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Geschichte der Entspannungspolitik | TEIL 1

Die Diskussionen über den russischen Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 sind mit Geschichte aufgeladen. Dialog und wirtschaftliche Kooperation mit Russland seien die Fortsetzung der historischen Entspannungspolitik Egon Bahrs und Willy Brandts. In drei Blogbeiträgen gehen wir auf die Neue Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr ein und arbeiten die Unterschiede zur Gegenwart heraus.

Die historische Dimension der Debatte

Die Diskussionen über den russischen Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 sind mit Geschichte aufgeladen. Wladimir Putin rechtfertigt den Krieg mit Geschichte, aber auch in Deutschland spielt Geschichte eine große Rolle, wenn es um die Ursachen des Krieges geht: Wurde die autoritäre Entwicklung in Russland zu lange nicht wahrgenommen? Waren Dialog und wirtschaftliche Kooperation die falschen Mittel gegenüber Russland? Insbesondere an die Sozialdemokratie richtet sich die Kritik, Dialog und wirtschaftliche Kooperation mit Russland seien die Fortsetzung der historischen Entspannungspolitik Egon Bahrs und Willy Brandts: Menschenrechtsfragen hätten zugunsten des Friedens hintenangestanden; Dialog und wirtschaftliche Kooperation hätten den Diktator stabilisiert. Nicht nur die Kritiker_innen der (sozialdemokratischen) Russlandpolitik seit den 1990er-Jahren stellen dabei eine Kontinuität zur historischen Entspannungspolitik her. Auch viele derjenigen, die aktuell Verhandlungen fordern und die Fokussierung auf Waffenlieferungen kritisieren, beziehen sich positiv auf Willy Brandt und Egon Bahr.

In drei Blogbeiträgen gehen wir aus diesem Grund auf die Neue Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr ein und arbeiten die Unterschiede zur Gegenwart heraus. Mit dem dritten Blogbeitrag geht unsere Webseite „Geschichte der Entspannungspolitik“ online, auf der wir zukünftig mit digitalen Quellen, Zeitleisten und Bildergalerien sowie durch Interviews mit und Beiträgen von Expert_innen und Politiker_innen die aktuelle Diskussion begleiten.

Zwei Thesen vorweg

Die folgende (sehr kurze) Geschichte der sozialdemokratischen Entspannungspolitik will die Unterschiede zur Russlandpolitik nach 1991 aufzeigen. Sie wird von zwei Thesen geleitet.

  1. Die sozialdemokratische Entspannungspolitik/Ostpolitik vor 1989 war eingebettet in ein Gefüge atomarer Bedrohung und globaler Entspannung. Eine Bedingung der Brandt‘schen und Bahr’schen Politik war das parallel immer vorhandene Potenzial globaler Vernichtung bei gleichzeitigem Wunsch der Supermächte, ihre Rüstungsausgaben in den Griff zu bekommen und einen direkten Krieg gegeneinander zu verhindern. Entspannung und atomare Drohung waren zwei Seiten derselben Medaille.
  2. Im Zentrum der sozialdemokratischen Entspannungspolitik stand Deutschland: Es ging um Erleichterungen für die Menschen im anderen Teil Deutschlands und in einer langen Perspektive um einen alternativen Weg zur deutschen Einheit. Ohne Zweifel stand die Sozialdemokratie immer für eine europäische Friedensordnung. Die Neue Ostpolitik der Regierung Brandt zielte jedoch auf die DDR und Berlin.

Die Strategie des Friedens

Egon Bahr und Willy Brandt knüpften an die von US-Präsident John F. Kennedy entwickelte „Strategie des Friedens“ an. Im Sommer 1963 formulierte Kennedy das Ziel von Abrüstungsverhandlungen mit der UdSSR und sprach von einer friedlichen Koexistenz der Systeme. In seiner Rede an der American University am 10. Juni 1963 äußerte er, dass die USA und die UdSSR (sowie ihre Verbündeten) sich nicht lieben müssten, sondern es sei „lediglich erforderlich, durch gegenseitige Toleranz zusammenzuleben und Streitpunkte auf gerechte und friedliche Weise beizulegen“. Beide Parteien hätten „ein tiefes, auf Gegenseitigkeit beruhendes Interesse daran, dass ein gerechter und ehrlicher Frieden herrscht und dem Wettrüsten Einhalt geboten wird“.

Die Ausgangslage war, dass beide Seiten über ein Maß an Gefechtsköpfen verfügten, die bei einem Krieg die vollständige eigene Vernichtung oder zumindest immense Verluste bedeutet hätte. „Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter“ war die allgemeine Erkenntnis. Die atomare Hochrüstung war ursprünglich gedacht, die wirtschaftlichen Belastungen durch riesige konventionelle Armeen zu reduzieren. Aber auch die atomare Rüstung war nun zur Belastung geworden. Insbesondere die UdSSR warb seit den 1950er-Jahren für eine Art gesamteuropäischer Sicherheitsarchitektur. Die Neuorientierung der USA 1963 folgte auf zwei Krisen, welche die Kriegsgefahr immens gesteigert hatten: Der Mauerbau in Berlin 1961 und insbesondere die Kubakrise 1962.

Die „Strategie des Friedens“ führte schließlich Ende 1969 zu den „Strategic Arms Limitation Talks“ (SALT I), die im Mai 1972 mit dem ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) abgeschlossen wurden. Beide Seiten verzichteten im SALT-1-Abkommen auf den Bau neuer Interkontinentalraketen und neuer U-Boot-gestützter Atomwaffen.

Eines muss betont werden: Die Strategie des Friedens bezog sich auf das Verhältnis der beiden Supermächte und ihrer unmittelbaren Verbündeten und vermied die direkte konventionelle oder atomare Konfrontation. Sie verhinderte aber nicht die mit großer Intensität geführten Stellvertreterkriege an der „Peripherie“ wie beispielsweise in Vietnam (durch die USA) oder Afghanistan (durch die UdSSR).

Wandel durch Annäherung

Rund vier Wochen nach der Rede Kennedys stellte Egon Bahr am 15. Juli 1963 das Konzept „Wandel durch Annäherung“ auf einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie Tutzing vor.  Er nahm ausdrücklich Bezug auf Kennedy, stellte aber die Teilung Deutschlands ins Zentrum seiner Überlegungen. Bahr kritisierte, dass bislang freie Wahlen im Osten als Voraussetzung für Gespräche gefordert wurden, also eine Demokratisierung dort stattgefunden haben müsse. Dies charakterisierte Bahr als eine Politik des „Alles oder Nichts“. Diese aus heutiger Sicht eigenartige politische Position war in den 1950er-Jahren weit verbreitet. Dahinter stand die Überlegung, dass ein wiedervereintes Deutschland politisch-militärisch neutral sein könne wie beispielsweise Österreich. Die Sowjetunion hatte in den 1950er-Jahren mehrfach Initiativen in diese Richtung auf den Weg gebracht – was das SED-Regime (aus Angst) und die Adenauer-Regierung (da sie Einbindung in die EG und NATO favorisierten) gleichermaßen ablehnten.

Die Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR und des Aufstands in Ungarn 1956 durch sowjetische Truppen hatten Bahr und Brandt nun gezeigt, dass ein Sturz des SED-Regimes aus dem inneren nicht möglich sei. Der Mauerbau von 1961 hatte die deutsche Teilung schließlich noch weiter zementiert und das Leben in der geteilten Stadt weiter erschwert. Wenn man den Status quo, also die deutsche Teilung, ändern wolle, so die Überlegung Egon Bahrs, müsse man ihn zunächst als Grundlage der eigenen Politik anerkennen.

Die Erfahrung zeigte, so Bahr, dass jeder Druck von innen und außen das stalinistische System der DDR stabilisiere. Stattdessen ging es ihm um „den schmalen Weg der Erleichterung für die Menschen in so homöopathischen Dosen, daß sich hierdurch nicht die Gefahr eines revolutionären Umschlags ergibt, die das sowjetische Eingreifen aus sowjetischen Interesse zwangsläufig auslösen würde“. Die kommunistische Herrschaft sollte nun nicht mehr mit einem Ruck beseitigt, sondern verändert werden. Ein Nahziel sah Bahr unter anderem in der „Auflockerung der Grenzen“.

„Wandel durch Annäherung“ bedeutete also, dass der „Westen“ glaubhaft auf die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der kommunistischen Staaten verzichtete (auf einen militärischen Konflikt sowieso). Die Annäherungspolitik richtete sich an die kommunistischen Eliten: Ihnen sollte hierdurch Raum für vorsichtige innergesellschaftliche Reformen eröffnet werden. Das Ziel dieser Politik der „Annäherung“ war also der „Wandel“ im kommunistischen Machtbereich – mit dem Ziel, den Menschen ihr Leben zu erleichtern. „Wandel durch Annäherung“ bedeutete aber auch das eindeutige Bekenntnis zur europäischen Integration und auch zur NATO-Mitgliedschaft. Weder der Osten noch der Westen sollten Zweifel haben, auf welcher Seite die Bundesrepublik stand. Vor diesem Hintergrund waren die Überlegungen Brandts und Bahrs 1963 nicht nur in der politischen Landschaft der Bundesrepublik ein Novum, sondern es musste auch innerparteilich noch Überzeugungsarbeit geleistet werden.

Stefan Müller


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