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Lothar Erdmann (1888–1939) war ein Gewerkschafter und Sozialist, der sich als "Mensch der Grenze" und "zwischen den Ständen" sah. Ein Zweiteiler in unserem Blog beschäftigt sich mit seinem Leben und seiner Gedankenwelt. Dieser erste Teil ist seiner Biographie gewidmet.
Wer versucht, Lothar Erdmann gesellschaftspolitisch zu verorten, wird rasch auf einen Haufen Widersprüche stoßen. Widersprüche gehören zwar zu Biografien dazu, aber Erdmanns Gegensätze scheinen auf den ersten Blick besonders gravierend. Ihn selbst belasteten diese mitunter sehr; seine viele Tausend Seiten an Tagebüchern beispielsweise geben einen anschaulichen Einblick in diese Innensicht. Sie zeigen aber auch, wie sehr diese Unvereinbarkeiten ihn beflügeln konnten. Wer war dieser scheinbar so unstimmige Mensch?
Lothar Erdmann entstammte dem Bürgertum. Der Vater war der Philosoph Benno Erdmann. Er praktizierte in seinen Forschungen das, was heute gerne interdisziplinär genannt wird. Die Mutter Eugenie Schirmer entstammte wie ihr Ehemann freireligiösen Kreisen, was einander verband. Ungewöhnlich war jedoch, dass sie aus einer Handwerkerfamilie kam.
Für den 1888 geborenen Lothar Erdmann und seine älteren Schwestern war die Familiensituation schwierig und paradox. Die Mutter starb 1899. Die Kinder hatten zu ihr ein inniges Verhältnis gehabt, während der Vater wie zeitgenössisch üblich eine sehr autoritäre Position in der Familie besaß. Von den akademischen Schülern für seine Lehre bewundert, aber seinen Kindern als entrückter Familienvater in Erinnerung verblieben, führte beides zu einer ungewöhnlichen Atmosphäre in der Familie: Die Bildung stand hoch im Kurs, es wurde auch diskutiert und klassisch bürgerlich auf gehobene Kultur für die Kinder geachtet – der Vater blieb aber der kalte, innerlich weit entfernte Mann.
Bürgerlich blieb nach der Kindheit auch der weitere Werdegang Lothar Erdmanns: Er nahm ein Studium der Geschichte, Philosophie, Germanistik und Nationalökonomie auf an den Universitäten Heidelberg, Bonn, München und Freiburg, wobei er vor allem von Friedrich Meinecke geprägt wurde; in Bonn begann er eine Promotion in Geschichte, die er aber offenbar aus Uneinigkeiten mit dem Doktorvater Friedrich von Bezold abbrach. In Berlin, wo der Vater nun lehrte, blieb Erdmann noch drei Jahre eingeschrieben, brach dann aber ganz ab. Zwischen dem bildungsbürgerlichen Vater und weithin bekannten Wissenschaftler auf der einen, und dem eingeschüchterten Sohn auf der anderen Seite führte das zu großen Auseinandersetzungen. Letzterer entzog sich durch einen Londonaufenthalt der Situation, las dort weiterhin viel, besuchte Vorträge und Diskussionen, wurde speziell von Bernard Shaw geprägt und befasste sich immer mehr mit Fragen des Sozialismus.
1913 nach Bonn zurückgekehrt verblieben nur Monate im Freundeskreis, bis 1914 der Erste Weltkrieg begann. Er versuchte wie der Großteil seiner bürgerlichen Altersgenossen als Freiwilliger angenommen zu werden und wurde an der Westfront verletzt, befördert und geprägt. Sein bester Freund, der noch im Herbst 1914 verstorbene Künstler August Macke, hatte gewollt, dass Erdmann seine Ehefrau heirate, sollte er versterben. Als er im Herbst 1916 in Bonn war, setzte er dies in die Tat um, musste danach aber ein weiteres Jahr an die Front, bis er Korrespondent beim Wolffschen Telegraphenbureau in Amsterdam werden konnte – der Einstieg in den Journalismus.
Als Lothar Erdmann Ende 1918 wieder deutschen Boden betrat, war der Krieg vorbei und das Reich eine Republik. Beeindruckt von der Revolution befasste er sich mit den Parteien und entschied sich für die SPD. Der Sozialismus hätte je nach Auslegung auch zur KPD führen können, doch Erdmann war eben auch national und bürgerlich geprägt. Das Bürgerliche hingegen hätte zur DDP, DVP oder gar DNVP führen können, doch er war eben auch vom Sozialismus begeistert.
Beruflich musste sich Erdmann in den ökonomisch schwierigen ersten Jahren der Republik umsehen, wo er unterkommen konnte. Er wäre gerne bei der politisch einschlägigen Presse tätig geworden; sein Traum war es immer, als freier Schriftsteller wirken zu können, aber beides war trotz Romanentwürfen unerreichbar. 1921 gelang es ihm, in die Presseabteilung des IBG in Amsterdam einzusteigen. Schwierig war nicht zuletzt die räumliche Trennung von der Ehefrau, die er respektierte und liebte, aber bei der er sich immer im Schatten des verstorbenen besten Freundes fühlte. 1923 wurde er für den ADGB in Berlin tätig – als Redakteur des eigens gegründeten Theorieorgans „Arbeit“. 1925 konnte er endlich dauerhaft mit seiner Familie zusammenleben: In Berlin hatten sie ein Haus gekauft.
Durch die besondere Position als eine Art Theoretiker war es Erdmann möglich, dauerhaft in die engsten Kreise von SPD und ADGB Einblick zu erhalten und zu wirken. Aufgrund der Verortung als „nationaler Sozialist“, also weit auf dem rechten Flügel von Partei und Gewerkschaften, eckte er regelmäßig an. Was ihn persönlich verletzte und seine in Schüben wiederkehrenden Depressionen verstärkte; dies sollte vor allem nach dem reichsweiten Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 problematisch werden. Er war nicht naiv, schließlich hatte er die politischen Kämpfe am Ende der Weimarer Republik miterlebt und stand selbst mitunter vorne und äußerte sich unmissverständlich. 1933 hoffte Erdmann anfangs dennoch auf den linken Parteiflügel der NSDAP, sah dann aber die rasche Zerschlagung von Gewerkschaften, SPD und schließlich auch die Verfolgung seiner eigenen Person. Auch wenn er nationaler Sozialist war, blieb für die Nationalsozialisten bestimmend, dass er an der Spitze der Arbeiter_innenbewegung aus Sozialdemokratie und Gewerkschaften mitgewirkt hatte. Mehrfach verhaftet und beruflich ausgegrenzt verstarb er 1939 im Konzentrationslager Sachsenhausen.
Dieses sehr früh an sein Ende gelangte Leben Lothar Erdmanns erscheint schnell als widersprüchlich: Ein Bürgerlicher in der Arbeiter_innenbewegung; ein Nationalist und zugleich Sozialist; ein Intellektueller mit etlichen Möglichkeiten, der aber depressiv und oft passiv blieb. Vielleicht aber ist dieses Leben kein Leben der Widersprüche, sondern besaß eine innere Logik: Ein Bürgerlicher, der sich im Bürgertum unwohl fühlte und den sozialen Zielen der Arbeiter_innenbewegung zuneigte; ein an nicht ausreichender zwischenstaatlicher Zusammenarbeit Verzweifelnder, der soziale Projekte nur im nationalen Rahmen für möglich umzusetzen ansah; ein von Haus aus intellektuell Geprägter, der vom Tod der Mutter, der Gefühlskälte des Vaters sowie der empfundenen zweiten Rolle für die Ehefrau immer wieder niedergedrückt wurde.
Daniel Meis
Die Tagebücher Lothar Erdmann sind in der vergriffenen Edition Ilse Fischers als Anhang ihrer Erdmann-Biografie teilweise veröffentlicht. Der Verfasser bereitet mit einer Kollegin gerade eine neue, vollständige Edition vor. Die Tagebücher liegen im Original im AdsD und dem DGB-Teilarchiv vor.
Lothar Erdmanns eigene Publikationen vom Buch bis zum Pressebeitrag, hier in der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Eine kleine Fotogalerie zur Zeitschrift "Die Arbeit" und Lothar Erdmann findet sich hier.
Fischer, Ilse: Versöhnung von Nation und Sozialismus? Lothar Erdmann (1888–1939). Biographie und Auszüge aus den Tagebüchern (= Archiv für Sozialgeschichte, Beiheft 23/Veröffentlichungen aus dem Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Heft 3), Bonn 2004.
Schröder, Doris: Erdmann, Lothar, in: Mielke, Siegfried (Hrsg.): Gewerkschafter in den Konzentrationslagern Oranienburg und Sachsenhausen. Biographisches Handbuch, Band 1, Berlin 2002, S. 56–67.
Wir suchen Beitragsideen für den kommenden Band 66 (2026) der Zeitschrift Archiv für Sozialgeschichte. Die vorbereitende Tagung wird am 26./27. Juni…
10. Dezember, 18 Uhr c.t. | Universität Bonn und im Livestream
Auftaktveranstaltung zum 100-jährigen Jubiläum der FES | Donnerstag, 21. November 2024, 17.30 bis 19.45 Uhr | Friedrich-Ebert-Stiftung, Godesberger…