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In unmittelbarer Nähe zur Avenue Habib Bourguiba in Tunis, einem der Hauptschauplätze der tunesischen Revolution 2011, heute Dreh- und Angelpunkt der Hauptstadt, befindet sich die Rue Mohamed Ali. Diese wurde jedoch nicht zu Ehren des US-amerikanischen Boxers als solche benannt, sondern referenziert sich auf Mohamed Ali El Hammi, eine Symbolfigur der tunesischen Gewerkschaftslandschaft. Auch im Hinblick auf die Kooperation tunesischer und deutscher Gewerkschaften scheint der Werdegang Mohamed Alis nicht ganz uninteressant zu sein. Denn sein Aufenthalt in Berlin vor etwa 100 Jahren, um genau zu sein von 1919 bis 1924, scheint für die Ausbildung seiner politischen Ideen ausschlaggebend gewesen zu sein. Was bleibt von Mohamed Alis Aufenthalt in Berlin? Inwiefern hat sein Aufenthalt in Berlin sein weiteres politisches Engagement in Tunesien angeregt?
Wenngleich auch wenig über die Kindheit und Jugend Mohamed Alis bekannt ist, führen seine Spuren in den Süden des Landes in ein kleines Dorf in der Nähe von Gabès. Sein Geburtsjahr lässt sich auf einen Zeitraum zwischen 1890 und 1896 zurückdatieren. Um die Jahrhundertwende zog er nach Tunis, wo er später als Markthändler arbeitete. Zudem wird angenommen, dass Mohamed Ali als einer der ersten Tunesier:innen im Jahr 1908 einen Führerschein erhielt. Dies ermöglichte es ihm, trotz des französischen Protektorats, als Chauffeur zu arbeiten. Historiker:innen gehen davon aus, dass er 1911 oder 1912 Tunesien verließ, um Enver Pascha, den damaligen Generalleutnant des Osmanischen Reichs, nach Konstantinopel als Chauffeur zu begleiten. Während seines Aufenthalts in Konstantinopel hat er Kontakte mit hochrangigen Persönlichkeiten des Osmanischen Reichs geknüpft und stand vermutlich der politischen Bewegung der Jungtürken nahe, mit denen er dann im Jahr 1918 nach Berlin weiterzog.
Sein Aufenthalt in Berlin lässt sich erstmals anhand seiner Einschreibung als Gasthörer an der Friedrich-Wilhelms-Universität, der heutigen Humboldt-Universität, am 25. Mai 1920 festmachen. Weiter lässt sich seine offizielle Einschreibung als Student dokumentieren. So wurde er ab dem 07. November 1920 offiziell als Student im Bereich Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben. Jedoch ist wenig über den weiteren Verlauf seines Studiums bekannt. Es ist davon auszugehen, dass er unter anderem Kurse von Heinrich Cunow, einem bedeutsamen marxistischen Theoretiker, und Heinrich Herkner, einem Nationalökonom, besuchte. Aufgrund seines besonderen Interesses für die Organisation ländlicher Genossenschaften ist anzunehmen, dass er Kurse bei August Müller belegte, der unter Friedrich Ebert als Reichswirtschaftsminister tätig war. Zu Recht kommt an dieser Stelle die Frage auf, wie er die finanziellen und administrativen Voraussetzungen zur Registrierung als Student an der Friedrich-Wilhelms-Universität stemmen konnte. Vermutlich hat ihm der Einfluss seines Bekanntenkreises in Berlin dabei geholfen.
Eben dieses Umfeld der Jungtürken hat auch ein panislamisches Netzwerk in Berlin ins Leben gerufen, um den Kampf gegen die Besatzungsmächte aus dem Ausland fortzuführen. Dabei haben vor allem Enver Pascha und Talât Pascha eine zentrale Rolle gespielt. Bereits 1920 gründete Enver die „Union des sociétés islamiques révolutionnaires”, eine Vereinigung der islamischen revolutionären Gemeinschaften. In Berlin wurde der „Club d’Orient” als Teil der Vereinigung gegründet. Auch Mohamed Ali engagierte sich aktiv in der Vereinigung. Einige Anzeichen deuten sogar darauf hin, dass der „Club d’Orient” in seiner Unterkunft gegründet worden sein könnte. Ab März 1921 veröffentlichte der Club eine Zeitschrift namens „Liwa-el-Islam”, welche dazu beitrug ihre Überzeugungen und ihre Interessen innerhalb der kommunistischen Strömung, in der sie sich in Berlin bewegten, zu propagieren. Mit dem Tod Envers im August 1922 brach für Mohamed Ali seine größte Finanzierungsquelle weg. Da er sich von nun an nicht allein auf sein Studium konzentrieren konnte und stattdessen einer Tätigkeit nachgehen musste, wurde er schließlich im Januar 1924 als Student exmatrikuliert. In den Archiven der Friedrich-Wilhelms-Universität wird dies mit dem Vermerk „Unfleiß” begründet.
Auch wenn wenig über Mohamed Alis politische Überzeugungen und politische Arbeit bekannt ist, scheint sich sein Aufenthalt in Berlin dennoch auf sein Engagement bei seiner Rückkehr in Tunesien ausgewirkt zu haben. Denn er hat nicht nur neue Erkenntnisse im Bereich der Wirtschaftswissenschaften erworben, sondern auch Erfahrungen in der Organisation antikolonialer Politik gesammelt. Zurück in Tunesien zielte sein Engagement zunächst darauf ab, die Gründung von Konsum- und Produktionsgenossenschaften voranzutreiben. Seiner Auffassung nach waren diese notwendig, um die miserable Situation der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern und mithilfe der Genossenschaften eine alternative Wirtschaft zur Kolonialwirtschaft aufzubauen. Ein Klassenkampf im Sinne des Marxismus schien aufgrund der französischen Besatzung in Tunesien und aufgrund der Heterogenität der tunesischen Arbeiter:innenklasse nicht passend zu sein. Mohamed Alis Engagement richtete sich demnach eher gegen die ausländische Unterdrückung der gesamten tunesischen Gesellschaft und nicht ausschließlich gegen die Unterdrückung der Arbeiter:innenklasse.
Neben den bereits existierenden französischen Gewerkschaften wurden die ersten Gewerkschaften jedoch von ausländischen Beschäftigten auf lokaler Ebene organisiert. In Zusammenarbeit mit den Jungtürken gründete sich am 29. Juni 1924 in Mohamed Alis Umfeld eine Einkaufsgenossenschaft. Ein möglicher Grund für diesen Fokus stellt Mohamed Alis Inspiration vom deutschen Modell der landwirtschaftlichen Einkaufsgenossenschaften, den “Raiffeisen” dar. Insgesamt baute Mohamed Alis Initiative zur Gründung einer Genossenschaft stark auf seinen Aufenthalt in Berlin auf. Später wurde Mohamed Ali zum Präsidenten des Verwaltungskomitees der Genossenschaft gewählt.
Die Streiks der Hafenarbeiter in Tunis und in Bizerte im August 1924 lösten eine Umstrukturierung der tunesischen Gewerkschaftslandschaft aus. Auch für das politische Engagement Mohamed Alis waren diese Ereignisse entscheidend. Die tunesischen Beschäftigten forderten den gleichen Lohn wie ihre französischen Kollegen. Mohamed Ali und sein Umfeld unterstützten die Streiks und organisierten kleine, von der französischen Gewerkschaft unabhängige Ausschüsse. Zunehmend nahm sich die Genossenschaft der spezifischen Interessen von tunesischen Beschäftigen an, sodass am 03. Dezember 1924 die „Confédération Générale Tunisienne des Travailleurs” als erste tunesische Gewerkschaft gegründet wurde. Mohamed Ali wurde als Generalsekretär der Gewerkschaft designiert. Die Gewerkschaft lehnte die Idee einer kommunistischen Revolution ab, stattdessen legte sie ihren Fokus auf die Umsetzung tiefgreifender Sozialreformen. Jedoch wurde die „Confédération Générale Tunisienne des Travailleurs“ schnell seitens des französischen Protektorats unterdrückt und deren Hauptverantwortliche, darunter auch Mohamed Ali, am 05. Februar 1925 verhaftet. Im November 1925 wurde er zu zehn Jahren Exil verurteilt, wobei sein Aufenthalt in Berlin auch in die Urteilsfällung mit einfloss. Inzwischen wurde die neu gegründete Gewerkschaft aufgelöst. Mohamed Ali verbrachte sein Exil zunächst in Alexandria in Ägypten, wo seine Spuren im Sande verlaufen. Historiker:innen gehen davon aus, dass Mohamed Ali im Mai 1928 starb.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Tunesien erneut der Versuch unternommen, einen Gewerkschaftsdachverband zu gründen. Diesmal sollte der Versuch gelingen. 1946 wurde die „Union Générale Tunisienne du Travail” gegründet und Farhat Hached zum ersten Generalsekretär gewählt. Letzterer hat sich während seiner Amtszeit von den von Mohamed Ali propagierten Sozialpolitiken inspirieren lassen und diese in die Leitlinien der neu gegründeten Gewerkschaft integriert. Auch noch 100 Jahre nach dem Wirken Mohamed Alis ist er Namensgeber für Straßen und soziale Projekte. Seine politischen Initiativen und Ideen haben den Grundpfeiler für die „Union Générale Tunisienne du Travail” gelegt, welche in Tunesien zu den stärksten zivilgesellschaftlichen Akteur:innen gehört.
Simone Bieringer
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