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Fokus NorD: Dänische Integrationspolitik in sozial benachteiligten Stadtgebieten. Ein Beitrag von Susi Meret.
Bild: Skanderborgvej jernbanebro ved Chr. X's Vej, udsigt mod nord og Gellerup von Lav Ulv / Flickr lizenziert unter CC BY 2.0
Am 1. Dezember 2019 veröffentlichte das Ministerium für Verkehr und Wohnungswesen die neueste Strategie zur Bekämpfung der sogenannten „Ghettos“ in Dänemark. Die Strategie weist offiziell 28 Stadtteile mit öffentlichen Wohnprojekten als „Ghettos“ aus. 15 dieser städtischen Gebiete erhalten die nachteilige Einstufung „harte Ghettos“. Dies ist das Resultat einer langen Geschichte der Stigmatisierung von Einwohner_innen sozial benachteiligter Gebiete.
In den letzten Jahrzehnten ist der Begriff „Ghetto“ in der öffentlichen Debatte immer häufiger geworden. Er ist weit verbreitet in politischen Debatten, auf Konferenzen und in den Mainstream-Medien. Er tauchte zunächst in den 1990er Jahren auf, als der sozialdemokratische Premierminister Poul Nyrup Rasmussen vor den "großen Problemen mancher Stadtteile, in denen viele arbeitslose Migrant_innen unter Bedingungen leben, die wie ein Ghetto aussehen, warnte" (1994). Der Begriff „Ghettopolitik“ kam in den 2000er Jahren auf die politische Tagesordnung und ist seitdem auf dieser geblieben. Das Label „Ghetto“ wurde und wird dabei häufig verwendet, um eine städtische Siedlung mit überwiegend nicht-westlichen Migrant_innen und mit überdurchschnittlich hohen Arbeitslosen- und Kriminalitätsraten zu kennzeichnen.
2004 genehmigte die erste liberalkonservative Regierung unter der Führung von Premierminister Anders Fogh Rasmussen ein Programm zur Bekämpfung der „Ghettoisierung“. Es umriss Kriterien und präsentierte eine präventionsbasierte Strategie zur Bewältigung des „weit verbreiteten Problems der Ghettoisierung“. Insbesondere äußerte die Regierung "ernsthafte Besorgnis über die Hindernisse, die die Ghettoisierung für die Integration mit sich bringen würde, insbesondere wenn die Mehrheit der Bevölkerung aus arbeitslosen Einwanderern und ihren Nachkommen besteht". Diese Gebiete könnten sich, so wurde gewarnt, zu "ethnischen Enklaven" mit "wenig oder keinem wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kontakt zur übrigen Gesellschaft" entwickeln. Es wurde eine direkte Kausalität zwischen ethnischem Hintergrund und Segregation festgestellt. „Das Ghetto“ wurde zur bevorzugten Metapher für parallele soziale Strukturen, die sich getrennt vom Rest Dänemarks entwickelten und eine wachsende sozioökonomische und kulturelle Gefahr für den Rest der Gesellschaft darstellten.
Der liberale Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen bekräftigte 2010 die "Notwendigkeit, den Parallelgesellschaften ein Ende zu setzen" mit der Anwendung eines härteren Ansatzes wie etwa durch den Abriss bestehender Wohnstrukturen und die Rückwandlung des städtischen Raums. Diese Rhetorik wurde in Rasmussens Neujahrsrede 2018 unmissverständlich und deutlich unheimlicher, als er "die Löcher auf der Karte Dänemarks" als Anlass zu großer Besorgnis heraufbeschwor, "weil sich die Tentakel der Ghettos auf die Straße ausbreiten“, weil sich Gewalt „in Schulen ausbreitet, in denen vernachlässigte Kinder am Rand hängen", weil diese Tentakel „in die Stadtkasse greifen, wo die Einnahmen niedriger und die Ausgaben höher sind als erlaubt". Und diese „Tentakel“ breiten sich eben, laut Rasmussen, auch in der Gesellschaft aus, „wo geschätzte dänische Werte wie Gleichheit, Liberalismus und Toleranz an Boden verlieren".
Die stigmatisierende Funktion des Wortes „Ghetto“ basiert auf einer Reihe umfangreicher administrativer und statistischer Kriterien. Ein 2010 von der damaligen liberalkonservativen Regierung mit der Unterstützung der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei identifizierte offiziell drei Kriterien, die erforderlich sind, um ein Stadtviertel als Ghetto einzustufen: die Arbeitslosenquote, die Kriminalitätsrate und den Anteil von Bewohner_innen mit nicht-westlichem Hintergrund, einschließlich deren Nachkommen. Die Liste, offen als "Ghettoliste" bezeichnet, wird jährlich aktualisiert.
Im Jahr 2013 fügte die von den Sozialdemokraten (2011-2015) geführte Mitte-Links-Zwischenregierung der Liste zwei zusätzliche Kriterien hinzu: Einkommen und Bildung. In dieser Fassung wurde jedoch bewusst auf die Verwendung des Begriffs „Ghetto“ verzichtet und „sozial benachteiligte Gebiete“ bevorzugt. Im Frühjahr 2018 entwarf die liberal-konservative Regierung einen weiteren Strategieplan, diesmal mit dem Titel „Dänemark ohne Parallelgesellschaften. Keine Ghettos im Jahr 2030.“ Die Bestimmungen dieses Plans wurden später im Parlament debattiert und mit großer Mehrheit gebilligt, auch von Sozialdemokrat_innen und Mitgliedern der Sozialistischen Volkspartei. Nach dem Ghetto-Plan wird ein Stadtgebiet, das die folgenden Kriterien erfüllt, als Ghetto definiert:
1) eine Bevölkerung von mehr als 1.000 Einwohner_innen;
2) die Hälfte oder mehr der Einwohner_innen stammen entweder aus nichtwestlichen Ländern oder sind Nachkommen von Eingewanderten;
3) eine Arbeitslosenquote der Wohnbevölkerung von mindestens 40 Prozent;
4) ein Anteil der Wohnbevölkerung, der wegen Verstoßes gegen das Strafgesetzbuch, das Waffengesetz oder das Drogengesetz verurteilt wurde, der dreimal höher ist als der nationale Durchschnitt (basierend auf den letzten zwei Jahren);
5) Mindestens 60 Prozent der Wohnbevölkerung (im Alter von 30 bis 59 Jahren) haben nicht mehr als eine grundlegende Schulausbildung (auf dem minimalen Niveau das durch die Schulpflicht abgesichert ist) erhalten.
6) Mindestens 55 Prozent der Wohnbevölkerung (im Alter von 15 bis 64 Jahren) leben von einem durchschnittlichen Bruttoeinkommen, das unter demjenigen einer ähnlichen Gruppe in derselben Region liegt.
Sobald die ersten beiden Kriterien erfüllt sind und zwei weitere Kriterien auf der Liste erfüllt sind, ist das Schicksal eines Stadtteils entschieden: Es landet auf der „Ghetto-Liste“. Und wenn ein Gebiet fünf Jahre in Folge auf der „Ghetto-Liste“ verbleibt, wird es automatisch als „hartes Ghetto“ eingestuft. Für die betroffenen städtischen Gebiete sind die Folgen gewaltig und kostspielig, da sie einen umfassenden Prozess von Abriss, Vertreibung, Wiederaufbau und Renovierung von Wohnungen beinhalten.
Das Hauptziel des Programms ist es, die Verfügbarkeit von Sozialwohnungen bis 2030 auf maximal 40 Prozent der in Frage kommenden Familien zu reduzieren. Stattdessen soll der Anteil anderer Formen von sozialem Wohnen wie Alterswohnungen oder Student_innenwohnungen erhöht werden. Öffentliche Unterkünfte sollen privatisiert werden, indem sie an private Investor_innen verkauft werden. Insgesamt werden 3.700 Wohnungen zerstört. Zehntausend neue Wohnungen müssen wieder aufgebaut werden. 700 davon sollen an Privatinvestor_innen verkauft werden, 900 werden in Sozialwohnungen für junge und ältere Menschen umgewandelt (Mandag Morgen 2019: 4-5). Ziel ist es, eine „bessere Zusammensetzung der Bewohnerinnen und Bewohner“ durch die Ansiedlung von „wirtschaftlich und sozial findigen Menschen“ zu gewährleisten.
Darüber hinaus enthält der "Ghetto-Plan" einen ganzen Katalog neuer Vorschläge zur Regulierung, Disziplinierung und letztendlich Bestrafung der Bewohner_innen für die "schädliche" Erziehung ihrer Kinder und die Nichteinhaltung sozialer Regeln und Vorschriften. Es beginnt mit dem verpflichtenden Besuch des Kindergartens für Kleinkinder ab einem Alter von einem Jahr, der Überprüfung der dänischen Sprachkenntnisse von Vorschulkindern und der Einführung eines Höchstanteils an Schulkindern mit nicht-dänischem Hintergrund an Schulen. Zu den Maßnahmen gehören auch die Kürzung der Sozialleistungen bei Verstößen gegen die Vorschriften und die Kriminalisierung von so genannten „Umerziehungsreisen“ - längeren und regelmäßigen Aufenthalten von Kindern in den Herkunftsländern ihrer Eltern. Auch sind im „Ghetto“ begangene Straftaten nun härter zu bestrafen als in anderen Stadtteilen.
Die Auswirkungen des Plans zeigen beispielhaft, was der Geograph David Harvey (1985, 1990) kritisch städtische, „kreative Zerstörung“ nennt. Diese Auswirkungen haben enorme wirtschaftliche, soziale und menschliche Folgen für die betroffenen Bevölkerungsgruppen. Die Sanierungskosten werden auf 1,3 Milliarden Euro geschätzt. Rund 11.000 Menschen sollen vertrieben, weitere 5.500 vorübergehend umgesiedelt werden. Bemerkenswerterweise haben die betroffenen Gemeinden und die beteiligten öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften unterschiedliche Umsetzungsstrategien gewählt, um die im Plan festgelegten Anforderungen zu erfüllen. In Aarhus hat die lokale Regierung beispielsweise beschlossen, einen umfassenden Plan für Abriss und Wiederaufbau umzusetzen (insbesondere in Gellerup, wo ein Drittel der Gebäude abgerissen werden soll). Die Stadt Kopenhagen hat beschlossen, den Abriss zu begrenzen und stattdessen bestehende Gebäude (z. B. in Mjølnerparken) zu renovieren.
Der Ghetto-Plan 2018 wird ein großes und umfassendes städtisches soziales Experiment einleiten. Nie zuvor hat Dänemark gleichzeitig so weitreichende Maßnahmen in so vielen verschiedenen städtischen Gebieten im ganzen Land durchgeführt. Die praktische Umsetzung, die daraus resultierenden Entwicklungen, die Auswirkungen und Konsequenzen dieses sozialen und urbanen Experiments werden von vielen als unvorhersehbar angesehen. Es wurden Bedenken hinsichtlich der Annahmen und der kurz- und langfristigen Auswirkungen eines solchen Programms geäußert.
Für die nahe Zukunft ist das dänische Sozialwohnungsmodell (das sogenannte „almene boliger“) sowohl quantitativ als auch qualitativ gefährdet. Dieses von gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften geführte Instrument prägt seit über einem halben Jahrhundert den dänischen öffentlichen Wohnungsbau, indem es der breiten Öffentlichkeit menschenwürdige, sichere und vergleichsweise günstige Mietwohnungen gewährt. Dieses sozialversicherungsbasierte Modell stützt sich hauptsächlich auf Mieteinnahmen zur Finanzierung der Instandhaltung und Sanierung von Gebäuden. Die Beschränkung des Angebots an Sozialwohnungen in den sogenannten Ghettos sowie die Konzentration auf die Sanierung dieser Gebiete werden daher auch die verfügbaren Finanzmittel für den Erhalt und die Erneuerung des verbleibenden Sozialwohnungsbestands verringern.
Es ist erwähnenswert, dass es in Dänemark weit über 500.000 öffentliche Wohngebäude gibt, die etwa ein Fünftel der Bevölkerung beherbergen. Die sogenannten „harten Ghettos“ machen nur etwa drei Prozent dieser Wohnungen aus. Der „Ghetto-Plan“ könnte daher zu einer verstärkten Gentrifizierung führen, indem marktgesteuerte Lösungen vorangetrieben werden, anstatt ernsthafte Anstrengungen zu unternehmen, um die sozialen und wirtschaftlichen Probleme benachteiligter städtischer Gebiete anzugehen. Die Art und Weise, wie Entscheidungen von den Behörden - insbesondere auf kommunaler Ebene - getroffen werden, ist äußerst problematisch. Der Umsetzung des Programms mangelt es an Inklusivität, Dialog und der Einbeziehung lokaler Verbände und der Bevölkerung. Insbesondere Minderheiten beschweren sich oft, von den Behörden umgangen und an den Rand gedrängt zu werden. Darüber hinaus fühlen sie sich als Ziel von Entscheidungen „von oben“, bei denen die Meinungen und Bedenken der Bewohner_innen wenig berücksichtigt werden. Solche Gefühle sind erst in den letzten zwei Jahrzehnten als Ergebnis ständiger Stigmatisierung und Diskriminierung in politischen Berichten, im politischen Diskurs und in den Massenmedien entstanden.
Das „Ghetto“ wird als Bedrohung für die dänische Gesellschaft von innen gesehen und ist die direkte Manifestation einer parallelen Realität, in der Menschen nach ihren eigenen Regeln, Werten und Verhaltensweisen leben. Für den Soziologen Loïc Wacquant (2006: 92) werden die Bewohner_innen des dänischen Ghettos als „das formlose Aggregat pathologischer Fälle mit jeweils eigener Logik und in sich geschlossenen Ursachen, als Kreaturen einer schädlichen ethnischen Kultur oder als Nutznießer eines verschwenderischen Wohlfahrtsstaates, welcher das Elend, das bekämpft werden soll, aufrechterhält“. Es ist eine Erzählung, die sich dem Umgang mit einigen der wichtigsten strukturellen Faktoren entzieht, die in den letzten Jahrzehnten für die Beschleunigung der sozioökonomischen Verarmung, Entbehrung und Segregation in diesen Gegenden verantwortlich waren. Diese wurzeln in den tiefgreifenden industriellen und städtischen Veränderungen, die seit den 1980er Jahren stattgefunden haben. Sie haben diesen Orten und ihren Menschen die Hauptrolle genommen, die sie in der Vergangenheit gespielt haben: ein Reservoir für ungelernte, überwiegend nicht-westliche Arbeitsmigrant_innen. In diesem Sinne kennzeichnet der erklärte Kampf der Regierungen gegen Parallelgesellschaften einen Trend in der dänischen Politik und Verwaltung zur Schaffung und Verbreitung eines rassistisch motivierten, staatlich sanktionierten Stigmas.
Autorin
Susi Meret ist eine außerordentliche Professorin am Institut für Politik und Gesellschaft der Universität Aalborg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Politik und Soziologie: rechtspopulistische Parteien, Wähler_innen, Mehrheitseinstellungen gegenüber Minderheiten und Migrationsregime in Europa. Ihre jüngste Arbeit konzentriert sich auf die Reaktionen der Mainstream-Parteien auf Populismus, die Rolle des Islam im Westen, den Aufstieg der neuen Populist_innen und die Reaktionen der Zivilgesellschaft.
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