlich verstärkt. Viele haben Schwierigkeiten nachzuvollziehen, dass diejenigen, die im Land Zuflucht suchen, dies aus einer Notsituation heraus tun. Sie werden ausgegrenzt und erleben Fremdenfeindlichkeit, ohne dass die zuständigen Behörden in der Lage wären, Lösungen oder Maßnahmen für den Schutz der Menschen zu entwickeln.
Wie ist die ecuadorianische Politik die Situation von Geflüchteten und Wanderungsbewegungen im Allgemeinen angegangen?
CB:Maßnahmen gibt es so nicht oder falls doch, führen sie zu einer erneuten Viktimisierung. So erhalten Schutzsuchende zwar durch ihren Ausweis formale Rechte, aber sobald sie sich an eine staatliche Instanz wenden, tritt die Bürokratie des täglichen Lebens an erste Stelle, wodurch ein Schutzstatus nicht mehr viel Wert ist. Wir sehen diese bloße Formalität der Rechte immer wieder. Es wird eine Staatspolitik formuliert, welche rein rhetorischer Natur ist. Auf diese Weise bleiben Menschen nicht nur ungeschützt, sondern werden aktiv vernachlässigt und ausgeschlossen. So können beispielsweise kolumbianische Frauen, die sexuelle Gewalt erlitten haben, keine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstatten.
IG:Außerdem ist es üblich, dass man dem Wort der Geflüchteten keinen Glauben schenkt und man ihre Erinnerung, ihr Wissen und ihre Erfahrungen in Frage stellt. Auch dies wollten wir während der gesamten Untersuchung beleuchten, denn die Frauen erleiden nicht nur körperliche Gewalt, sondern auch ihre psychische Gesundheit wird dabei ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen.
Welche Empfehlungen haben sie an die ecuadorianische Politik?
Josep Vecino (JV): Zunächst einmal ist es wichtig, dass Migrationspolitik aufhört, das Leben der Menschen bürokratisch zu ordnen und sie ihrer Rechte zu berauben. Unsere Arbeitserfahrung zeigt, dass es eine große Herausforderung für den Staat und auch für die sozialen Organisationen ist, die Situation der Schutzsuchenden, die vor einem aktiven Konflikt fliehen, zu verstehen. Ein Großteil der Bevölkerung sieht diese Menschen nicht als Opfer des Konflikts, sondern als Täter, was zu einer Stigmatisierung führt. In diesem Sinne ist es wichtig, dass die Menschen auf der Grundlage dessen, was sie erlebt und durchgestanden haben, Verständnis und Unterstützung erfahren und die Deckung ihrer Grundbedürfnisse gesichert wird. Antworten müssen aber noch über die Beendigung dieser Stigmatisierung hinausgehen, denn die Menschen befinden sich in prekären Situationen oder leben auf der Straße. Der Staat erkennt keine Unterschiede von verschiedenen Fällen von Flucht an, sodass alle Geflüchteten am Ende „ein und dasselbe“ sind. Die Politik muss aufhören, diese Menschen als Zahlen, Formulare oder Akten zu sehen, vor allem, wenn wir über eine „universelle Staatsbürgerschaft“ sprechen. Ziel einer solchen Politik sollte es sein, das Leben der Geflüchteten weniger bürokratisch zu gestalten. Zum Abschluss sollte auch berücksichtigt werden, dass Politik auf Frauen und Mädchen anders wirkt als auf Männer und von ihnen anders erlebt und wahrgenommen wird. Diese Problematik bedarf dringend einer Antwort des Staates.
[1] „Auswandern – wo bleibt das Leben?”
[2] „Wanderndes Gedächtnis von Venezuela - Archiv der Rückkehr“
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